Eins
Kayla warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In den vergangenen Wochen waren die Stunden nur so dahingeflogen, und sie hatte mehr in einen einzelnen Tag gepackt, als hineinpassen wollte.
An diesem Apriltag hatte sie jedoch viel Zeit zur Verfügung, also richtete sie den Blick auf den blauen Himmel über ihr. Für Kayla stand die Farbe Blau für Freiheit. Je unbelasteter sie sich fühlte, umso dunkler fiel das Blau vor ihrem inneren Auge aus. Deshalb mochte sie ein kräftiges Nachtblau viel lieber als das Lichtblau des Mondes, obwohl dieses in den Augen der meisten für Weite stand. Aber sie war nun mal nicht wie die meisten. Sie war sie, Kayla. Oder zumindest wollte sie das wieder sein.
Aufregung perlte durch sie hindurch und vermengte sich mit der Furcht vor der eigenen Courage. So viel stand auf dem Spiel. Eine ganze Zukunft. Ihre Zukunft.
Kayla ging auf die grasbewachsene Landzunge hinaus, die eine Einbuchtung des Lechs vom eigentlichen Fluss trennte. Direkt vor dem Bootshafenkiosk ankerte ein Floß aus Rundhölzern mit Bänken und Tischen darauf. Die beiden langen Ruder im Heck schaukelten sanft in den Wellen. Sie schienen ihr zuzunicken, als wollten sie ihr bestätigen, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Nachdenklich wandte sich Kayla ab und schlenderte zu einer der roten Parkbänke, die nicht zum Oberen Lechsee hin ausgerichtet waren, sondern zum Fluss. Der Lech sprudelte in einem faszinierenden Farbspektrum zwischen milchigem Blau und tiefem Smaragdgrün an ihr vorüber. Auf dem Wasser treibende Äste und eine Feder sowie quirlige Wasserwirbel deuteten auf eine Strömung hin, die nicht auf den ersten
Blick ersichtlich war. Schwäne und Blesshühner bevölkerten die Wasseroberfläche, in Ufernähe dümpelten einige Wildgänse, ein Pärchen Mandarinenten sowie erstaunlich große Möwen, die Kayla bisher ausschließlich an der Nord- und Ostsee verortet hatte.
Sie setzte sich auf eine der Bänke und bewunderte das junge Grün der Uferbäume und das sanfte Blau des Himmels über den leuchtend weißen Schneeflächen der karstigen Berge.
In Kaylas Herzen rührte sich etwas – als zöge dort ein lauer Frühlingswind ein, der die Spuren der Vergangenheit verwehen wollte. Wie sehr Kayla sich doch genau das wünschte!
Sie sog den Geruch des Wassers ein, der angereichert war mit dem herben Duft von sich zersetzendem Laub und regennassen Bäumen. Ab heute würde sie in dieser kleinen Ortschaft wohnen, die in eine hinreißende Landschaft gebettet war; umgeben von Seen, Bächen und Flüssen, Bergen, Wäldern und hügeligen Weiden. Den Mittelpunkt bildete die hauptsächlich in Weiß gehaltene Kirche Mariä Heimsuchung. Das Gotteshaus thronte wie eine Königin auf einem der vielen Hügel, über die sich die Häuser von Lechbruck am See ausbreiteten.
Kayla atmete nochmals bewusst tief ein und verspürte ein ihr unerklärliches Gefühl von Geborgenheit und Weite. Und dies, obwohl sie hier fremd war und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben überdimensional groß und deshalb völlig unrealistisch. Dennoch wollte sie sich daran festklammern – zumindest so lange, bis sie sich nicht mehr halten konnte. Denn sie brauchte diesen Neuanfang beinahe so dringend wie die Luft zum Atmen.
Nach einem erneuten Blick auf die Uhr riss sie sich von dem bezaubernden Anblick los, schritt an der örtlichen Schule vorbei, querte die Durchfahrtstraße und folgte einer kurvenreichen Straße einen Hügel hinauf. Vom Gehen wurde ihr warm, also zog sie ihre Strickjacke aus und zwirbelte ihr dunkles schulterlanges Haar hoch, sodass der Wind ihr den Nacken kühlte.
Sie ließ die letzte Kurve hinter sich und sah sich dem in den Hang gebauten ehemaligen Bauernhaus gegenüber, vor dem sie rund eine Stunde zuvor den Sprinter geparkt hatte. Inmitten von gepflegten Häusern, die allesamt weiße Fassaden und die hier üblichen hölzernen
Verschalungen und Balkone aufwiesen, wirkte ihr neues windschiefes Zuhause … als stamme es aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Mit der schwarz verwitterten Holzfassade und den Balkonbrüstungen, die von Glyzinien und wildem Wein umrankt waren, erschien es Kayla hier seltsam fehl am Platz. Der steil ansteigende Vorgarten war mit Gras, Klee und Gänseblümchen bewachsen und zur Straße hin von einer Natursteinmauer begrenzt.
„Es passt zu mir“, stellte sie flüsternd fest.
„Ach, da bist du ja.“ Die Stimme ihrer Vermieterin ließ Kayla herumwirbeln und von der Straße auf den Gehweg treten, damit sie an dem Transporter vorbeisehen konnte. Ihre Mundwinkel hoben sich nicht, obwohl sie sich insgeheim darüber amüsierte, wie spielerisch die Einwohner hier zwischen Du und Sie wechselten. Noch hatte Kayla nicht durchschaut, wen man wann duzte und wen nicht, aber vielleicht entschieden das die Menschen hier auch einfach aus dem Bauch heraus.
Aus dem Bauch heraus … Sie fand die Vorstellung, dass auch sie ab sofort wieder spontane Entscheidungen treffen durfte, einfach herrlich, ja, befreiend. Glücklich machend.
„Grüß Gott“, schob Rosi Breitbacher hinterher und fuhr sich durch das dunkelbraune Haar. Die etwa Fünfzigjährige hatte einen kräftigen Körperbau, und ihr heftig gehender Atem verriet Kayla, dass sie kurz vor ihr den Berg heraufgekommen war.
„Ich habe den Umzugswagen gesehen, aber du warst nicht da.“ Rosi bemühte sich um eine akzentfreie Aussprache, was ihr nicht wirklich gelang. Und das rollende R ließ sich ohnehin nicht verbergen.
„Ich war im Rathaus und habe mich angemeldet, anschließend bin ich noch am See spazieren gegangen. Beim Floß und so.“
„So, am Bootshafen warst du.“ Rosi rasselte mit dem Schlüsselbund, bevor sie zwei Schlüssel davon löste und sie Kayla hinhielt.
Mit wild klopfendem Herzen nahm Kayla sie entgegen. Es war also wirklich wahr! Sie durfte fortan hier leben. Einen Neuanfang wagen.
Sie konzentrierte sich schnell wieder auf das, was Rosi ihr mitzuteilen versuchte.
„Hausschlüssel und Zimmerschlüssel. Sie kommen zurecht?“
„Ähm, ja.“ Kayla nickte, wunderte sich aber, dass Rosi nicht gemeinsam mit ihr ins Haus ging, sondern ihr die Schlüssel hier draußen übergab.
„Na, dann wünsche ich ein gutes Ankommen und Einleben. Pfiat di!“ Noch während sie das sagte, drehte sich Rosi um und stapfte davon. Heute war die sonst so gesellig wirkende Frau entweder in Eile oder hatte einen schlechten Tag.
Unangenehm berührt rieb sich Kayla den Nacken, schob das Gefühl aber energisch beiseite. Sie trat durch das offene Gartentürchen und stieg die verwitterten Steinstufen hinauf, die stellenweise von einem Teppich aus weiß und violett blühenden Bodendeckern geschmückt waren. Die Nachmittagssonne beschien die rauen dunklen Holzlatten an der Fassade. Kayla genoss die Wärme, die sie abgaben.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss der verwitterten Eingangstür mit den zwei milchigen kleinen Glasscheiben, konnte ihn jedoch nicht drehen. Als sie probehalber die Klinke herunterdrückte, ließ sich die Tür öffnen. Erstaunt darüber, dass diese nicht abgeschlossen war, betrat Kayla den dunklen Flur der ehemaligen Pension, die inzwischen einer Gruppe junger Leute als WG diente.
Im Erdgeschoss war es still, aber aus einem der oberen Stockwerke wehte Klaviermusik herbei. Umschmeichelt von den sanften Tönen und dem friedlichen Dämmerlicht des Flurs, schloss Kayla die Augen. Sie kannte die eingängige Melodie, konnte sie aber nicht zuordnen. Komplex und dennoch voller Leichtigkeit, erfüllte sie das alte Haus mit Leben, Behaglichkeit und Wärme.
Kayla ging die Treppe hinauf, wobei jede einzelne Stufe unter ihren Schritten knarrte, als wolle sie in das Klavierstück einstimmen. Sie musste ein Stück den Flur des ersten Stockwerks entlanggehen, dessen Boden ebenfalls aus dunklen Holzdielen bestand, ehe sie zur zweiten Treppe gelangte. Auch diese stieg sie hinauf, begleitet von erneutem, sogar noch lauter tönendem Stufenknarren.
Im Dachgeschoss gab es zwei Zimmer, ihres und das einer anderen jungen Frau. Gesehen hatte Kayla bisher keinen ihrer neuen Mitbewohner.
Sie ging an der Treppenbrüstung entlang nach links und drückte die Klinke herunter. Auch ihre Zimmertür war unverschlossen, also betrat sie ihr kleines Reich – und schreckte zurück. Entgegen ihrer Erwartung standen noch etliche Möbel im Raum, durch den Luftzug spielten Staubmäuse auf dem hellen Laminat Fangen. Zerknüllte
Papiertaschentücher, alte Modezeitschriften und sonstiger Unrat der Vormieterin lagen verstreut auf dem Boden herum. Es roch muffig und nach Schweiß.
„Okay …“, sagte Kayla gedehnt und voller Unbehagen. Eigentlich hatte sie eine geräumte, besenreine Unterkunft erwartet. Dass dem nicht so war, erklärte Rosis Schlüsselübergabe direkt auf der Straße.
Kayla schob die Schlüssel in die Gesäßtasche ihrer Jeans und ging zu jenem Holzsprossenfenster im Raum, das ihr über das benachbarte Haus hinweg einen Blick auf den See gewährte. Sie öffnete es und begrüßte die hereinströmende klare Frühlingsluft. Ihr nächster Gang führte sie zum zweiten Fenster. Auch dieses riss sie auf, ehe sie die Balkontür öffnete.
Sie betrat den Holzbalkon, dessen rustikale Brüstung so morsch wirkte, als würde sie einzig von den knorrigen Zweigen der Glyzinie zusammengehalten. Das Dach ragte gut zwei Meter über den Balkon hinaus, die beiden Seiten des Spitzdaches trafen sich genau in der Mitte über dem Vorbau, sodass sie eine Art Zelt bildeten.
Kayla liebte diesen lauschigen Platz schon jetzt, vor allem aber den Blick über die Häuser von Lechbruck hinweg auf die Hügel und bewaldeten Berghänge und bis hinauf zu den Ammergauer Alpen. Ein Stück weiter rechts, verborgen hinter Hügelkuppen und Wäldern, lagen der Forggensee und Füssen, dahinter begann Österreich.
„Ich nehme mal nicht an, dass du diesen Einrichtungstrend befürwortest?“, sagte eine tiefe Stimme, deren Klang Kayla als rostig einstufte. Sie wirbelte herum und trat rasch zurück in ihr Zimmer. Im Türrahmen stand eine junge Frau, deren Haarfarbe nicht klar zu benennen war, da sie aus blauen, rosafarbenen, blonden und schwarzen Strähnen bestand. Kayla schätzte ihren Gast, vermutlich die Mitbewohnerin von nebenan, auf Anfang bis Mitte zwanzig, also etwas jünger, als sie selbst es war.
„Ähm, nein“, brachte Kayla stockend hervor. Sie war verärgert, denn sie wollte ihr neues Leben nicht mit altem Müll beginnen, zumal es nicht ihr eigener war.
„Servus, ich bin Mia.“
„Kayla, hallo.“ Sie musterte den ersten Gast in ihrem neuen Zuhause, der Bayrisch mit italienischem Akzent sprach. Es klang charmant, die Reibeisenstimme tat ein Übriges, um in Kayla ein Gefühl von Heiterkeit und Leichtigkeit aufsteigen zu lassen. Sie ließ es tief in ihr Herz fallen, begrüßte es wie einen lang verschollenen Bekannten.
„Warte kurz.“ Mia drehte sich um und stürmte regelrecht davon. Ihr weiter farbenfroher Rock, den sie zu einem eng anliegenden schwarzen Top trug, umwehte sie wie eine Blumenwiese, deren Blüten in einer Windbö tanzten. Ihre Schritte wurden von einem melodischen Klimpern begleitet, das Kayla nicht so recht einordnen konnte.
Die Treppenstufen knarrten, die neue Melodie im Haus wurde leiser und verlor sich. Irgendwo schlug eine Tür zu, dann näherte sich das Knarren wieder, diesmal langsamer. Schließlich flatterte die junge Frau zurück in Kaylas WG-Zimmer.
Mia warf ihr zwei grellgelbe Gummihandschuhe zu, sie selbst trug ihre bereits. Ein blauer Müllsack folgte, der jedoch nicht so weit flog wie die Handschuhe und deshalb mit einem leisen Flüstern auf dem schmutzigen Boden landete. Den Besen, Mias nächstes Wurfgeschoss, erwischte Kayla gerade noch am Stiel, ehe er polternd zu Boden gefallen wäre.
„Wir packen den ganzen Müll da rein, anschließend entsorgen wir die Möbel.“
„Entsorgen? Wird die Vormieterin sie nicht abholen?“
„Nein. Sie kommt nicht mehr her.“ Mia nickte gewichtig und fuhr fort: „Ich habe uns telefonisch Unterstützung organisiert, damit wir zwei deine Sachen nicht allein hochtragen müssen. Sie kommt heute Abend. Bis dahin haben wir den Raum leer, sauber und die Wände samt Holzvertäfelung gestrichen.“
„Ich … du willst …“ Völlig perplex schüttelte Kayla den Kopf. Diese Mia, die sie gerade einmal fünf Minuten kannte und die sie an die quirligen Strömungswirbel im Lech erinnerte, wollte ihr einfach so helfen?
„So kannst du hier jedenfalls nicht einziehen. Und ja, ich finde, dass es schönere Freizeitbeschäftigungen gibt. Aber es hilft ja nichts, du musst hier heute Nacht schlafen können. Also los!“ Mia schob mit ihren weißen Sneakern einen Teil des Unrats zusammen, hockte sich hin und schaufelte ihn regelrecht in die Mülltüte. Da Kayla unmöglich zusehen konnte, wie die fremde Frau ihr Zimmer auf Vordermann brachte, gab sie sich einen Ruck und kehrte mit dem Besen immer neuen Müll zu Mia hinüber.
Der aufgewirbelte Staub brachte sie beide zeitgleich zum Niesen. Mia lachte darüber schallend, an Kaylas Lippen zupfte ein zaghaftes Lächeln, dem sie allerdings nicht nachgeben konnte. Zu lächeln hatte sie verlernt.
Sobald sie den gröbsten Schmutz im Müllsack eingefangen hatten, wandten sie sich den Möbeln zu. Mia stemmte die Hände in die schlanke Taille und schürzte die Lippen. Sie schien einen Moment lang nachzudenken, dann deutete sie auf einen sechseckigen Nachttisch aus Furnierholz in einem glänzenden, nicht sonderlich schönen Braunton. „Der macht den Anfang. Pack mal mit an.“
Gemeinsam nahmen sie das erstaunlich schwere Möbelstück hoch, doch als Mia nicht in Richtung Treppenhaus ging, sondern auf die Balkontür zusteuerte, fragte Kayla: „Was hast du vor?“
„Ich habe keine Lust, das Gerümpel zwei Stockwerke runterzutragen. Du etwa? Wozu hat Gott die Schwerkraft erfunden?“
„Aber …“
„Komm schon, kein Mensch will diese kaputten Möbel mehr haben.“
Sie trugen das sperrige Teil hinaus auf den Balkon und wuchteten es auf die Brüstung. Kayla vernahm das Knacken einiger Äste und bedauerte die Glyzinie.
„Achtung!“, rief Mia lauthals und klang weniger warnend als vielmehr übermütig. „Hässliches Möbel von oben!“ Sie gab dem Nachttisch einen Schubs, sodass er über die breite Balustrade kippte. Nur den Bruchteil eines Augenblicks später erfolgte der krachende Aufschlag auf der abschüssigen Wiese, begleitet von einem unschönen Splittergeräusch.
Kayla und Mia beugten sich synchron über das Geländer und spähten in den Garten hinunter. Den Nachttisch hatte es in seine Einzelteile zerlegt.
Unwillkürlich stieg ein perlendes Lachen in Kayla auf, das aber nicht ihre Lippen erreichte. Sie hatte in den vergangenen Wochen versucht, ihr Leben zu entrümpeln und von all dem Ballast zu befreien, der es beinahe erstickt hätte. Das hatte sich als extrem anstrengend erwiesen, doch letztlich war es ihr gelungen. Wie viel einfacher wäre es wohl gewesen, wenn sie all das, was sie hatte loswerden wollen und müssen, aus einem imaginären Fenster hätte werfen können? Dies hätte auch verhindert, einige der bereits entsorgten Dinge wieder willkommen zu heißen und in alte Muster zu verfallen. Manche Schritte hatte Kayla mehrmals gehen müssen …
„Meinst du, wir bekommen auch den Schreibtisch hier raus?“, wandte sie sich an ihre tatendurstige Mitbewohnerin.
„So gefällst du mir!“ Mia lachte, klatschte mehrmals auffordernd in die Hände, sodass die gelben Handschuhe wie aufgeschreckte Vögel wirkten, und tänzelte förmlich zurück ins Zimmer. „Für die Balkontür ist der aber zu groß.“ Sie umrundete den Schreibtisch, der mehr aus Metall denn aus Holz bestand.
„Ich habe einen Werkzeugkasten im Transporter.“
„Worauf wartest du dann noch? Husch, husch!“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht bedeutete Mia ihr, sich schleunigst auf den Weg zu machen.
Voller Leichtigkeit im Herzen – ein Gefühl, das sie so lange entbehrt hatte, dass es Kayla zunächst verwunderte, ehe sie es willkommen heißen konnte – hüpfte sie regelrecht die Stufen hinunter. Beim Sprinter angekommen, dauerte es geraume Zeit, bis sie den blauen Metallkasten im Laderaum gefunden hatte.
Wieder zurück im oberen Stockwerk, traf sie Mia in der Tür zu dem kleinen Badezimmer an, das sie sich teilen würden.
„Ich habe“, sagte Mia, obwohl sie Kayla den Rücken zuwandte, „alles entsorgt, was Bibi hat stehen lassen. Und ich habe geputzt. Aber schau es dir ruhig noch mal genau an.“ Sie räumte das Feld, doch Kayla, die Mias Arbeit weder überprüfen noch bewerten wollte, folgte
ihr auf dem Fuße zurück in ihr neues Reich über den Dächern Lechbrucks.
Mia plauderte munter weiter: „Bibi und ich hatten uns ständig in der Wolle, weil wir so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Chaos-Bibi gegen Penibel-Mia.“
„Und wer hat gewonnen?“, fragte Kayla leicht irritiert, da sie den bunten Schmetterling nicht mit dem Attribut penibel unter einen Hut brachte.
Mia stieß Kayla lachend mit dem Ellenbogen in die Seite. „PenibelMia. Ganz einfach deshalb, weil sie aus jeder Diskussion als Siegerin hervorgeht.“
Kayla nickte, nahm einen Schraubendreher aus dem Werkzeugkasten und zerlegte den Tisch in seine Einzelteile.
„Wow, du kannst das ziemlich gut“, kommentierte Mia anerkennend.
„Ich arbeite viel mit Werkzeug, meistens allerdings mit filigranerem als dem hier.“
„Was machst du denn beruflich?“, wollte Mia wissen, ergriff die soeben abgeschraubte Tischplatte und warf sie – begleitet von einem weiteren Warnruf – über die Balkonbrüstung. Ohne auf Kaylas Antwort zu warten, erzählte sie dann: „Ich bin Musicaldarstellerin. Außerdem spiele ich Klavier und Kontrabass. Ich gehöre zum Ensemble des Füssener Festspielhauses.“
„Oh!“, stieß Kayla bewundernd und fasziniert zugleich aus und reichte ihr eines der geschwungenen Metallbeine. „Ich bin Goldschmiedin und –“
„Sag bloß, du bist die, die am Brotmarkt in Füssen das kleine Ladenlokal gemietet hat!“
„Woher …? Ja, das bin ich.“
„Ich jobbe nebenbei in einem Blumengeschäft. Deshalb weiß ich, dass der Laden jetzt an jemand Neues vermietet ist. Vorher war da eine Änderungsschneiderei.“ Mia hob ihren langen Rock an und offenbarte an jedem Fuß ein Kettchen aus gehämmerten goldfarbenen Metallblättchen – und damit den Ursprung der Melodie, die sie beständig umgab. „Die findest du dann wahrscheinlich ziemlich … billig?“
„Warum denn?“, fragte Kayla nach einem Blick auf die Fußkettchen. „Ich finde, das Klimpern passt zu dir, und die Anhänger sind richtig hübsch.“ Sie reichte Mia ein weiteres Metallteil. „Außerdem fertige ich auch Modeschmuck an. Mir gefällt beides: die Arbeit mit hochwertigen Materialien genauso wie die mit weniger wertvollen, bei denen ich nicht so sehr aufpassen muss und meiner Fantasie freien Lauf lassen kann.“
„Sprecht ihr gerade von Mias Fußfesseln?“
Kayla zuckte ob der tiefen Bassstimme zusammen. Offenbar ging in diesem Haus jeder ein und aus, wie es ihm passte.
„Josch! Du bist schon da?“ Mia, bereits auf dem Balkon angekommen, ließ das Metallteil einfach fallen, stürmte an Kayla vorbei und sprang dem großen breitschultrigen Mann förmlich in die Arme. Der war darauf vorbereitet, denn er fing sie auf, stellte sie aber sofort wieder auf die Füße und trat einen Schritt zurück. Kayla vermutete in dem Neuankömmling mit der sonoren Stimme einen Kollegen von Mia.
„Fußfesseln? Ich dachte immer, das wäre ein Kuhglockenersatz“, meldete sich ein weiterer männlicher Gast zu Wort. Auch er wurde stürmisch von Mia begrüßt, sobald Josch den Türrahmen freigegeben hatte. Mia stellte ihn Kayla als Theo vor. Im Gegensatz zu Josch, der blonde Locken hatte und überraschend braun gebrannt war, war er dunkelhaarig und wirkte eher blass.
Theo zwinkerte Kayla zu und sagte: „Mia liebt es, Gegenstände aus dem Fenster zu werfen. Offenbar hat sie dich damit angesteckt.“
Besorgt presste Kayla die Lippen zusammen. Das, was sie da machten, war nicht ganz ungefährlich, allerdings ging sie davon aus, dass Mia einschätzen konnte, ob sich dort unten jemand aufhielt oder nicht.
Außerdem fand sie die Sache mit den Kuhglocken grenzwertig, wenn nicht gar beleidigend. Doch der farbenfrohe Wirbelwind schien sich nicht daran zu stören. Mit einer übertrieben theatralischen Geste warf Mia das, was zuvor auf dem Balkon gelandet war, über die Brüstung.
„Hat Chaos-Bibi all das Gerümpel zurückgelassen?“, fragte Josch, während er eine Kommode hochwuchtete und zur Balkontür trug. Offenbar hatte auch er keine Lust, die schweren Möbel durch das extrem enge Treppenhaus zu tragen.
„Hat sie“, kam Mia ihr mit einer Antwort zuvor, denn Kayla war noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, dass zwei wildfremde Männer ihr ungefragt zur Hand gingen.
„Wie wäre es, wenn Kayla, Josch und ich hier für Klarschiff sorgen und du, Theo, zum Baumarkt fährst, um Farbe und Malerutensilien zu besorgen?“, schlug Mia vor.
„Kann ich gern machen!“, meinte Theo und zog den Autoschlüssel hervor.
„Stopp, Mia! Du überrollst Kayla“, ging Josch dazwischen und wandte sich an sie. „Ist dir das überhaupt recht? Immerhin ist das dein Zimmer.“
Angenehm überrascht hob Kayla die Augenbrauen, gleichzeitig flutete eine böse Erinnerung ihre Gedanken, bedrängte ihr Herz und zog Schmerz hinter sich her. Sie zwang sich, all diese Gefühle weit von sich zu schieben. Schließlich wollte sie nicht, dass die negativen Eindrücke aus der Vergangenheit hier ebenfalls einzogen. Aber durfte sie zulassen, dass Mia das Kommando übernahm?
Kayla zögerte kurz, dann nickte sie. Immerhin hatte sie jetzt die Wahl, auf Mias Vorschlag einzugehen oder nicht. „Ich bin dankbar für eure Hilfe, also ja.“
„Und welche Farbe soll Theo mitbringen?“
Kayla betrachtete die etwa einen Meter hohe dunkelbraune Holzvertäfelung, die an allen vier Zimmerwänden angebracht war, wobei sie unter dem Fenster zum See hin von einem Heizkörper verdeckt wurde. Sie entschied, dass das Holz unbedingt graublau gestrichen werden sollte, der Wandputz und die Decke cremeweiß. Theo nahm die Bestellung entgegen.
In den folgenden Stunden säuberten und strichen sie das Zimmer. Dank des milden Aprilwetters, das kräftiges Lüften erlaubte, trocknete die Farbe schnell. Während die Landschaft draußen in abendlicher Dämmerung versank, stellten sie die Möbel vorerst einige Zentimeter von den Wänden entfernt auf. Dabei halfen nicht nur Mia, Josch und Theo, sondern auch weitere Freunde des Trios, die sich als Bastian, Andreas und Bernadette vorstellten, aber nur Basti, Andi und Betti gerufen wurden.
Betti hatte Pizzabrötchen mitgebracht, die nur noch in den Backofen geschoben werden mussten, dazu einen Feldsalat mit Fetawürfeln. So kam es, dass Kayla später am Abend zwischen ihren fröhlichen Helfern auf der Eckbank in der WG-Wohnküche saß.
„Wer bist du eigentlich?“ Basti, ein schwarzhaariger Typ mit Brille und funkelnden blauen Augen, beugte sich über den Tisch zu Kayla vor.
Diese Frage, nachdem er bereits mit ihr die Holzverkleidung gestrichen und Bücherkisten durch das melodiös knarrende Treppenhaus geschleppt hatte, hätte Kayla beinahe zu einem Kichern verleitet. Aber nur beinahe.
„So eine tiefenpsychologische Frage aus deinem Mund?“ Theo lachte schallend auf.
„Manchmal hat er solch überraschende Anwandlungen“, meinte Betti gelassen. „Sie halten ungefähr fünfzehn Sekunden an.“ Schwungvoll stellte sie einen weiteren Teller mit Pizzabrötchen auf den Tisch, der zudem mit unzähligen Flaschen und Gläsern sowie mit Tellern, Gewürzdosen und Besteck vollgestellt war. Der Dampf der überbackenen Brötchen waberte der niedrigen Holzdecke entgegen und wurde vom heimeligen orangefarbenen Licht flackernder Kerzen beschienen.
„Ich frage doch nur, weil –“ Weiter kam Basti nicht, da Mia im selben Moment ihr Glas umstieß, dessen Inhalt sich über seinen Oberschenkel ergoss.
„Entweder setzt du dich das nächste Mal neben jemand anderen“, polterte er los, „oder du musst damit rechnen, dass ich dir die Arme an der Stuhllehne festbinde.“
„Und schon ist er dahin, der wohlmeinende, aufmerksame und mitfühlende pseudopsychologische Eindruck“, spottete Betti.
„Misslungener Täuschungsversuch“, attestierte auch Andi.
Kayla musterte den kräftig gebauten Mann mit dem rotbraunen Haar, den sie auf Mitte zwanzig schätzte. Bis auf eine höfliche Begrüßung und einige Anweisungen während des Bettaufbaus hatte er noch nicht viel gesagt. Andi konnte kräftig zupacken, das hatte Kayla schnell festgestellt, aber auch, dass er sich lieber im Hintergrund hielt. Allein dieser Charakterzug machte ihr den jungen Mann äußerst sympathisch.
Josch war ans Spülbecken getreten und griff nach dem Spüllappen. Mit einem lauten „Hey“ forderte er Bastis Aufmerksamkeit ein. Der nickte dankbar, und Josch warf ihm das Wischtuch zu.
Basti fing es auf und zischte protestierend, da Wasser aus dem vollgesogenen Lappen spritzte. Jetzt war nicht nur sein linkes Hosenbein nass, sondern auch sein Pullover. „Du bist ein wahrer Freund!“, rief er Josch über das Gelächter hinweg zu.
Der antwortete mit einem Grinsen, das perfekt zu seinem lässigen Auftreten passte. Mit seinem gebräunten Teint, den wilden blonden Locken, dem Dreitagebart und dem einnehmenden Lächeln, das regelmäßige weiße Zähne offenbarte, würde er sich mit einem Surfbrett unter dem Arm perfekt in eine Strandszene einfügen.
Basti wandte sich wieder an Kayla. „Ich habe nur gefragt, wer du bist, weil ich vorhin als Letzter dazugekommen bin und mir niemand deinen Namen verraten hat.“
Mia prustete los, Betti schüttelte den Kopf und Andi klopfte Basti so kräftig auf die Schulter, dass der Inhalt des Glases in Bastis Hand nun auch noch auf sein trockenes Hosenbein schwappte.
So zufrieden und glücklich wie seit Jahren nicht mehr lehnte sich Kayla auf der Eckbank zurück und beobachtete die Interaktion des Freundeskreises, in den Mia sie ganz selbstverständlich hineingeschubst hatte. Sie sog das Gelächter und die spöttischen, aber gutmütigen Bemerkungen förmlich in sich auf. Selbst als sich die Gespräche um Themen drehten, deren Hintergründe sich ihr entzogen, störte sie das nicht. Es war schön, Teil eines vergnüglichen Abends unter Freunden zu sein. Dass es Zeit brauchte, um die jungen Leute besser kennenzulernen, war ihr klar, ebenso wie die Tatsache, dass der Kontakt auch schnell wieder einschlafen konnte. Aber für den Moment war sie einfach nur glücklich!
Diese Küche, die sich optisch irgendwo zwischen den 1960ern und dem ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre bewegte, könnte ein Lieblingsplatz für sie werden.
Im nächsten Augenblick wurde Kayla schmerzlich bewusst, dass ihre Vergangenheit nicht nur in vielerlei Hinsicht herausfordernd und bedrückend gewesen war, sondern sie zudem auch in eine tiefe Einsamkeit geführt hatte.