ALLGEMEINE EINLEITUNG
DER NAME DER BIBEL
Das Wort «Bibel» kommt vom griechischen «Biblos», auf Deutsch «Buch» (bzw. «Biblia» = Bücher). Der Kirchenvater Hieronymus sprach von der «DIVINA BIBLIOTHECA», das heisst göttliche Büchersammlung. Die Bibel ist eben nicht nur ein Buch, sondern sie besteht aus 66 Büchern, geschrieben von ungefähr 40 verschiedenen Verfassern. Unter ihnen sind Könige: David und Salomo; Gelehrte und Ärzte: Jesaja und Lukas; Theologen: Esra und Paulus; hohe Staatsmänner: Mose, Daniel, Nehemia; Landwirte und Fischer: Amos und Petrus; Musiker: Asaf und die Kinder Korachs; Propheten: Hesekiel, Joel usw. Es brauchte ungefähr 1500 Jahre, bis die ganze Sammlung der 66 Bücher geschrieben war.
Die Bibel wird ausserdem bezeichnet als «Die Schrift» (Lk 4,21; Joh 2,22; 5,39; Jak 2,23), «Die Schriften» (Lk 24,27), «Die Heilige Schrift» (Röm 1,2; 2. Tim 3,15), «Die Bücher» (Dan 9,2), von den Juden auch als «Das Gesetz und die Propheten» (Apg 13,15; Röm 3,21 usw.).
Die uns überlieferte Sammlung der Schriften des Alten und Neuen Testaments nennt man in der Kirchensprache «Kanon», das heisst Regel oder Massstab. Der Kanon ist also die Gesamtheit der biblischen Bücher, die sich im Laufe der Zeit als die heiligen und göttlich inspirierten Schriften durchgesetzt haben, im Gegensatz zu den zahlreichen «Apokryphen» (verhüllte Bücher). Der Name Kanon wurde zuerst nur auf die Schriften des Neuen Testaments angewendet. Jedoch ist der Begriff einer heiligen, göttlich inspirierten Sammlung von biblischen Büchern schon sehr alt, wurden doch bereits die Gesetzestafeln und die Schriften Moses als unantastbares Gut sorgfältig neben der Bundeslade aufbewahrt (5. Mose 31,24–26). Die Sammlung und Sichtung der Schriften des Alten Testaments dauerte jahrhundertelang und wurde wahrscheinlich von Esra abgeschlossen. Es entspricht der traditionellen Ansicht im Judentum und in der Kirche, dass der alttestamentliche Kanon um 400 v. Chr. durch Esra und Nehemia abgeschlossen wurde. 2. Makkabäer 2,13–14 erwähnt eine Bibliothek, die Nehemia anlegte. Das Buch Jesus Sirach (um 200 v. Chr.) nennt das «Gesetz» und die «Propheten»; ein Hinweis, dass die ersten beiden Kanonteile bereits ihre Namen hatten. Auch wenn die dritte Gruppe noch nicht als «Schriften» bezeichnet wird, ist es möglich, dass auch sie bereits abgeschlossen war (M.-J. Paul in Hilbrands/Koorevaar).
Der Bestand der Bücher des Neuen Testaments war schon vor 200 n. Chr. mit wenigen Abweichungen vorhanden.
Im Barnabas- und 2. Clemensbrief werden Worte Jesu mit «Es steht geschrieben» wiedergegeben. Die jetzige Gestalt unseres Kanons lag im 4. Jahrhundert endgültig vor (im Osten um 367, in der Westkirche im Jahr 382 n. Chr. belegt).
Die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Paulusbriefe (inkl. Pastoralbriefe) sowie der 1. Petrus- und 1. Johannesbrief waren immer unbestritten. Irenäus kannte um 180 n. Chr. bereits die vier Evangelien, 13 Paulusbriefe, die Apostelgeschichte, 1. Petrus, 1. und 2. Johannes sowie die Offenbarung als Heilige Schrift des Neuen Testaments. In der Westkirche wurde der Hebräerbrief, im Osten die Offenbarung diskutiert. Von den sogenannten «katholischen» Briefen waren der Jakobusbrief, der 2. Petrusbrief, der 2. und 3. Johannesbrief sowie Judas nicht überall gleich anerkannt.
DIE EINTEILUNG DER BIBEL
Die Bibel der Juden ist das Alte Testament, das sie als «Gesetz, Propheten und Schriften» (TaNaCh) kennen, ohne für das Ganze eine besondere Bezeichnung zu gebrauchen.
EINTEILUNG DES ALTEN TESTAMENTS ZUR ZEIT JESU
DIE TORA = das Gesetz. Das Ausdruck kommt von jārā, unterrichten, lehren. Die Tora befindet sich noch heute in jeder Synagoge. Sie besteht aus den fünf Büchern Mose und ist in 52 Abschnitte eingeteilt. An jedem Sabbat wird fortlaufend ein Abschnitt gelesen. Die Griechen gaben diesen fünf Büchern den Namen «Pentateuchos» (= Pentateuch), das heisst das fünfteilige Buch.
DIE NEBIIM = die Propheten. Diese Sammlung war in zwei grosse Teile eingeteilt: a) Die Nebiim rischonim, die ersten Propheten oder die erste Gruppe von Propheten. Diese enthielt vier Bücher: Josua, Richter, 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige (die beiden letzteren waren je nur ein Buch). b) Die Nebiim acharonim, das heisst die späteren Propheten oder die zweite Gruppe von Propheten. Sie enthielt ebenfalls vier Bücher: Jesaja, Jeremia, Hesekiel und «Die Zwölf», das heisst die zwölf kleinen Propheten in einem Buch.
DIE KETUBIM = die Schriften. Diese Sammlung bestand aus drei Teilen: a) Psalmen, Sprüche und Hiob; b) Hohelied, Rut, Klagelieder, Prediger und Ester –man nannte dieses Buch die «Megillot», das heisst die «Rollen»; c) Daniel, Esra, Nehemia und Chronik.
Das Gesetz legt den festen Boden, den Grund für die Bundesbeziehung Gottes mit seinem Volk. Die Propheten schildern die Geschichte dieses Volkes und die unsagbare Liebe und Arbeit Gottes, die nötig war, um sein Volk durchzubringen. Die «Schriften» lassen hineinblicken in die Gedankenwelt und das Seelenleben dieses Volkes mit seiner besonderen Mentalität.
AUFBAU DES TANACH, ÜBERSICHT:
Tora, «Gesetz» 1. Mose/Genesis
2. Mose/Exodus
3. Mose/Levitikus
4. Mose/Numeri
5. Mose/Deuteronomium
Nebiim, «Propheten» Josua
Richter
Samuel (1./2. Samuel)
Könige (1./2. Könige)
Jesaja
Jeremia
Hesekiel
Zwölfprophetenbuch
(Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha,
Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi)
Ketubim, «Schriften» Psalmen
Hiob
Sprüche
Rut
Hohelied
Prediger
Klagelieder
Ester
Daniel
Esra/Nehemia
Chronik (1./2. Chronik)
Bereschit («am Anfang»)
Schemot («Namen»)
Wajjiqra («er rief»)
Bemidbar («in der Wüste»)
Debarim («Worte»)
Diese vier Bücher bilden die Nebiim rischonim, die «vorderen Propheten».
Diese vier Bücher bilden die Nebiim acharonim, die «hinteren Propheten».
Die zwölf «kleinen Propheten» waren ursprünglich ein Buch.
Es gibt bei den Ketubim unterschiedliche Abfolgen.
Diese fünf Bücher bilden die Megillot, «Buchrollen», und werden an fünf Festtagen gelesen.
HEUTIGE EINTEILUNG DER BIBEL
Die Heiligen Schriften bestehen heute aus einer Doppelsammlung: dem Alten und dem Neuen Testament. Die Bezeichnung «Testament» wurde zuerst von dem Kirchenvater Tertullian im Sinne von «Bund» (hebräisch bәrît, griechisch diatēkē) auf die beiden Teile der Bibel angewendet. Dabei ging er von dem Gedanken aus, dass das Alte Testament auf den von Gott durch Mose mit Israel (2. Mose 19,5) und das Neue Testament auf den durch Christus mit seiner Gemeinde geschlossenen Bund (Mt 26,28; 1. Kor 11,25) hinweist.
Unsere heutige Kapiteleinteilung im Neuen Testament stammt von dem englischen Erzbischof Stephan Langton in Cambridge (1205), die Verseinteilung von dem Pariser Buchdrucker Robert Stephanus (1551).
DAS ALTE TESTAMENT
a) 17 Geschichtsbücher: 1. Mose bis Ester
b) 5 Lehrbücher oder poetische Bücher: Hiob bis Hohelied
c) 17 prophetische Bücher: Jesaja bis Maleachi
DAS NEUE TESTAMENT
a) 5 Geschichtsbücher: Evangelien und Apostelgeschichte
b) 21 Lehrbücher: die Briefe
c) 1 prophetisches Buch: die Offenbarung
DIE SPRACHE DER BIBEL
EINLEITUNG
Das Alte Testament ist in hebräischer Sprache geschrieben worden, einzelne Teile der Bücher Esra, Nehemia und Daniel auf Aramäisch (Esr 4,8–6,18; 7,12–26; Jer 10,11; Dan 2,4b–7,28). Das Hebräische war die klassische Sprache Palästinas, das Aramäische war als Verwaltungssprache des Persischen Reiches die erste Weltsprache und wurde die Sprache des Volkes, die allgemeine Umgangssprache der Juden des Orients.
Das Neue Testament ist in griechischer Sprache, das heisst in der damaligen Weltsprache, geschrieben worden, mit einigen kleinen Ausnahmen, das heisst einigen aramäischen und lateinischen Wörtern.
DIE MANUSKRIPTE DER BIBEL
Wir besitzen heute einige tausend alte Bibelhandschriften (Manuskripte). Die allermeisten enthalten nur Teile der Bibel oder sind Fragmente (Bruchstücke) mit einigen Versen oder Kapiteln. Es sind Blätter aus Papyrus (Papierstaude), die man, zu einer Art Buch zusammengefasst, Kodex (lat. codex) nennt, oder Rollen aus Pergament (besonders zubereitete Tierhaut). Diese Bezeichnung ist vom Namen der Stadt Pergamon in Kleinasien abgeleitet, wo die erste grosse Pergamentindustrie
entstand. Die ältesten Fragmente des Alten Testaments stammen aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. (siehe Qumrantexte), die des Neuen Testaments aus dem 2. Jahrhundert (ein Johannesfragment um 125 ist das älteste). Von den umfassenderen Handschriften sind folgende die wichtigsten:
DIE TEXTE VON QUMRAN. Im Jahr 1947 fanden Beduinenhirten in einer Höhle des Vadi Qumran (Qumran-Tal) am Westufer des Toten Meeres, 14 km südlich von Jericho, einige Schriftrollen aus Pergament, die, in Leinwand gewickelt, in Tonkrügen aufbewahrt gewesen waren. Sie stammen von der jüdischen Sekte der Essener, deren Mönche wahrscheinlich unter der Bedrohung durch die Römer (66 und 132 n. Chr.) ihre wertvolle religiöse Literatur für ruhigere Zeiten in Sicherheit bringen wollten. In der Folge dieser Entdeckung wurden in weiteren 11 Höhlen noch zahlreiche Rollen gefunden (Überreste von mehr als 900 Schriftrollen): eine vollständige Jesajarolle, Fragmente aller alttestamentlichen Schriften ausser Ester, Kommentare (jeweils mit dem alttestamentlichen Text), Apokryphen und Schriften der Essenersekte. Bei über 200 der ca. 900 Textfunde handelt es sich um Handschriften biblischer Texte. Sie dürften im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert entstanden sein und sind damit die ältesten Bibelhandschriften, die wir besitzen. Ihre Bedeutung ist unschätzbar für die Erforschung des ursprünglichen Textes wie auch des Judentums und des frühesten Christentums.
Die Forschung an den Qumran-Texten ist von grosser Bedeutung. Es konnte dadurch aufgezeigt werden, dass der Konsonantentext des Alten Testaments, der den heutigen Bibelausgaben zugrunde liegt, bereits in Qumran vorhanden war. Man muss bedenken, dass die in Qumran gefundenen Schriften etwa 1000 Jahre älter sind als die älteste Handschrift der Hebräischen Bibel, die wir vor diesen Funden besassen:
DER CODEX LENINGRADENSIS wurde 1008/1009 n. Chr. verfasst. Man spricht hier vom «Masoretischen Text», weil die Masoreten ihn tradierten (die oben genannten Qumran-Texte sind im zeitlichen Sinn «vor-masoretisch»). Die Masoreten (übersetzt «die Überlieferer») tradierten den hebräischen Text, versahen den Konsonantentext mit Vokalen und Akzentzeichen sowie Anmerkungen zum Text. Es gab Masoretenschulen in Palästina und Babylon, doch die westliche Überlieferungstradition, insbesondere das System der Familie Ben Ascher in Tiberias, setzte sich durch. Die wissenschaftlichen Bibelausgaben der Hebräischen Bibel, sowohl die «Biblia Hebraica Stuttgartensia» (BHS) als auch die «Biblia Hebraica Quinta» (BHQ), basieren auf dem Codex Leningradensis.
DER CODEX ALEPPO, entstanden um 925 n. Chr., galt bis 1947 als älteste vollständige masoretische Handschrift der sogenannten Ben-Ascher-Tradition. Leider gingen nach Unruhen in Aleppo ca. 40 % des Textes verloren. Seit 1958 befindet sich die Handschrift in Israel. Das Hebrew University Bible Project (HUBP) ist daran, den Codex Aleppo als wissenschaftliche Ausgabe herauszugeben.
DER CODEX SINAITICUS, früher die älteste, aus dem 4. Jahrhundert stammende Handschrift, von Tischendorf 1859 im Katharinenkloster am Fuss des Sinai entdeckt und in die kaiserliche Bibliothek zu Petersburg übergeführt.
Dieser Kodex enthält das Alte Testament (in der griechischen Übersetzung) beinahe vollständig, das Neue Testament ganz. Im Jahr 1934 kauften die Engländer das Manuskript für ca. eine Million Schweizerfranken. Lange war die Handschrift im Britischen Museum in London ausgestellt, heute befindet sie sich in der British Library.
DER CODEX ALEXANDRINUS. Dieses Manuskript wurde um 450 n. Chr. in Ägypten geschrieben und blieb lange im Besitz der Patriarchen von Konstantinopel. Es enthält das Alte Testament und vom 25. Kapitel des Matthäusevangeliums an fast das ganze Neue Testament. Es befand sich lange im Britischen Museum, dem es Georg II. im Jahr 1753 vermachte; heute wird es ebenfalls in der British Library aufbewahrt.
DER CODEX VATICANUS, um die Mitte des 4. Jahrhunderts in Ägypten geschrieben, befindet sich jetzt im Vatikan. Er umfasst gleichfalls die griechische Bibel, weist aber im Neuen Testament grössere Lücken auf (Schluss des Hebräerbriefs, Pastoralbriefe und Offenbarung fehlen). Die treffliche Handschrift ist schwer zu lesen, weil der Text nachträglich mit frischer Tinte überzogen und vielfach geändert wurde.
DER CODEX EPHRAEMI RESCRIPTUS Mitte des 5. Jahrhunderts in Ägypten geschrieben, wird heute in Paris aufbewahrt. Er trägt den Namen des Kirchenvaters Ephräm, weil er von diesem überschrieben wurde. Die ursprünglichen Schriftzeichen wurden von Tischendorf auf chemischem Wege wieder hergestellt und der Codex 1843/45 herausgegeben.
DER CODEX BEZAE CANTABRIGIENSIS UND DER CODEX CLAROMONTANUS. Beide Handschriften, um 550 n. Chr. verfasst und mit altlateinischer Übersetzung verbunden, gehörten Theodor Beza in Genf.
Als hebräischer Textzeuge ist zudem der Samaritanische Pentateuch zu nennen. Die in Samarien angesiedelte Bevölkerungsgruppe (2. Kön 17,24), die wir auch aus dem Neuen Testament kennen, anerkannte nur die fünf Bücher Mose als Heilige Schrift. Der Samaritanische Pentateuch ist in Manuskripten aus dem 9.–13. Jahrhundert in althebräischer Schrift überliefert. Die meisten Stellen, die sich vom Masoretischen Text unterscheiden, betreffen nur orthografische Eigenschaften. Interessant sind einige theologisch motivierte Anpassungen, die mit dem samaritanischen Heiligtum auf dem Berg Garizim in Verbindung stehen. In Qumran wurden neben «proto-masoretischen Texten», die den späteren masoretischen Codices entsprechen, auch «prä-samaritanische» Texte gefunden, welche dem Samaritanus nahestehen (siehe E. Tov).
DIE WICHTIGSTEN BIBELÜBERSETZUNGEN
Bibelübersetzungen entstanden schon sehr früh und sind zum Teil älter als die uns erhaltenen Handschriften in der Originalsprache. Darum sind sie von grösster Wichtigkeit für das alttestamentliche wie für das neutestamentliche Textstudium. Von den älteren Übersetzungen haben folgende besondere Bedeutung:
DIE SEPTUAGINTA (das heisst «Siebzig»), die in Alexandrien entstandene griechische Übersetzung des Alten Testaments, die wohl unter König Ptolemäus II. Philadelphos begonnen (282–246 v. Chr.), aber erst später vollendet wurde (um 130 v. Chr. lagen aus allen drei Teilen des Kanons Übersetzungen vor). Sie führt den Namen Septuaginta, weil sie nach einer Legende von 72 Übersetzern in 72 Tagen vollendet wurde. Die Unregelmässigkeiten im Stil und im Wert der Übersetzung lassen das Werk vieler Übersetzer erkennen. Paulus und die ersten Christen gebrauchten neben der hebräischen Bibel auch die Septuaginta.
Zu nennen sind auch die alten jüdischen Übersetzungen ins Griechische aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. von Aquilla, Symmachus und Theodotion, die von Origenes (185–254 n. Chr.) in seiner Hexapla (die «Sechsfache», Synopse mit verschiedenen Übersetzungen) aufgenommen wurden.
DIE TARGUMIM sind paraphrasierende und erweiternde Übersetzungen in Aramäisch. Aramäisch war schon vor dem Exil die «Lingua franca», die damalige Weltsprache, und gewann im nachexilischen Judentum an Bedeutung. Zur Zeit Jesu war sie die Umgangssprache. Die Targumim entstanden wahrscheinlich zwischen dem 1. und 8. Jahrhundert n. Chr. in Palästina und wurden später in Babylon revidiert, so z. B. der Targum Onkelos (Tora) und der Targum Jonathan (zu den Propheten, siehe E. Würthwein).
DIE PESCHITTA, eine syrische Übersetzung des Alten und Neuen Testaments, im 4. Jahrhundert n. Chr. entstanden. Die heute bekannte Peschitta ist eine Überarbeitung einer älteren syrischen Übersetzung, die im Neuen Testament bis ins 2. Jahrhundert, im Alten Testament noch weiter hinaufreicht.
DIE VULGATA, das heisst «die allgemein Verbreitete», die in der katholischen Kirche allein gültige und vom Konzil zu Trient dem Grundtext gleichgestellte lateinische Bibelübersetzung. Sie wurde im Auftrag des römischen Bischofs Damasus von dem gelehrten Kirchenvater Hieronymus 383 bis 405 n. Chr. begonnen und wahrscheinlich von anderen Übersetzern vollendet. Hieronymus verwendete dazu eine bereits im 2. Jahrhundert und anfangs des 3. Jahrhunderts entstandene, bei den lateinisch sprechenden Christen gebräuchliche Übersetzung, die sogenannte Vetus Latina (= «alte Lateinische»), auch Itala genannt. Die Vulgata erlangte aber erst zur Zeit Gregors des Grossen (6. Jh. n. Chr.) allgemeine Anerkennung.
DIE GOTISCHE BIBELÜBERSETZUNG des westgotischen Bischofs Wulfilas (gestorben 388 n. Chr.). Sie fusst auf einer griechischen Vorlage und ist das älteste Denkmal deutscher Literatur. Einst umfasste die Übersetzung wohl die ganze Bibel.
Erhalten sind hauptsächlich Bruchstücke aus den Evangelien, und zwar in dem berühmten, mit silberner Schrift auf purpurfarbenem Pergament geschriebenen Codex Argenteus in Uppsala in Schweden.
LUTHERS DEUTSCHE BIBELÜBERSETZUNG.
1521 auf der Wartburg begonnen, 1534 vollendet. Dieses aus dem Grundtext übersetzte, noch unübertroffene Werk ist ebenso bedeutend durch seine dem Schriftgeist angemessene und zugleich im edelsten Sinne volkstümliche Sprache wie als literaturgeschichtliches Denkmal, da es eine deutsche Schriftsprache schuf.
Es ist allerdings zu beachten, dass fünf Jahre, bevor Luthers Übersetzung herauskam, in Zürich die ganze Bibel vorlag (1529). Natürlich gibt es seither auch viele zusätzliche deutsche Bibelübersetzungen. Besonders seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Bibelübersetzungen in der ganzen Welt stark zugenommen.
Es gibt heute über 3500 Ganz- und Teilübersetzungen in die verschiedensten Sprachen und Dialekte. Die gesamte Bibel ist in ca. 750 Sprachen übersetzt (das vollständige Neue Testament in ca. 1700).
EXKURS: HERMENEUTIK DER BIBEL
Unter Hermeneutik (von griechisch hermēneia , Übersetzung bzw. hermēneutike, Deutungskunst) versteht man grundsätzlich die Lehre vom Verstehen. In der Hermeneutik beschäftigt man sich mit der Auslegung der Bibel. Noch für Martin Luther stellte sich die Bibel als «durch sich selbst glaubwürdig, deutlich und ihr eigener Ausleger» dar. Von der Grundannahme aus, die Heilige Schrift sei «das Buch, von Gott, dem heiligen Geist, seiner Kirche gegeben», konnte er sein Prinzip der Klarheit der Schrift entfalten. Durch Rationalismus, Aufklärung und die moderne Exegese wurde gerade diese reformatorische Klarheit massiv infrage gestellt. In der vom Modernismus geprägten Exegese wird Supranaturalismus in Form von offenbarendem Reden Gottes oder Gottes Eingreifen in Form von «Wundern», eben alles, was unsere säkulare Wirklichkeit übersteigt, ausgeschlossen. Die sogenannte «historisch-kritische Methode» folgte als Kind der Aufklärung den Grundzügen der historischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und blieb damit einem geschlossenen, naturalistischen Weltbild verhaftet.
Für seine «historische Methode» stellte Ernst Troeltsch drei bekannte Kriterien auf:
1. Kritik: Texte werden den Wahrscheinlichkeitsurteilen der Historiker unterworfen.
2. Analogie: Was sich heute im «normalen, gewöhnlichen» Lebensalltag nicht ereignet, kann auch damals nicht geschehen sein.
3. Korrelation: Alles geschichtliche Geschehen ist von innerweltlichen Ursachen abhängig.
Wenn alles nur immanent (innerweltlich) betrachtet wird, ist das transzendente Wirken Gottes in unserer Welt von vornherein ausgeschlossen. Zu Recht schreibt Armin Sierszyn (in seiner Christologischen Hermeneutik): «Der methodische Grundsatz, die Bibel auszulegen, als ob es Gott nicht gäbe, ist eine subtile Art der Religionskritik, ja des Atheismus.»
Die Argumentation, dass, wenn heute keine Wunder passieren, sie auch zu biblischen Zeiten unwahrscheinlich waren, kann auf einer ganz persönlichen Ebene entkräftet werden: Wenn wir heute Gottes Reden und sein Wirken in unserer Lebenswirklichkeit erfahren, besteht eine sehr hohe Plausibilität, dass es damals auch geschehen konnte! Die Bibel kennt auch eine Art «Analogiekriterium» in Hebräer 13,8: «Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.» So wie wir heute Gottes Nähe und sein Eingreifen erfahren dürfen, erlebten es Menschen auch früher.
Auf theologischer Ebene sprach Karl Barth von der «Logik des Wunders». Die Bibel lässt uns «verwundern», in der Theologie geht es notgedrungen um die Lehre von «Gott» (theos), der Raum und Zeit transzendiert. Im Bereich der Naturwissenschaften lassen die Relativitätstheorie und die Quantenphysik seit dem 20. Jahrhundert ein offeneres Weltbild als das kausal-mechanische Weltbild des 19. Jahrhunderts denken. Es ist heute wieder einfacher vorstellbar, dass Gott mit dieser Welt interagiert. In seiner bekannten philosophischen Hermeneutik thematisiert Hans-Georg Gadamer die «Inkarnation» (das Wort wurde Fleisch, Joh 1,14) als zutiefst christliches Konzept. Gott besuchte uns auf dieser Welt, er wirkt in diese Welt hinein und er spricht. Auf diese Weise ist Offenbarung wieder denkbar. Die Worte der Bibel sind von Gott eingegeben (theopneustos, «gottgehaucht», 2. Tim 3,16), wir haben es in der Bibel mit Heilsgeschichte zu tun. Um die Kraft des Wortes wieder neu zu entdecken, benötigen wir eine neue Wertschätzung der biblisch-reformatorischen Theologie. Eine «biblisch-historische Auslegung» (Terminologie von Gerhard Maier, ein weiterer Begriff wäre «historisch-theologische Auslegung») nimmt die historischen Fragestellungen zur Bibel ernst, lässt aber dabei Gott auch Gott sein. Sie lässt Gott in der Geschichte handeln, Wunder und das Übernatürliche werden nicht einfach ausgeschlossen; genauso wenig Gottes Reden, Offenbarung und Prophetie. Dies schliesst eine seriöse historische Arbeit nicht aus,
im Gegenteil: Es ist wichtig, aufzeigen zu können, dass Gottes Heilsgeschichte mit uns Menschen in der Geschichte verankert ist.
Die von Hilbrands/Koorevaar herausgegebene Einleitung ins Alte Testament spricht von einem «historisch-kanonischen Ansatz». Neben der historischen Fragestellung ist es entscheidend, die biblischen Texte im gesamtbiblischen Kanon auszulegen. Es gilt zu differenzieren, dass dieser Zugang weder historisches noch kritisches Denken ablehnt, hingegen eine «historisch-kritische» Methodik, die einer säkularen Ideologie verfallen ist, welche Gottes Wirken ausschliesst, und die durch Bibelkritik sowie spekulative Hypothesen, die oft im Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts verhaftet sind, im Widerspruch zum Zeugnis der Schrift steht.
Für die soeben mit den Begriffen «biblisch-historisch», «historisch-theologisch» oder «historisch-kanonisch» umschriebene Position verwenden wir im Folgenden einfachheitshalber den Ausdruck «konservativ» im Sinn, dass wir die Selbstaussagen der Schrift ernst nehmen und diesen traditionellen kirchlichen Ansatz «bewahren» (lat. conservare) möchten. Der Begriff hat sich in der Literatur für unsere Herangehensweise durchgesetzt.
Das bringt uns zurück zum reformatorischen Ansatz Luthers, die Schrift lege sich selbst aus (« scriptura sui ipsius interpres»), welcher die Grundlage einer biblischen Hermeneutik bildet. Auf die Schrift zu hören bedeutet auch anzuerkennen, was sie über sich selbst sagt. Wir nehmen den Selbstanspruch der Bibel ernst. Sie bezeugt, dass Menschen «getrieben vom Heiligen Geist» im Auftrag Gottes gesprochen haben (2. Petr 1,21). Davon entsteht in unserem Inneren ein Zeugnis. Für Calvin war dieses «innere Zeugnis des Heiligen Geistes» («testimonium spiritus sancti internum») besser als alle Beweise für die Bibel. «Was Christum treibet» (Luther) war ein weiterer Schlüssel für den Umgang der Reformatoren mit der Bibel. Im Alten Testament wird der kommende Messias verheissen und im Neuen Testament wird sein erfolgtes Kommen (und sein zukünftiges Wiederkommen) beschrieben.
Dies alles geschah im Kontext des jüdischen Volkes. Nicht nur das Alte Testament entstand im alten Israel, sondern Jesus, seine Jünger und die Schriftsteller des Neuen Testaments (mit Ausnahme des Lukas) waren Juden. In diesem Sinn ist eine «messianische Auslegung», welche diesem Kontext Rechnung trägt, wichtig. Für weitere hermeneutische Überlegungen siehe den Exkurs zur historischen Zuverlässigkeit des Alten Testaments (als Abschluss zum AT).
DAS ERSTE BUCH MOSE
ALLGEMEINES
Auf Hebräisch heisst das Buch «Bereschit » = Im Anfang, nach den Worten, womit es beginnt. Auf Griechisch heisst es «Genesis» = Geburt, Entstehung, weil es die Urgeschichte enthält. Ohne das erste Buch Mose würden wir, was den Ursprung des Menschengeschlechts anbetrifft, vollständig im Dunkeln tappen. Stellt man dagegen die Schöpfungsgeschichte des ersten Buches Mose mit den ältesten Völkersagen und den neuesten Naturforschungen zusammen, so ergibt sich für den Forscher der Schrift ein strahlendes Licht der Wahrheit und eine sichere Grundlage für die ganze Bibel.
ZEITABSCHNITT
Das Buch fängt mit dem Schöpfungsbericht an und endet mit Josefs Tod in Ägypten.
VERFASSER
Sowohl die jüdische Überlieferung als auch die erste Christengemeinde hat stets die Genesis als das Werk Moses betrachtet. Jesus Christus selbst redet von den Schriften Moses (Joh 5,46; Lk 24,27 usw.). F. Bettex schreibt in Bezug auf den Verfasser Folgendes:
«Zum Berichterstatter an seine Menschheit schuf sich Gott einen gewaltigen Geist, einen Mann, mit dem er gesonnen war, von Angesicht zu Angesicht zu sprechen; … Die Genesis ist nicht eine Sage, noch ein Mythos, noch die Literaturgeschichte eines vergangenen Volkes. Ein Mann, der wie Mose von ‹Angesicht zu Angesicht› mit Jehova sprach, erzählt nicht alte Sagen über die Schöpfung. Er sass an der Quelle und brauchte nur zu fragen. Sollte Gott, der das Wort des Mose auf Jahrtausende hinaus seinem Volke und der Christenheit schenken wollte, ihn nicht unterrichtet haben? Da doch Gott seinen Propheten und Aposteln so vieles zeigte, das sie verkündigen sollten, so dass sie sagen konnten: ‹Was unsere Augen gesehen und unsere Ohren gehört haben, das verkündigen wir›, was ist da natürlicher, als dass er Mose nicht nur das Gesetz gab, sondern ihn auch die Anfänge und die Zukunft der Welt und der Menschheit in Gesichten sehen liess? Das erste Kapitel der Bibel klingt wie der Bericht eines Geschauten, das mit wenigen grossen, monumentalen, fast abgerissenen Worten wiedergegeben wird.»
Zur Frage nach der Verfasserschaft der Genesis und der fünf Bücher Mose insgesamt siehe zudem den Exkurs am Ende des Kapitels.
BOTSCHAFT
Das erste Buch der Bibel ist ein Zeugnis der Allmacht und Herrschaft Gottes. Es offenbart uns Gottes Plan für die Erlösung und Erziehung der Menschheit und zeigt uns, wie er diesen Plan trotz des Versagens und des Ungehorsams der Menschen ausführt.
EINTEILUNG
1. Der Schöpfungsbericht: 1. Mose 1–2
Urschöpfung des Weltalls
Erneuerung der Erde
Erschaffung des Menschen
2. Die Urgeschichte der Menschheit: 1. Mose 3–11
Sündenfall und Folgen
Kain und Abel
Urväter von Abel bis Noah
Kapitel 1,1
1,2–2,3
2,4–25
Kapitel 3
4,1–24
4,25–5,32
Sintflut und Noah 6,1–9,29
Völkertafel
10
Turmbau zu Babel 11,1–9
Stammbaum Sem bis Abraham.
3. Die Patriarchen (Erzväter): 1. Mose 12–50
Abraham
Isaak
Jakob
Josef
11,10–32
Kapitel 12–23
24–26
27–36
37–50
Die Erzählungen über die vier Erzväter greifen in ihrem Ablauf ineinander und sind nicht genau abzugrenzen.
Schlüsselwort: Schöpfung
ERGÄNZUNG ZUR GLIEDERUNG DER GENESIS
Grundsätzlich beinhaltet die Genesis in zwei Hauptblöcken die Ur- (1. Mose 1–11) und Vätergeschichte (1. Mose 12–50).
Auf der Textebene spielt die Zehnzahl eine strukturierende Rolle: Der hebräische Ausdruck tôlēdōt (von jālad, gebären/zeugen), wörtlich «Zeugungen», kommt in der Genesis elf Mal als Toledot-Formel vor und gliedert sie. Zählt man die in 1. Mose 36 doppelt genannten «Toledot von Esau» (in V. 1 und 9) als eins, finden wir zehn Toledot in der Genesis (so überzeugend Külling, Genesis; andere teilen anhand der elf Formeln in zwölf Abschnitte). Der Begriff Toledot leitet entweder eine Genealogie (einen Stammbaum) ein oder er führt die Erzählung im Sinn der
Bedeutung «das Hervorgebrachte: das Produkt, das Resultat» weiter. Die zehn Toledot in der Genesis: 1. Mose 2,4; 5,1; 6,9; 10,1; 11,10; 11,27; 25,12; 25,19; 36,1; 37,2. Es ist interessant, dass die Genesis in zehn «Zeugungen» gegliedert wird, denn die Zehnzahl spielt auch bei der Schöpfung eine Rolle: Zehn Mal finden wir in Genesis 1 die Wendung wajjō’mer («und er sprach»). Durch zehn Worte schafft Gott die Welt, so wie er sie später in zehn Worten (im Dekalog, den Zehn Geboten) ordnet. Nach der Schöpfung durch zehn Worte beginnt in 1. Mose 2,4 das erste «Toledot», das die Verbindung zum weiteren Bericht über die Schöpfung schafft (das erste Toledot in 2,4–4,26 umfasst 930 Wörter, was dem Alter Adams entspricht). Während 1. Mose 1,1-2,3 das grosse Bild vermittelt (unter Verwendung des Gottesnamens «Elohim»), zeichnet das nächste Kapitel ab 2,4 eine Nahaufnahme (Gottesname «Jahwe»).
Die Zehnzahl wird auch in den zehn Generationen von Adam bis Noah (1. Mose 5) und zehn Generationen von der Flut bis Abraham (1. Mose 11) ersichtlich.
TYPOLOGIE
ADAM
Adam ist das Gegenstück zu Christus, dem letzten Adam. Hier nur die wichtigsten Hinweise:
– Erstling der Menschheit: Der erste Adam ist Erstling des irdischen Volkes; der letzte des himmlischen.
– Der Tod ist durch einen einzigen Menschen, Adam, in die Welt gekommen – das Leben gleichfalls: Römer 5,17.
– In der Stunde der Versuchung fällt der erste Adam; der letzte, Christus, siegt: Röm 5,19.
– Der erste Mensch «ward zu einer lebendigen Seele»; der letzte Adam zum «Geist, der da lebendig macht »: 1. Korinther 15,45.
– Der erste Mensch ist «von der Erde und irdisch»; der zweite ist «vom Himmel»: 1. Korinther 15,47.
Gott schuf Adam aus Staub (‘āfār) von der Erde (’adāmā) und hauchte ihm den Odem des Lebens ein. Dann wurde der Mensch zu einer lebendigen Seele (nefesch), 1. Mose 2,7. Daraus lassen sich bereits Leib, Seele und Geist ableiten: das Materielle als Grundlage des Körpers, die explizit erwähnte Seele und Gottes Atem bzw. Geist, welcher dem Menschen vom Himmel her Leben verleiht.
Die Schlange muss zur Strafe auf dem Bauch kriechen und Staub (‘āfār) fressen ihr Leben lang, 1. Mose 3,14. Damit ist der Kampf zwischen der Schlange und dem Menschen vorgezeichnet. Die Kirchenväter sahen in 1. Mose 3,15 das sogenannnte «Protevangelium», das «erste Evangelium»: «Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir
den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.» Der Same der Frau, der Messias, wird der Schlange den Kopf zertreten. Dabei wird ihm aber in die Ferse gestochen, er stirbt. Die Kirchenväter sahen darin eine Anspielung auf Jesus, der am Kreuz den Feind des Menschen besiegt.
Gott bekleidet die Menschen mit Fellen (3,21) und bringt damit quasi selbst das erste Tieropfer dar, noch vor den Opfern von Kain und Abel. Die Folge des Sündenfalls führt schon beim ersten Brüderpaar zum Mord. In unserer zerbrochenen Welt «lauert die Sünde vor der Tür» (3,7). Aber Gottes Plan zielt von Anfang an auf Wiederherstellung. Die Frage an Adam «Wo bist du?» (3,9) thematisiert die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Frage an Kain «Wo ist dein Bruder?» (4,9) zielt auf die zwischenmenschliche Ebene. Durch die Erlösung am Kreuz ist auf den beiden von Sünde überschatteten Beziehungsebenen Heilung möglich. Im Doppelgebot der Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen (Mt 22,37–40) können wir deshalb eine Antwort auf die beiden Kardinalfragen zu Beginn der Genesis sehen.
NOAH
Als Grund für die Sintflut wird in 1. Mose 6,1f. angegeben, dass «Gottessöhne» (übernatürliche Wesen) sich mit den Frauen der Menschen vermischten, was die «Riesen» (nәfilîm, 1. Mose 6,4), die Helden der Vorzeit, hervorbrachte. Dies wird im apokryphen Buch 1. Henoch weiter ausgeführt, welches in Judas 14f. zitiert wird (in diesem Kontext wird auch 2. Petr 2,1–10; Jud 5–7 diskutiert, vgl. die aktuelle Forschung bei Heiser, The Unseen Realm).
NEUBEGINN NACH DER FLUT
Die jüdische Tradition sieht in den noachitischen Geboten eine Art «ethische Uroffenbarung» (G. Huntemann), die für alle Menschen Gültigkeit hat. Jesus beschreibt die Zeit seiner Wiederkunft als «wie in den Tagen Noahs» (Mt 24,37; Lk 17,26).
Es gibt auch in den Umwelttexten des Alten Testaments Flutberichte, z. B. der akkadische Gilgamesch-Epos, der zwar Unterschiede, aber auch Parallelen zum biblischen Bericht aufweist (drei Vögel, darunter eine Taube und ein Rabe werden nach Abziehen des Wassers aus dem Schiff losgeschickt). Während das Schiff im Gilgamesch-Epos einen Würfel darstellt, entsprechen die biblischen Angaben im Sintflutbericht den technisch idealen Massen, wie sie heute im Schiffbau noch verwendet werden (so W. Gitt).
Weltweit finden wir erstaunliche Flutüberlieferungen, die zeigen, dass eine grosse Flut in der kollektiven Erinnerung der Menschheit verankert ist.
BABEL UND JERUSALEM
Nach der Flut bauen die Menschen eine Stadt mit einem Turm bis in den Himmel (1. Mose 11,4). Babel ist durch die ganze Bibel hindurch (bis Offb 17–19) das Symbol für das menschlich Selbstgemachte bzw. die menschliche Selbstbehauptung gegen