EINLEITENDE GEDANKEN
Für die Lebensführung eines Christen sind zwei Dinge unverzichtbar: Eine klare Kenntnis seiner Pflichten und eine gewissenhafte Ausübung dieser Pflichten entsprechend seiner Kenntnis. Wie es keine begründete Hoffnung auf ein ewiges Heil gibt ohne Gehorsam, so kann es keinen sinnvollen Gehorsam geben ohne Kenntnis des Gesetzes. Kenntnis ohne Ausübung mag es wohl geben, doch Ausübung des Willens Gottes ohne Kenntnis ist nicht möglich. Und damit wir wissen, was wir tun und was wir lassen sollen, hat es dem Herrscher und Richter aller Welt gefallen, uns Gesetze zu geben, die unser Handeln ordnen. Als wir das Gesetz der Natur, das ursprünglich in unsere Herzen geschrieben war, jämmerlich entstellt hatten, so dass viele seiner Gebote nicht mehr lesbar waren, erschien es dem Herrn gut, dieses Gesetz in die Heilige Schrift zu übertragen; und in den Zehn Geboten haben wir eine Zusammenfassung desselben.
1.Die Kundmachung der Zehn Gebote
Die furchteinflößenden Begleitumstände bei der ursprünglichen Übergabe des Dekalogs (der „Zehn Worte“) an das Volk Israel sind reich an wertvollen Lektionen für uns. Erstens, das Volk erhielt den Befehl, sich zwei Tage lang durch zeremonielle Reinigung von aller äußerlichen Befleckung auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten (2.Mose 19,10-11). Das lehrt uns, dass es einer ernsthaften Zurüstung der Herzen und Sinne bedarf, bevor wir im Gottesdienst vor den Herrn treten und ein Wort aus Seinem Mund empfangen; und wenn schon Israel sich derart heiligen musste, um am Sinai vor Gott anzutreten, wie viel mehr müssen wir uns heiligen und zurüsten, um uns Gott vor Seinem himmlischen Thron zu nahen. Zweitens, der Berg, auf dem Gott erschien, musste umzäunt und mit der ernsten
Warnung abgeschirmt werden, dass niemand es wagen solle, sich zu nähern (19,12-13). Das lehrt uns, dass Gott unendlich größer und vortrefflicher ist als wir und dass wir Ihm unsere uneingeschränkte Ehrfurcht schulden; und es unterstreicht die Strenge Seines Gesetzes.
Als nächstes finden wir eine Schilderung der furchterregenden Erscheinung Jahwes, als Er herabfuhr, um Sein Gesetz zu überreichen (2.Mose 19,18-19). Ihr Sinn lag darin, das Volk Israel mit Ehrfurcht vor Seiner Macht zu erfüllen und ihm den Gedanken zu vermitteln: Wenn schon bei der Kundgabe des Gesetzes Gott sich in so furchterregender Weise offenbart, wie viel schrecklicher wird die Begegnung mit Ihm sein, wenn Er uns für die Übertretungen dieses Gesetzes richten wird! Als Gott die Zehn Gebote gegeben hatte, waren die Israeliten so ergriffen, dass sie Mose baten, die Rolle des Mittlers und Dolmetschers zwischen Gott und ihnen zu übernehmen (20,18-19). Das lehrt uns, dass das Gesetz, wenn es uns direkt von Gott verkündet wird, (für sich genommen) nur Verdammnis und Tod für uns bedeuten kann; wird es uns aber durch den Mittler, Christus, gegeben, so können wir es anhören und befolgen (siehe Gal. 3,19; 1.Kor. 9,21; Gal. 6,2). Dementsprechend ging Mose auf den Berg und empfing das Gesetz, das vom Finger Gottes auf zwei Steintafeln geschrieben wurde, um zu verdeutlichen, dass von Natur aus unsere Herzen so hart sind, dass einzig der Finger Gottes einen Abdruck Seines Gesetzes darauf machen kann. Diese Tafeln wurden von Mose in seinem heiligen Eifer zerbrochen (2.Mose 32,19), und Gott schrieb sie ein zweites Mal. Dies deutet an, dass das Gesetz der Natur, das bei der Schöpfung auf unsere Herzen geschrieben war, in Adams Sündenfall gebrochen wurde und dass es bei der Neugeburt wiederum auf unsere Herzen geschrieben wurde (Hebr. 10,16).
Manche wenden ein: „Wurde nicht dadurch, dass Christus in die Welt kam, das Gesetz vollkommen abgeschafft? Willst du uns erneut unter das schwere Joch der Knechtschaft bringen, das niemand je tragen konnte? Erklärt nicht das Neue Testament ausdrücklich, dass wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind; dass Christus unter das Gesetz getan war, um uns davon zu befreien? Ist nicht ein Versuch, das Gewissen der Menschen mit den Zehn Geboten einzuschüchtern, eine allzu gesetzliche Aufbürdung, die
gänzlich im Widerspruch zu jener christlichen Freiheit steht, die der Erlöser durch Seinen Gehorsam bis zum Tode geschaffen hat?“
Meine Antwort lautet: Das Gesetz wurde durch das Kommen Christi nicht abgeschafft; im Gegenteil, Er selbst hat mit Nachdruck erklärt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht“ (Mt. 5,17-18). Gewiss, der Christ untersteht nicht dem Gesetz als einem Bund der Werke, der ihm Verdammnis bringt; aber er untersteht ihm als Richtschnur für sein Leben und Werkzeug seiner Heiligung.
2. Ihre Einzigartigkeit
Diese äußert sich zunächst darin, dass die Offenbarung Gottes am Sinai, die allen nachfolgenden Zeitaltern als grandiose Mitteilung Seiner Heiligkeit und umfassende Kundgabe der menschlichen Pflichten dienen sollte, von ehrfurchtgebietenden Zeichen begleitet war, anhand derer die Menschen begreifen sollten, dass Gott selbst dem Dekalog eine ganz besondere Bedeutung beimaß. Die Zehn Gebote wurden von Gott mit hörbarer Stimme gesprochen, begleitet von so furchteinflößenden Beigaben wie Wolken und Finsternis, Donner und Blitzen und dem Schall einer Posaune; und sie waren der einzige Bestandteil der göttlichen Offenbarung, der von solchen Erscheinungen begleitet war – keine der zeremoniellen und zivilrechtlichen Vorschriften wurden in dieser Weise hervorgehoben. Jene „Zehn Worte“, und sie allein, wurden von dem Finger Gottes auf steinerne Tafeln geschrieben, und sie allein wurden in die heilige Bundeslade zur Aufbewahrung gelegt. Wir können also an der einzigartigen Würde, die dem Dekalog beigemessen wird, seine überragende Bedeutung in der göttlichen Regierung erkennen.
3. Ihre Quelle
Der Quell, aus dem die Gebote entsprungen sind, ist die Liebe. Die göttlichen Einleitungsworte finden im Allgemeinen viel zu wenig Beachtung: „Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Bei aller furchteinflößen-
den Erhabenheit und feierlichen Majestät, von der die Kundgebung des Gesetzes begleitet war, hat es doch seine Wurzeln in der Liebe. Als eine klare Mitteilung Seines Charakters hat das Gesetz seinen Ursprung in Gott, der zugleich der gnädige Erlöser und der gerechte Herr Seines Volkes ist. Aus diesem Verständnis ist der naheliegende Schluss und wichtige Grundsatz abzuleiten: Erlösung bedeutet, dass die Erlösten dem Charakter und der Ordnung Gottes innerlich gleichgestaltet werden. Dass Gott dem Volk die Gebote gab, war ein Ausdruck Seiner Liebe, und Liebe war auch der Boden, auf dem das Volk sie empfing; denn nur so konnte es zu einer Gleichgestaltung, einer wesensmäßigen Ähnlichkeit zwischen einem erlösenden Gott und einem erlösten Volk kommen. Die Worte am Schluss des zweiten Gebots, „Gott, der ... Barmherzigkeit erweiset an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten“, zeigen ganz klar, dass der vor Gott angenehme Gehorsam allein derjenige ist, der aus einem liebenden Herzen kommt. Unser Erlöser hat die Forderungen des Gesetzes darin zusammengefasst, dass wir Gott von ganzem Herzen und unseren Nächsten wie uns selbst lieben sollen.
4. Ihre fortdauernde Gültigkeit
Dass der Dekalog für jeden Menschen jeder nachfolgenden Generation verbindlich ist, ist aus vielen Gründen offensichtlich. Erstens, als die notwendige und unwandelbare Mitteilung der ewigen Gerechtigkeit Gottes ist die Autorität des Gesetzes für alle moralisch mündigen Menschen unabweislich: Ehe das Gesetz (die Richtschnur Seiner Herrschaft) aufgehoben werden könnte, müsste sich Gottes Charakter wandeln.
Dieses Gesetz wurde dem Menschen bei seiner Erschaffung eingegeben; seine spätere Treulosigkeit hat ihn aus der Verbindlichkeit des Gesetzes nicht herausgenommen. Das Moralgesetz bezieht sich auf Verhältnisse, die fortbestehen, solange es vernunft- und willensbegabte Geschöpfe gibt. Zweitens, Christus selbst war dem Gesetz vollkommen gehorsam und war uns darin ein Vorbild, damit wir in Seinen Fußspuren folgen sollten. Drittens, auch der Heidenapostel widmet sich dem Thema und stellt die Frage: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben?“, und er antwortet: „Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf“ (Römer 3,31). Und
schließlich, die Fortdauer des Gesetzes wird dadurch deutlich, dass Gott es bei der Neugeburt Seinen Kindern auf die Tafeln ihres Herzens schreibt (Jer. 31,33; Hes. 36,26-27).
5. Die Anzahl der Gebote
Die Zahl Zehn steht in der Bibel für Vollständigkeit. Die Gebote werden ausdrücklich „die Zehn Worte“ genannt (2.Mose 34,28), ein Ausdruck dafür, dass sie, für sich genommen, ein vollständiges Ganzes bilden, das sich zusammensetzt aus der Vollzahl seiner notwendigen Bestandteile. Diese symbolische Bedeutung der Zahl erklärt, weshalb auch die ägyptischen Plagen auf zehn beschränkt waren und auf diese Weise eine vollständige Reihe göttlicher Gerichte bildeten. Aus dem gleichen Grund wurden auch die Übertretungen der Hebräer in der Wüste so lange geduldet, bis sie diese Anzahl erreicht hatten: Als sie „nun schon zehnmal“ den Herrn versucht und Seiner Stimme nicht gehorcht hatten (4.Mose 14,22), hatten sie „das Maß ihrer Sünden vollgemacht“. Daher auch die Absonderung des zehnten Teiles oder „Zehnten“: Die gesamte Ernte entsprach zehn Teilen, und ein Teil wurde dem Herrn geweiht als Zeichen, dass alles von Ihm stammt und zu Seiner Ehre gesammelt wird.
6. Ihre Einteilung
Da Gott nie ohne guten Grund handelt, dürfen wir gewiss sein, dass Er eine bestimmte Absicht hatte, als Er das Gesetz auf zwei Tafeln schrieb. Diese Absicht ist leicht nachvollziehbar, denn schon der Inhalt der Gebote, die zusammengenommen die Summe der Gerechtigkeit umfassen, unterteilt sie in zwei distinkte Gruppen, wobei die erstere unsere auf Gott bezogenen Pflichten, die zweite unsere auf den Menschen bezogenen Pflichten beschreibt; die erste Gruppe handelt besonders von unserer Verehrung und Anbetung Gottes, die zweite von den Pflichten der Nächstenliebe in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Ohne jeglichen Wert ist demnach unsere „Gerechtigkeit“, wenn wir zwar auf grobe Gewalt gegen unsere Mitmenschen verzichten, aber der himmlischen Majestät die Ehre versagen, die wir Ihm schuldig sind. Ebenso sinnlos wäre unser Anspruch, Verehrer Gottes zu sein, wenn wir unserem Nächsten jene Liebesdienste verweigern, die ihm zustehen. Unsere Enthaltsamkeit
von der Unzucht wird mehr als hinfällig, wenn wir in lästerlicher Weise den Namen des Herrn unnütz im Munde führen; andererseits wird der akurateste Gottesdienst von Ihm verworfen, solange wir noch stehlen und lügen.
Die Pflichten der Gottesverehrung füllen die erste Tafel, denn sie ist „nicht nur das vornehmste Stück der Gerechtigkeit“, wie Calvin sagt, „sondern geradezu ihre Seele, die selbst alles durchweht und belebt; und ohne Gottesfurcht können die Menschen auch unter sich nicht Gerechtigkeit und Liebe bewahren.“ Wenn die Frömmigkeit fehlt, so ist alles, was die Menschen unter sich an Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit, Mäßigkeit noch haben, vor Gott nichtig und unnütz; wenn andererseits Gott Seine rechtmäßige Stellung in unseren Herzen und Leben eingeräumt wird und wir Ihm als dem Schiedsrichter zwischen Recht und Unrecht die Ehre geben, dann wird uns dies veranlassen, auch mit unseren Mitmenschen gerecht umzugehen. Es gab unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie die Zehn Gebote eingeteilt sind – ob das fünfte nun die erste Tafel beendet oder die zweite beginnt. Ich persönlich neige entschieden zu ersterer Ansicht: weil die Eltern uns an Gottes Stelle vorangestellt sind, solange wir jung sind; weil in der Heiligen Schrift Eltern nie als „Nächste“, d. h. auf gleicher Ebene stehend, angesehen werden; und weil jedes der ersten fünf Gebote die Formulierung „der Herr dein Gott“ enthält, die in keinem der restlichen fünf zu finden ist.
7. Ihre Geistlichkeit
„Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist“ (Römer 7,14), nicht nur, weil es von einem geistlichen Gesetzgeber kommt, sondern weil es mehr verlangt als äußerlichen Gehorsam, nämlichen im vollsten Maße den innerlichen Gehorsam des Herzens. Erst wenn wir begreifen, dass der Dekalog auch die Gedanken und Wünsche des Herzens umfasst, erkennen wir, wie viel direkte Auflehnung gegen Gott noch in uns wohnt. Gott verlangt „Wahrheit, die im Verborgenen liegt“ (Psalm 51,8) und verbietet die kleinste Abweichung vom Standard der Heiligkeit selbst in unseren Gedanken und Phantasien. Die Tatsache, dass das Gesetz Kenntnis nimmt von unseren geheimsten Plänen und Sehnsüchten, dass es die heilige Zucht unseres Denkens, unserer Neigungen und unseres Willens verlangt und dass es erwar-
tet, dass all unser Gehorsam der Liebe entspringt, beweist eindeutig seinen göttlichen Ursprung. Kein anderes Gesetz hat jemals den Anspruch erhoben, den Geist des Menschen zu regieren; doch Er, der die Herzen erforscht, gibt sich mit nichts Geringerem zufrieden. Dieser in hohem Maße geistliche Charakter des Gesetzes wurde von Christus aufgezeigt, als Er dem Volk predigte, dass ein unzüchtiger Blick Ehebruch und ein böses Wort ein Bruch des sechsten Gebotes war.
8. Ihr Amt
Die wichtigste Aufgabe des Moralgesetzes besteht darin, uns die Gerechtigkeit zu offenbaren, die vor Gott angenehm ist, und gleichzeitig uns unsere eigene Ungerechtigkeit vor Augen zu führen. Die Sünde hat unser Urteilsvermögen getrübt, uns mit Eigenliebe erfüllt und in uns ein falsches Empfinden unserer eigenen Hinlänglichkeit erzeugt. Doch wenn wir uns ernsthaft an den hohen und heiligen Forderungen des göttlichen Gesetzes messen, dann wird uns unsere grundlose Anmaßung bewusst, werden wir unserer Unreinigkeit und Schuld überführt und erfahren wir unsere Unfähigkeit, das zu tun, was von uns verlangt ist. Calvin schreibt in seinem Unterricht in der christlichen Religion (Institutio, II, 7, 7): „So ist also das Gesetz einem Spiegel gleich, in dem wir unsere Ohnmacht und aus ihr unsere Ungerechtigkeit, wiederum aus diesen beiden unsere Verdammnis erblicken sollen, so wie uns ein Spiegel die Flecken und Runzeln unseres leiblichen Angesichts vor Augen hält.“ Die zweite Aufgabe des Gesetzes ist es, die Gottlosen in Schranken zu halten, die zwar kein Interesse an Gottes Ehre haben und kein Bemühen, Ihm zu gefallen, die aber dennoch viele äußerliche Handlungen der Sünde meiden, weil sie die furchtbaren Strafen des Gesetzes fürchten. Obwohl dies an ihrer Stellung zu Gott nichts ändert, kommt es doch dem Gemeinwesen zugute, in dem sie leben. Drittens, das Gesetz ist für den Gläubigen die Richtschnur für sein Leben, die ihn leitet und gleichzeitig in Abhängigkeit von der göttlichen Gnade hält.
9. Ihre Strafen und Belohnungen
Der Herr hat uns nicht nur zu immerwährendem, dankbarem Gehorsam verpflichtet, als Er uns aus dem Sklavendienst der Sünde frei-
kaufte; nicht nur hat Er den Seinen eine Schau und ein Empfinden
Seiner ehrfurchtgebietenden Majestät geschenkt und sie zu Anbetern Seiner souveränen Herrschaft gemacht, sondern es gefiel Ihm, noch weitere Anreize zu geben, uns Seiner Autorität zu beugen, gern
Seinen Anweisungen zu folgen und mit Abscheu das zu meiden, was Er verbietet, nämlich indem Er Verheißungen und Drohungen hinzufügte: „Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweise an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“
So lernen wir, dass alle, die Seinen Geboten gehorchen, sich nicht vergeblich mühen, und dass auch die Rebellen nicht straffrei davonkommen werden.
10. Ihre Deutung
„Sehr ausgedehnt ist dein Gebot“, sagt der Psalmist (119,96; Elberf.). So umfassend ist das Moralgesetz, dass seine Autorität sich auf alle moralischen Handlungen unseres Lebens erstreckt. Der Rest der Heiligen Schrift ist eigentlich nur eine Auslegung der Zehn Gebote, die uns durch Argumente zum Gehorsam anregt, uns durch Verheißungen lockt, durch Drohungen an Übertretungen hindert, oder uns durch Beispiele in den geschichtlichen Abschnitten zu dem einen anspornt oder an dem anderen hindert. Recht verstanden sind die Vorschriften des Neuen Testaments nur Erläuterungen, Ergänzungen und Anwendungen zu den Zehn Geboten.
Wir sollten beachten, dass in den Dingen, die ausdrücklich geboten oder verboten sind, immer mehr als das tatsächlich Genannte mit einbegriffen ist. Erstens, in jedem Gebot wird die wichtigste Pflicht oder Sünde stellvertretend für alle geringeren Pflichten oder Sünden angeführt, und die offenkundige Tat steht stellvertretend für alle verwandten Neigungen. Wenn eine bestimmte Sünde genannt wird, dann sind alle Sünden derselben Art, mit all ihren Ursachen und Triebfedern gleichfalls verboten; denn Christus legte das sechste Gebot dahingehend aus, dass es nicht nur tatsächlichen Mord, sondern bereits unbesonnenen Zorn des Herzens verurteilt. Zweitens, wenn eine Sünde verboten wird, so wird die gegensätzliche Tugend gleichzeitig geboten, und wenn eine Tugend geboten wird,
so wird die gegensätzliche Sünde verboten. Zum Beispiel, im dritten Gebot verbietet Gott, Seinen Namen zu missbrauchen, und das schließt in notwendiger Konsequenz das Gebot ein, Seinen Namen zu heiligen. Und mit dem Verbot des Diebstahls gebietet das achte Gebot gleichzeitig, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen und alles bezahlen, was wir empfangen (Epheser 4,28).
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DAS ERSTE GEBOT
„Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (2.Mose 20,1-2). Diese Einleitung zum Moralgesetz bezieht sich auf alle Zehn Gebote (und nicht nur auf das erste), und sie enthält die wichtigsten Argumente, die uns zum Gehorsam nötigen sollen. Wie es die Gewohnheit der Könige und Machthaber ist, den Erlassen, die sie herausgeben, ihre Namen und Titel voranzustellen, um mehr Aufmerksamkeit und Achtung für ihr Wort zu erlangen, so erklärt auch der große Gott, der König aller Könige, der hier Seinen Untertanen ein Gesetz kund machen will, ihnen zuvor Seinen heiligen Namen, damit sie eine tiefere Ehrfurcht vor Seiner Vollmacht bekommen und sich scheuen, die Gebote eines so mächtigen Herrschers, einer so glorreichen Majestät, zu übertreten.
Was ich soeben ausgeführt habe, wird eindeutig durch die erhabenen Worte des Mose an Israel bestätigt: „Dass du . . . fürchtest diesen herrlichen und heiligen Namen, DEN HERRN, DEINEN GOTT“ (5.Mose 28,58). „Ich bin der HERR, dein Gott.“ Das Wort für „HERR“ ist „Jehova“; Er ist der Erhabene, Ewige, Nicht-Erschaffene, der uns in der Offenbarung als Derjenige dargestellt wird, „der da war und der da ist und der da kommt“ (Offb. 4,8). Das Wort für „Gott“ ist „Elohim“, der Plural von Eloah, denn wenn Er auch im Wesen eins ist, so ist Er doch drei Personen. Und dieser Jehova, der Erhabene, dem alle Anbetung gehört, ist „dein Gott“, weil Er in der Vergangenheit dein Schöpfer war, in der Gegenwart dein Herrscher ist und in der Zukunft dein Richter sein wird. Zusätzlich ist Er in besonderer Weise durch eine Bündnisbeziehung der Gott Seiner Auserwählten, und daher ihr Erlöser. Unser Gehorsam gegen Sein Gesetz wird also durch zweierlei Überlegungen eingefordert:
(1) Gottes absolute Autorität, um Furcht in uns zu erzeugen – Er ist
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„der HERR, dein Gott“; und (2) Seine Segnungen und Gnaden, um unsere Liebe zu wecken – „der ich dich aus der (gegenbildlichen) Knechtschaft geführt habe.“
„Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (2.Mose 20.3) ist das erste Gebot. Ich will kurz auf seine Bedeutung eingehen. Auffällig ist der Singular: „Du“, nicht „ihr“; jeder Mensch ist einzeln angesprochen, weil es jeden einzelnen von uns angeht. „Du sollst keine anderen Götter haben“, heißt so viel wie: Du sollst keine anderen Götter anerkennen, besitzen, suchen, begehren, lieben oder verehren. Keine „anderen Götter“; so werden sie hier genannt, nicht weil sie von Natur oder ihres Amtes wegen (Psalm 82,6) welche sind, sondern weil die verderbten Herzen der Menschen sie dazu machen und dafür halten (wie in: „ihr Gott ist der Bauch“ Phil. 3,19). Anstatt „neben mir“ sollte es besser heißen „vor mir“ oder „vor meinem Angesicht“; die Bedeutung wird am besten erhellt durch Sein Wort an Abraham: „Wandle vor mir und sei fromm“ (1.Mose 17,1) – führe dein Leben in dem Bewusstsein, dass du immer in meiner Gegenwart bist, dass meine Augen unablässig über dir sind. Das ist ein sehr tiefer Gedanke. Wir sind allzu schnell zufrieden, wenn wir uns vor den Menschen als gut darstellen und ein äußerlich frommes Leben führen können; aber Jehova erforscht unser Innerstes, und Seinem Auge entgeht keine unserer heimlichen Lüste und keiner unserer verborgenen Götzen.
Und jetzt zu den positiven Pflichten, die uns in diesem Gebot aufgetragen werden. Sie sind, kurz gesagt, folgende: Du sollst Jehova bewusst als deinen Gott erwählen, Ihn allein anbeten und Ihm dienen. Aufgrund Seines Wesens und Seine Stellung – als Dein Schöpfer und Herrscher, die Summe aller Vollkommenheit, das erhabene Ziel der Anbetung – duldet Er keinen Rivalen, und niemand kann mit Ihm wetteifern. So sehen wir die absolute Vernünftigkeit dieses Gebots und den Wahnsinn, der in seiner Übertretung liegt. Dieses Gebot fordert von uns eine innere Haltung und eine Lebensführung im Einklang mit der Stellung, in der wir zu dem Herrn, unserem Gott stehen, der doch das einzig würdige Ziel unserer Liebe ist, der einzige, der unserer Seele Frieden und Erfüllung geben kann. Es verlangt, dass wir zu Ihm eine Liebe haben, die all unsere anderen Neigungen und Gemütsbewegungen übertrifft, dass wir Ihn für un-