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Wenn nicht anders gekennzeichnet, stammen Bibelzitate aus der folgenden Übersetzung: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. Weitere verwendete Bibelausgaben: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe. © 2006 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart.

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel. Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2025 adeo Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

1. Auflage 2025

Bestell-Nr. 835395

ISBN 978-3-86334-395-8

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter • www.grafikbuero-sonnhueter.de Umschlagmotiv: rawpixel.com / The img (Shutterstock)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

Lektorat: Christiane Kathmann • www.lektorat-kathmann.de

Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

www.adeo-verlag.de

Auf der Mosel

Ich sitze auf dem Oberdeck des Moselkreuzers, und Heinrich fragt mich, ob ich in der Kirche sei.

„Ja“, antworte ich.

„Evangelisch oder katholisch?“

Ich zögere, lüge: „Evangelisch“, und verstoße prompt gegen einen All-Time-Klassiker der christlichen Top-10-Gebote.

Das wird mich später in der Kajüte noch einholen. Wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Alles infrage stellen.

Ich bin Anfang fünfzig, Zipperleinchen noch rar, trage weiße Air Jordans, Hoodie und bin damit im Kleidungsstil kaum unterscheidbar von meiner pubertierenden, dreizehnjährigen Tochter.

Nur teilweise führe ich mich auch so auf wie sie: unsicher, unkalkulierbar, launisch. Mal voller Selbstachtung, mal kurz vor Selbstverrat. Wie jetzt.

Obwohl hier neben Heinrich und den anderen mit Mutter und Bruder zwei Figuren meines engsten Ursprungskreises am Tisch sitzen, lüge ich. Weil ich ahne, was sonst kommen würde:

Wer wird denn heutzutage freiwillig und mit wachem Verstand noch Katholik?

Äh, ja, ich!

Und trotz all der Erlebnisse, Grenzgänge und Erfahrungen, von denen ich in diesem Buch berichte, lüge ich in diesem Moment auf dem Moselkreuzer, weil ich mein „Konfessions-Outing“ fürchte.

Weil ich nicht gut argumentieren kann, wenn sie wissen wollen, wieso. Weil ich immer denke, ich müsse mich rechtfertigen, auch hier, obwohl Glaube sicher keiner Rechtfertigung bedarf, außer vor Gott.

Wen geht es an, wen ich anbete oder nicht? Meine Sache. Und doch ist meine Lüge vor allem eins: „feige“. Bei allen logisch klingenden, absolut zu kritisierenden Gründen, die ich aufgeführt

habe, ist das nicht zu entschuldigen, sondern wirft mich nach meinem heiligen Jahr meilenweit zurück.

Vor etwas über einem Jahr habe ich mit der Idee gestartet, von der Pike auf das Christsein zu lernen. Nicht wie in der Schule, im Konfirmationsunterricht, durch „Das Leben des Brian“ oder „Die Passion“ auf RTL, sondern richtig, professionell, mit Support von oben und auf Erden, ganz meinem Vornamen entsprechend, mich zu christianisieren.

Ich war im Kloster, habe einen Glaubenskurs besucht, den „Iron Man“ des Pilgerns in Nord-Irland bewältigt und mir sogar eine eigene Gebetskapelle in den Garten gebaut. Und jetzt knicke ich auf einer fünftägigen Moselkreuzfahrt mit der Familie ein und stehe nicht zu meinem Glauben?

War jetzt alles umsonst oder ist das nur der Beweis dafür, dass Gott uns immer wieder auf die Probe stellt, Glaubensintensität Schwankungen unterliegt, Gott für uns mal mehr, mal weniger zählt, immer wieder eine Kraftanstrengung, ein Gut ist, das erobert werden will?

Oder ist es viel schlimmer, und ich tue nur so, glaube gar nicht an ihn, und stehe deshalb nicht zu ihm? OMG! (OH MY GOD!)

Trotz Hochsommer ist es durch den Fahrtwind und so kurz nach Sonnenuntergang eisig kalt auf Deck. Während sich einige weidlich über die katholische Kirche auslassen, die Runde die „Institution Kirche“ unisono als unbrauchbar, pädophil und nicht mehr zeitgeistig abkanzelt und dennoch Sittenverfall und mangelnde Werte in der Gesellschaft anprangert, habe ich obgleich großer Toleranz und grundsätzlicher Aufgeschlossenheit den Kanal gestrichen voll.

Für meine Verhältnisse eher kurz angebunden, verabschiede ich mich in meine Kajüte und bin konsterniert und den Tränen nahe, wie Julian Nagelsmann nach dem deutschen EM-Aus 2024 im eigenen Land.

Wie enttäuschend war das von mir!?

Habe ich denn in meinem heiligen Jahr nicht genügend Gottvertrauen erfahren, mein Handeln so oft in seine Hände gelegt?

Es gab immer eine Lösung, einen Weg, ein Weiter. Ich habe mentale Leitplanken kennengelernt, die mich durch den Alltag und den Stress führen, auf die ich mich immer berufen kann, um klarzukommen in all dem Wahn. Besser sogar, ich kann mich an Gott festhalten, bei Entscheidungen und Zweifeln, beim Scheitern wie auch im Erfolg, um nicht durchzudrehen. Loslassen und Weitermachen, ungeachtet der manchmal aufkommenden Antriebslosigkeit, meine Pflichten zu akzeptieren. Ich habe die Gewissheit, dass ich keiner Herausforderung allein begegnen muss, weil er mich bedingungslos liebt, wie ich bin – das ist ein großes Geschenk, das ist wahre Gnade, die mir zuteilwurde und an die ich vor Beginn meines heiligen Jahres nicht mal im Traum gedacht habe.

Und da stand so vieles auf meinem Bußkatalog.

Kalle

Oder:

„Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“

(Matthäus 19,6; ELB).

Ich schnaufe vor Wut, und ihm ist klar, warum. Vorsichtshalber bleibt er im Sicherheitsabstand von zwanzig Metern vor mir stehen, wedelt wild mit dem Schwanz, legt die Ohren an. Ihm schwant, dass das gerade kein guter Auftritt war: durch die Büsche zu streifen, irgendwo in den Tiefen der herbstlich kargen Rhododendren zu verschwinden, die den Aufgang zu den Reihenhäusern säumen, und erst nach zehn Minuten und diversen erfolglosen Rückrufversuchen zurückzukommen. Wo er war, spielt allerdings keine Rolle mehr.

Ich gehe auf ihn zu und rufe: „Das ist nicht dein Ernst!“

Er rührt sich keinen Zentimeter vom Fleck. Wie angewachsen.

Erst jetzt zeigt sich das komplette Ausmaß der Katastrophe: Kot, wohin das Auge reicht, großzügig verschmiert, als hätte er ihn sich einmassiert, oder einfach in dicken Brocken im Fell hängend –am Rücken, an den Seiten, am Kopf, am Schwanz, schlichtweg überall. Bis auf seine weißen Tatzen, die verschont geblieben sind.

Hektisch schaue ich auf die Uhr. Mist, gleich der Video-Call mit der Redaktion. Eigentlich wollte ich bis dahin die Gäste-Dossiers und Briefings gelesen haben. Das wird nichts. Ich bin maximal überfordert und gestresst, ich habe keine Ahnung, wie ich ihn reinigen kann, wie ich alles schaffen soll, wieso mein Leben gerade jetzt und hier so ist und warum ich mir diesen Hund überhaupt angeschafft habe.

Meine Gedanken laufen Amok. Ich sehe nur noch wedelnde

Scheiße vor mir, beuge mich zu dem Hund hinunter und brülle: „Du bist ein Fehler!“ Und dann noch lauter: „DU bist ein Fehler! Ich hätte dich niemals holen sollen!“

Analog zur Lautstärke dreht er sich ein und legt die Ohren noch mehr an als tierisch möglich. Sicher wünscht er es sich gerade, irgendwo anders zu sein. Würde sich lieber auflösen oder im Boden versinken oder nach Nordmazedonien zurückkehren. Nichts wedelt mehr. Ich packe ihn an seinem Halsband und merke erst in diesem Moment, dass es – natürlich – auch komplett kotverschmiert ist.

„Och, nöööö, auch das noch – SCHEISSE!“

Ein irritierter Anwohner lugt aus seinem Hauseingang hervor und fragt: „Alles in Ordnung?“

Brodelnd drehe ich mich ruckartig um und schreie: „JA! Was denn sonst!?“

Der Kopf verschwindet wieder, die Tür schließt sich.

Ich bekomme mich emotional kaum gezügelt, könnte den Köter erwürgen, ihn, der die Leine zusammen mit meiner Liebe irgendwo im Gebüsch verloren hat.

Sein Dasein erinnert mich täglich, stündlich, ja, sogar minütlich an einen der allergrößten Fehler, den ich in meinem Leben begangen habe. Der mich beinah um meine Ehe und um das innige Verhältnis zu meiner mittleren Tochter gebracht hätte und um mein Auto – weil mit Hund zu klein – und Büro in einer Psychologinnen-Praxis – weil Tiere nicht erlaubt – gebracht hat.

Die Story hinter „Kalle“ ist von so unbeschreiblicher Chuzpe und Hinterfotzigkeit gekennzeichnet, dass es dafür keine Entschuldigung gibt.

Vor vier Jahren kam ich zum ersten Mal auf die Idee, einen „Familien“-Hund anzuschaffen. Meine Frau war von Anfang an überhaupt kein Fan davon. „Drei Kinder sollten doch reichen“, sagte sie knapp, „nicht auch noch ein Hund.“

Für mich, der in einer Familie aufgewachsen ist, in der alles

ausgiebig diskutiert wurde, ist so eine Art „Basta!“-Nein stets als indirekter Angriff zu werten. Ich bleibe aber ob meiner noch unkonkreten Hundefantasie zunächst defensiv.

Immer öfter erwische ich mich jedoch in den Wochen darauf bei dem Gedanken, wie sehr ein Hund unseren Alltag auffrischen, ja, was er für uns alle gar „leisten“ könnte, wie zum Beispiel einen gesunden Zwang zur Pause. Mal kurz weg vom Schreibtisch, nach stundenlangem Sitzen, und einfach eine Runde mit dem Wuffi um den Block gehen – top! Wie Arthur Schopenhauer mit seinem „Butz“ oder Pablo Picasso mit seinem „Lump“.

Dann, nächstes Pro: „Spielfreund“ mit Bällchen, Stöckchen, Tralala, im Garten, im Park, in der Natur. Wichtig für die Kinder. Und, klar, „Verantwortung“. Ein Riesenthema für die Lütten. Zu lernen, für ein Lebewesen Verantwortung zu übernehmen, es zu pflegen und zu füttern, zu erkennen, was geht und wo Grenzen sind, und übrigens: Tiere senken auch das Allergierisiko.

Und so ein Hund bringt vielleicht in unserem speziellen Fall: Frieden! Peace in da house! Unsere Nummer 2 und 3 sind nämlich ziemlich oft auf Kriegsfuß. Ständiges Streiten, Keifen, Ärgern, Lästern. Was bislang weder Gewaltfreie Kommunikation, Kinderpsychologen, Erziehungsberater noch Klänge der tibetischen Heilflöte vermögen, schafft ja vielleicht eine Fellnase zu heilen.

Als es an einem Tag wieder ganz heftig zwischen den beiden Streithähnen herging, sprach ich abends noch mal das Potenzial der magischen „Heilkräfte“ eines Vierbeiners an. Diesmal fiel die Antwort meiner Frau überraschend aus. Sie seufzte erschöpft: „Ja, vielleicht hast du damit sogar recht …“

War das die offizielle Erlaubnis zur „Mission Hund“?!

Ich spoilere: Nein, sie war es nicht, aber ich wollte sie so verstanden haben und handelte entsprechend.

In den folgenden Tagen nutzte ich jegliche Arbeitspausen, um im Internet auf „Hundecasting“ zu gehen. Schließlich landete ich auf der Seite eines Tierschutzvereins, der Hunde aus dem Aus-

land nach Deutschland vermittelt. Und da sah ich ihn. Ich wusste sofort, der ist es!

„Hazel“. Ein Jahr alt, Australian-Shepherd-Labrador-Mix in – wie der Name schon sagt – „Haselnussbraun“. Ein Rüde. Weiße Pfoten, weißes Lätzchen, Knickohren, hellgrüne Augen – mittelgroß.

Unfassbar süß.

Ich hinterließ eine freundliche Mail mit der Bitte um ein paar Infos, da dort neben Alter und Name nicht viel mehr stand als: Herkunft Nordmazedonien.

Nachdem ich abends beim Gute-Nacht-Sagen am Bett meiner großen Tochter als Lackmustest ein Foto von Hazel präsentiert hatte mit der Frage: „Auf einer Niedlich-Skala von 0 bis 10, wo landet dieser Hund?“, und sie „11“ geantwortet hatte, schob ich, ohne eine Antwort auf meine erste Mail abzuwarten, in derselben Nacht eine Mail mit der Frage hinterher, wohin denn die 500 Euro Vermittlungsgebühr überwiesen werden sollten.

Welcher Geisteszustand mich hier umnachtete, weiß ich nicht mehr – aber Geld lockermachen, ohne Infos darüber zu haben, um was für ein Tier es sich handelt – fragwürdig!

Ich spaziere nicht nach Hause, ich trampele wutentbrannt und drehe mich nicht mehr um. Mir ist es egal, was dieser Hund tut, nicht tut, was auch immer. Er ist mir egal! Soll er auf die Straße rennen. Soll er zurück in seine Heimat wandern. Leck mich!

Doch Kalle – so haben wir den Köter genannt – kriecht förmlich hinter mir her, während ich mich nicht beruhigen kann.

„Wieso klingelst du?“, fragt meine Frau, als sie die Haustür öffnet.

„Der Hund ist voller Scheiße!“

Sie schaut genauer hin. Sie riecht’s. Die Dimension der KotAttacke ist erkannt, ihr Gesicht verfinstert.

„Iiiihh! Bah! Wieso sieht der so aus?“

Während ich erkläre, hechelt Kalle wie verrückt. Er fürchtet, dass gerade zwei Monster über seine Hinrichtung sprechen.

„Viel Spaß beim Reinigen. Dein Hund!“ Sie will direkt kehrtmachen.

„Bitte, Schatz! Ich kann das nicht alleine, ohne alles vollzusauen. Guck mal, allein sein Halsband. Und dann habe ich gleich auch noch diesen verflixten Call. Bitte!“, flehe ich.

Dies ist garantiert ein Moment, an dem sie es bereut, mich als Ehemann ausgesucht zu haben – denn wir kommen aus ganz unterschiedlichen Reinigungslagern. Sie ist Team „Bei mir kannst du vom Boden essen und fängst dir keinen Noro-Virus ein“, und ich bin Team „Noro-Virus“.

In wenigen Sekunden präsentieren mir ihre 43 Gesichtsmuskeln alle 10 000 Mimik-Optionen in Kombination mit runtergezogenen Augenbrauen.

Und dann geht sie ins Badezimmer, um alles zur Seite zu schieben: Badvorleger, Handtücher, Klorollen.

Unter Würgen führe ich den Hund rein und hebe ihn – die eigene Kotbeschmierung billigend in Kauf nehmend – in die Badewanne.

Nun muss ich nicht mehr nur würgen, es kommt auch was mit. Und wohin? In die Badewanne zum Hund. Und wo wir beide voller Exkremente sind, zittere ich jetzt auch wie Kalle vor meiner Frau. Rammt sie mir gleich die Duschgel-Flasche einfach so in die offene Hörmuschel? Oder wird sie einen tragischen Unfall mit tödlichem Ausgang vortäuschen: „Ehemann ertrinkt mit Hund in Badewanne“?

Keins von beidem, sie ist jetzt im Tunnel. Als wäre ich Luft, massiert sie Kot-Kalle sämtliche Duschgels und Shampoos ins Hundefell ein, spült sie aus, und cremt wieder von vorne ein. So geht das an die zehnmal. Ich helfe und bin doch nicht hilfreich. Sie macht, und ich bin dabei. Randfigur in ihrem Reinigungsprozess.

Als sie fertig ist und auch wirklich kein Kot mehr an ihm klebt, trocknen wir ihn mit alten Handtüchern ab und verfrachten ihn in den Flur, in ein altes, längst aussortiertes Körbchen.

„Danke“, sage ich, die Schwere meiner Schuld spürend und mit dem um Verzeihung flehenden Blick des Fehlentscheiders.

Ohne eine Reaktion geht sie stumm in ihr Arbeitszimmer. Kalle kringelt sich zufrieden und wohlduftend in sein Körbchen, wackelt noch einmal mit dem Kopf, schnalzt mit der Zunge, hat die richtige Position gefunden und schläft.

War ja auch ein emotionaler Morgen!

Ehe beraten

Oder:

„Der Mann, der eine Frau findet, hat einen Schatz gefunden“

(Sprüche 18,22).

Die Eule sitzt uns gegenüber, rührt verdächtig lange in einer zu großen Kaffeetasse, landläufig als Jumbobecher bekannt.

„Der lösliche Espresso aus dem Bio-Supermarkt ist empfehlenswert“, ruft der Mann, schaut mit seinem Nulltarifgestell eulenruckartig wieder runter in den dampfenden Koloss mit brauner Brühe und legt ein paar Rührumdrehungen nach.

Meine Frau notiert sich unterdessen Stichwörter seines Monologs vor der Kaffeewerbung.

„Wir mehr als Paar“, „Liebe mit Nachgiebigkeit“ und „Sandbank oder Felsen?“

Hä? Sandbank oder Felsen? Wann hat er das denn gesagt?

Als ich gerade nachfragen will, halte ich inne. Egal, wird sicherlich noch mal Thema, wenn’s wirklich wichtig sein sollte. Stattdessen lass ich mir den Namen des Espressoherstellers geben. Es riecht nämlich verdammt gut, und man weiß ja nie, in welcher durchtexteten Nachtschicht im Hotel es einen richtig guten Instant-Koffein-Schuss braucht.

„Naturata.“

Nie gehört. „Vielen Dank.“

Die schwerwiegenden Vorwürfe, objektiv formuliert, die „Anklagepunkte“, weshalb wir in eines der sogenannten „Walddörfer“ Hamburgs gefahren sind, lauten in der konkreten Wortwahl meiner Frau: „Vertrauensbruch“, „Respektlosigkeit“ und „bedenkliche Lebenseintrübung“.

Die beste Freundin meiner Frau hat ihr den Tipp gegeben, gemeinsam zur Eule zu gehen, dem ihrerseits erprobten und für gut befundenen Paarberater.

Die Praxis liegt im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses, in dem unten ein Friseur, im ersten Obergeschoss der Paarberater hockt, während im restlichen Haus vermutlich lauter glückliche Paare mit perfektem Hairstyling wohnen: „Schon Ida gesehen? Sie und Ben – verliebt wie am ersten Tag. Das liegt bestimmt an seinem Undercut und ihrem Smoky Hair.“

Wir sitzen in einem großen Raum mit Parkett, Lampe, Zimmerpalme und drei Korbstühlen.

Seit „Kallegate“ liegen wir zu Hause im Dauerclinch. Bis auf den Satz „Der Hund oder ich!“ hat die Aggressorin dem illegalen Schleuser alles vor den Latz geknallt, was rechtens ist. Also eine Menge.

Und wäre der haselnussbraune Mischling mit den weißen Tatzen und den Knickohren nicht so ausgesprochen putzig, wäre das Thema vermutlich längst gegessen, und wir wären jetzt nicht hier bei der Eule, die sich unseren Auftritt reichlich vergolden lässt. Denn dann wäre „der Köter mit den Schweinsaugen“ –O-Ton Klägerin – längst woanders, aber definitiv nicht mehr bei uns.

Seit jenem Vormittag im Herbst malmen wir in immer kürzer werdenden Abständen meinen niederträchtig hinterhältigen Alleingang von Neuem durch und kommen doch zu keinem Ergebnis.

Der Fall ist so banal wie komplex. Hund behalten in einer überforderten Familie oder Hund weggeben, aber damit alle beteiligten, völlig unschuldigen Lebewesen unter 18 traumatisieren –Vier- wie Zweibeiner?

Gott frage ich an dieser Stelle leider noch nicht. Aber den blinzellosen Eheberater, der mit seinen buschigen Augenbrauen, der dicken Brille und den mechanischen Drehkopf-Bewegungen, wie gesagt, verdammt noch mal an eine Eule erinnert.

„Warum sind Sie hier?“

Sein Kopf dreht sich drehtellerartig nach links, Richtung Frau.

Sie setzt zur Antwort an, will von dem Hund berichten und wird jäh unterbrochen.

„Nein. Da sind wir noch nicht. Warum sind Sie hier?“, wiederholt die Eule streng.

Ratlos und relativ unausgeschlafen blicken wir uns an. Er reagiert.

„Lieben Sie sich?“ Eulig dreht er seinen Kopf von links nach rechts.

„Ja“, antworten wir im Chor.

„… also wollen Sie Ihre Liebe erhalten, fortsetzen. Sie sind hier, weil Sie sich lieben?“

„Genau“, nickt meine Frau zu mir schauend, und ich wiederhole: „Genau“. Und irgendwie fühlt es sich an wie unaufrichtig nachgeplappert, obwohl ich es aufrichtig meine.

Eule breitet einmal kurz ihre Flügel aus und ruckelt sie wieder zusammen.

„Das ist doch schon mal gut. Denn die meisten Paare, die ich berate, können diese Frage nicht so eindeutig beantworten wie Sie.“ Sein Gesicht zeigt keine Veränderung. Er hätte uns damit auch eine Pizza servieren oder von einem Atomunfall berichten können.

Wir lächeln unsicher, sind beide erleichtert ob des Treffers und irritiert zugleich. Geht das jetzt etwa die nächsten neunzig Minuten so? Der Blick meiner Frau spricht Bände, und doch hat sie angebissen.

Erhaben und mit großen Augen lauscht die Eule unseren Berichten über den lausigen „Vorgang“, abwechselnd aus jeweiliger Sicht. Da meine Frau die Vorwürfe zwar klar und deutlich, aber milde formuliert und ich wie ein reumütiger Serienkiller mit vollem Schuldeingeständnis jeden verlogenen Schritt von der Idee über die Planung bis zur Umsetzung offenlege, kommt so keine

richtige Gut-gegen-Böse-Stimmung auf. Auch ein spektakulärer „Urteils-Knaller“ ist nicht zu erwarten. Es ist der Austausch, das emotionale Verarbeiten eines bereits durch unzählige Gespräche und Streits vielfach mental gelösten Konflikts.

Doch die Anwesenheit eines unparteiischen Dritten löst Brocken, die auf der Seele liegen, bei ihr und mir.

Die Eule notiert, stellt Fragen, hakt nach, das öffnet Tore, hilft, Ausdrücke zu finden. Anamnesen-Eule macht einen guten Job. Und sie macht keinen Hehl daraus, dass sie selbst Hunde-Fan und -Halter ist. Wäre ich meine Frau, hätte ich direkt Antrag auf Befangenheit gestellt. Die Chance dazu hat sie jedoch nicht. Denn statt weiterem Paar-Talk zündet die Eule die nächste Stufe: Wir steigen ein in Einzelsitzungen: „Es geht im nächsten Schritt um Ihre Persönlichkeiten, die sich entschieden haben, ein Paar zu sein.“

Erst ist meine Frau dran, dann ich, der Bäcker sei ein Haus weiter.

Ich räume das Feld und finde mich vor einem dampfenden Becher Filterkaffee wieder.

Was habe ich uns mit dieser Hundestory nur für einen Bärendienst erwiesen? Die Drehung „Leichtfertigkeit“ zu viel, die Portion „Hallodri“ zu groß. Unachtsam so viel Verletzung für Mensch & Tier mit einer einzigen Tat hervorzurufen – das ist schon schwer zu ertragen!

Mit jedem Schluck Kaffee vertiefe ich mich weiter in die Welt endloser Selbstvorwürfe, die sich nicht nur rational im Kopf aufreihen. Sie leisten ganze Arbeit und wecken ehemalige quälende Herzbeschwerer und erbarmungslose Seelensadisten, derer ich nie mächtig werden konnte.

Die Schulzeit ließ sich nur verdrängen.

Mein Nichtgenügen, Letzter sein, Scheitern. Ich war dick, doof, unsportlich. Zwei Brüder wetteten um Geld, dass ich mein Abi nicht schaffe.

Die Schule, ein Spießrutenlauf. Täglich hoffte ich, nicht aufzufallen, nicht im Fokus zu stehen, nicht wieder Sprüche zu kassieren für mein Komplett-Versagen. Das war meine Selbst-Definition. Alles war meine Schuld. Nur eine Sache nicht, und selbst die musste für Ausgrenzung herhalten. Einmal, an einem Samstagabend, wollten ein paar aus meiner Klasse und ich ausgehen, mit dem Zug nach Oldenburg, Party machen. Als wir im Abteil saßen und reihum sagten, wie viel Geld wir mithaben, hatte ich am wenigsten. Einer darauf scherzhaft: „Wohl kein Wunder, wenn dein Vater tot ist.“

Vielleicht hatte er ja sogar recht. Aber es bleibt trotzdem einer der Sätze, die an der Wand jeder Windung im Hirn stehen. So viel Graffiti-Entfernungsmittel gibt’s gar nicht, um das je wegzukriegen. Du bist falsch, wenn andere meinen, du bist falsch. So habe ich es gelernt. Und manchmal glaube ich, dass das bis heute ein akzeptiertes, wenn auch ungeschriebenes Gesetz ist, das keine Instanz aufheben wird.

Nur ich selbst konnte dagegen vorgehen, es ändern, mein „Richtig“ setzen! Und das habe ich dann auch getan. Aber es bedurfte Zeit, wichtiger Menschen, einiger Ortswechsel und Begegnungen, einer Karriere, viel Mut, Gelingen, Zuspruch.

Und nun fummelt plötzlich wieder die Vergangenheit mit!

Als meine persönliche Eulen-Audienz beginnt, gehen wir exakt dorthin zurück: Kindheit, Jugend. Das haut ihn aber alles nicht wirklich vom Hocker. Auch nicht die Zeit nach der Schule bis heute. Erst als ich von meinem ersten Hund Karlo berichte, mit dem ich über ein Jahrzehnt allein gelebt habe, der es verstand, mich zu lesen, der antizipierte, da bekommt Hundefan-Eule glasige Augen vor Begeisterung. Und er beginnt, von seinen Hunden zu schwärmen. Wie sie immer am Eingang stehen, wenn er von der Arbeit zurückkehrt. Wie sie Pantoffeln bringen und sich zum Streicheln vor die Küche legen, bevor er reingehen kann, um sich einen Tee zu machen. Das sei ja so süß.

Ich nutze die daraufhin noch weiter abgerutschte Plauderei über Agility, nicht ausgedrückte Analdrüsen und BARF-Futter geschickt, um den Spot von mir aufs Thema „Familienleben heute“ zu lenken. Hundeerziehung mit Kindern, schwierig, apropos: drei Kinder, viel zu tun, immer randgenäht alles. Man komme ja zu nichts. Auch als Paar. Wann hat man denn mal seine Ruhe?

Da wird die Eule wieder ganz Experte, allerdings enttäuschenderweise nicht für uns als Eheleute, vielmehr in Erziehungsangelegenheiten: Den Kindern öfter „Raum für Erfahrung“ geben –aber mit Leitplanken. Auch mal „scheitern lassen“, Dinge nicht verhindern.

„Wichtig nur, dass Sie als Eltern dabei sind, sie nicht alleine dastehen. Das gibt Sicherheit.“ Denn: „Das Ende muss immer verlässlich sein“ – was übrigens auch bei Strafen gelten soll.

Irgendwie verstehe ich nicht, warum er mir all diese Erziehungstipps serviert, und dann kommen wir beim Schlussakkord wenigstens noch ein bisschen zum Eigentlichen.

Ihn interessieren unsere Eltern-Kind-Beziehungen, weil sie besser sind, wenn Mütter und Väter ihre eigenen blinden Flecken oder Schatten kennen und verstehen. Bei mir zeige sich, dass hier ein kleiner, trotziger Junge gehandelt hat, der spielen will. Weil ich jedoch wegen meiner Stellung nicht nur für mich allein entscheide, sondern für eine ganze Familie, zeige „Kallegate“, meine „Unreife“. Die sei sicher wichtig in meinem kreativen Schaffen, gehöre auch zu meiner Persönlichkeit, dürfe sich aber nur gezielt austoben, nicht in Bereichen, in denen Auswirkungen derartige Dimensionen erreichen können.

Der reife Mann in mir müsse trainiert werden, „am besten öfter kleine Entscheidungen treffen und die durchziehen. Das macht Sie verlässlich sich selbst gegenüber und wirkt sich auch auf Ihr Umfeld aus.“

Und wir als Paar: mehr sprechen, mehr Austausch, sich nah sein, sich aber auch lassen.

Im Auto auf dem Weg zurück: Schweigen. Ein bisschen Learning war schon dabei, aber die ganze HundeAffäre bleibt ein absoluter Murks. Und die alten Selbstbewusstseinskiller sind auch zurück. Immerhin weiß ich, welchen InstantEspresso ich mir kaufen sollte.

„Hat es dir etwas gebracht?“, breche ich das Schweigen.

„Keine Ahnung“, antwortet meine Frau. Und nach einer Pause: „Aber zumindest haben wir mal mit jemandem darüber gesprochen.“

Neuer Termin? – Bis auf Weiteres ausgesetzt.

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