Gideon Greif
Im Zentrum der „Endlösung“
Alltag in der Todesfabrik Auschwitz
© 2022 TOS Verlag, Marsch des Lebens Edition, Tübingen. Erste Auflage.
Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich
ISBN Buch 978-3-96589-002-2
ISBN E-Book 978-3-96589-003-9
Das Bild auf dem Buchtitel zeigt eine bis heute erhaltene Seite der “Geheimen Schriften”, die von Lejb Langfuss, einem Mitgliedern des Sonderkommandos in Auschwitz niedergeschrieben wurde. Die Häftlinge wollten dadurch sicherstellen, dass die Welt von den Massenmorden der Deutschen erfuhr, und zugleich wohl auch ein letztes persönliches Zeichen von sich selbst hinterlassen, bevor auch sie ermordet und verbrannt werden würden, wie so viele vor ihnen. Bild: Yad Vashem
12 Zeichnungen im Buch: ©Peter Siebers, Teilbearbeitung Andreas Kilian
Satz: Hannah Kubsch
Lektorat: Nicole Anders, Hannah Kubsch
Umschlaggestaltung: Stefan Klein
1.1.2
1.1.3
1.1.4
1.1.5
Inhaltsverzeichnis
2.10
2.12 Wie es Sonderkommando-Häftlingen gelungen ist zu überleben112
2.13 Zusammenfassung zum Kapitel ‚Die Entstehung des Sonderkommandos‘ ......................................... 116
3. Alltag und Arbeit im Sonderkommando............ 121
3.1 Arbeit ............................................. 123
3.1.1 Die neuen Krematorien und deren Inbetriebnahme 123
3.1.2 Rekrutierung und erster Arbeitstag neuer Häftlinge ....... 127
3.1.3 Organisation des Vernichtungsprozesses ............... 134
3.1.4 Die Arbeit im Sommer 1944 ......................... 165
3.2 Der arbeitsfreie Häftlingsalltag .......................... 173
4. Die Beziehungen der Sonderkommando-Häftlinge untereinander ................................... 197
4.1 Einschätzung der Beziehungen .......................... 199
4.2 Sprache und nationale Herkunft als Determinanten der Gruppenbildung ............................................. 207
4.3 Die Bedeutung regionaler Herkunft und verwandtschaftlicher Beziehungen ........................................... 217
4.4 Religiöse Praxisformen als gemeinschaftsstiftendes Moment ... 221
4.5 Hierarchien im Sonderkommando: Die Funktionshäftlinge 224
4.5.1 Blockälteste, Schreiber und Stubendienste .............. 225
4.5.2 Die „arischen“ Kapos .............................. 236
4.5.3 Die jüdischen Kapos ............................... 242
4.5.3.1 Eliezer Welbel 242
4.5.3.2 Lemke Pliszko .................................. 243
4.5.3.3 Jaacov Kaminski ................................ 244
4.6 Zusammenfassung zum Kapitel ‚Die Beziehungen der Sonderkommando-Häftlinge untereinandner‘ ..................... 248
5. Die Beziehungen zwischen dem Sonderkommando und anderen Häftlingen ........................... 255
5.1 Isolation ........................................... 256
5.2 Was wussten periphere Zeugen? ......................... 261
5.3 Politische Abteilung .................................. 265
5.4 Kanada-Kommando .................................. 270
5.5 Mobile Kommandos: Rollwagenkommando ................ 274
5.6 Verwandte ......................................... 282
5.7 Dachdeckerkommando ................................ 291
5.8 Zum Handel 295
5.9 Image der Sonderkommando-Häftlinge ................... 298
5.10 Positiv und verständnisvoll. . . .
307
5.11 Zusammenfassung zum Kapitel ‚Die Beziehungen zwischen dem Sonderkommando und anderen Häftlingen‘ ................. 311
6. Zum Verhältnis zwischen Sonderkommando-Häftlingen und der SS ..................................... 317
6.1 Struktur und Organisation der Krematoriums-SS ............ 320
6.2 Die Leiter der Krematorien ............................. 324
6.3 Struktur und Entwicklung der Gewaltpraxis der SS gegenüber dem Sonderkommando ..................................... 327
6.4 Erfahrungen von exzessiver Gewalt durch einzelne SS-Männer und -Gruppen ........................................ 347
6.5 Der Fall Otto Moll ................................... 352
6.6 Handels- und Korruptionsbeziehungen zwischen Sonderkommando und SS ............................................. 367
6.7 Gefälligkeitsdienste von Sonderkommando-Häftlingen gegenüber der SS .............................................. 376
6.8 Positive Erfahrungen der Sonderkommando-Häftlinge mit SSMännern ............................................ 377
6.9 Zusammenfassung zum Kapitel ‚Zum Verhältnis zwischen Sonderkommando-Häftlingen und der SS‘........................ 388
7. Moralische Dilemmata und Bewältigungsstrategien der Sonderkommando-Häftlinge ..................... 395
7.1 Moralische Dilemmata der Sonderkommando-Häftlinge. . . . . . . 396
7.2 Umgang mit der emotionalen Belastung. . . .
7.3 Zusammenfassung zum Kapitel ‚Moralische Dilemmata und Bewältigungsstrategien der Sonderkommando-Häftlinge‘......... 433
8. Widerstand und Aufstand im Sonderkommando 1944 . 437
8.1 Verschiedene Formen des Widerstands
8.2 Organisierte Widerstandsbewegung ......................
8.3 Der Aufstand des Sonderkommandos im Herbst 1944 ........ 460
8.4 Zusammenfassung zum Kapitel ‚Widerstand und Aufstand im Sonderkommando 1944‘ ................................ 491
9.1 Evakuierung, Todesmarsch, Befreiung
9.2 Beginn eines neuen Lebens.
9.3 Erinnerungen
9.4 Anfeindungen und Schuldzuweisungen
9.5 Zeugenschaft .......................................
1. Einleitung
Der im Folgenden zitierte Brief wurde kurz vor der letzten Liquidierung einer größeren Gruppe von Häftlingen des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau geschrieben. Sein Verfasser, Chaim Herman, war sich bewusst, dass auch sein Leben in Kürze zu Ende sein werde; dennoch hoffte er, wie alle seine Kameraden, auf ein Wunder und auf sein Überleben. Um jeden Preis wünschte er, Frau und Tochter wiederzusehen. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung, Herman wurde am 26. November 1944 von der SS selektiert und erschossen. Der Brief allerdings, der seine Hoffnungen festhielt, blieb vollständig erhalten. Er zeugt eindrucksvoll von den emotionalen Extremen, denen die Sonderkommando-Häftlinge in den Krematorien von Auschwitz ausgesetzt waren und ermöglicht uns einen Einblick, wie sie an einem Ort fühlten und dachten, der für sie zur ausweglosen Hölle wurde.
So schrieb Herman an seine Familie:
„Anfang Juli diesen Jahres hatte ich die große Freude, Euren Brief zu erhalten (ohne Datum), was für meine traurigen Tage hier wie Balsam war. Ich lese ihn immer wieder aufs Neue und werde mich bis zum letzten Atemzug nicht von ihm trennen. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, Euch zu antworten, und wenn ich Euch heute mit großem Risiko und unter großer Gefahr schreibe, so ist es, um Euch anzukündigen, dass dies mein letzter Brief sein wird, dass unsere Tage gezählt sind, und wenn Ihr eines Tages diese Sendung erhaltet, dann müsst ihr mich unter den Millionen Brüdern und Schwestern zählen, die von dieser Welt verschwunden sind. Bei dieser Gelegenheit muss ich euch versichern, dass ich ruhig und vielleicht heldenhaft von dannen gehe (das wird von den Umständen abhängen) mit dem einzigen Bedauern, dass ich Euch nicht wenigstens für einen einzigen Augenblick wiedersehen kann.
[...] Dich, meine liebe Frau, bitte ich, mir zu verzeihen, wenn es manchmal im Leben kleine Differenzen gab, jetzt sehe ich, wie wenig man es verstanden hat, die vergangene Zeit zärtlich zu lieben; hier dachte ich immer, dass, wenn ich durch ein Wunder herauskäme, ich mein Leben anders aufbauen würde …, aber leider, dies ist ausgeschlossen, niemand kommt von hier hinaus, alles ist zu Ende. Ich weiß, Du bist noch jung und Du musst Dich wieder verheiraten, ich lasse Dir freie Hand, ja ich empfehle Dir das sogar, denn ich möchte Euch nicht in Trauer gehüllt wissen, aber ich will auch Simone keinen Stiefvater geben. Versuche also, sie so bald wie möglich zu verheiraten, sie soll auf ihre höheren Studien verzichten, danach wirst Du frei sein.
Denke niemals daran, nach Polen zurückzukehren, auf diese für uns verfluchte Erde. Die Erde von Frankreich ist zu lieben und zu unterstützen (höchstens, wenn die Umstände Dich woandershin führen, aber niemals nach Polen).
[...] Wenn Ihr am Leben seid, so werdet Ihr nicht wenige Werke lesen, die aus Anlass dieses Sonderkommandos geschrieben sein werden. Aber ich bitte Euch, mich niemals schlecht zu beurteilen. Wenn es unter uns Gute und Schlechte gab, so war ich bestimmt nicht unter den Letzteren. Ohne Furcht vor Risiko und Gefahr tat ich in dieser Epoche alles, was in meiner Macht lag, um das Schicksal der Unglücklichen zu mildern, oder politisch das, wovon ich Euch über mein
Schicksal nicht schreiben kann, so dass mein Gewissen rein ist, und ich am Vorabend meines Todes stolz darauf sein kann.
[...] Mein Brief geht zu Ende, meine Stunden desgleichen, also richte ich mein unwiderruflich letztes Lebewohl an Euch; für immer, es ist der letzte Gruß, ich umarme Euch sehr innig zum letzten Mal und bitte Euch noch einmal, mir zu glauben, dass ich leicht von hinnen gehe, da ich Euch am Leben weiß und unseren Freund verloren. Es ist sogar möglich, dass Ihr durch die Geschichte des ‚Sonderkommandos‘ den genauen Tag meines Endes erfahrt, ich befinde mich in der letzten Mannschaft von 204 Personen, man liquidiert gerade das Krematorium II, wo ich in höchster Anspannung warte, und man spricht von unserer eigenen Liquidierung im Verlaufe dieser Woche.
Verzeiht mir meinen chaotischen Text sowie mein Französisch. Wenn ihr wüsstet, unter welchen Umständen ich schreibe. Es mögen mir auch alle Freunde verzeihen, die ich wegen Platzmangels nicht nenne und denen ich meine letzten Abschiedsgrüße sende, gleichzeitig sage ich ihnen, rächet Eure Brüder und Schwestern, die unschuldig auf dem Schafott gefallen sind. Adieu meine teure Frau und meine geliebte Simone, führt meine Wünsche aus und lebt in Frieden, Gott möge Euch beschützen.
Tausend Küsse von Eurem Gatten und Vater“1
Dieser Brief ist ein Beweis dafür, dass die Sonderkommando-Häftlinge selbst unter den Bedingungen von Auschwitz ihre Menschlichkeit bewahren konnten. Chaim Herman bringt zum Ausdruck, dass er weiter an seinen Grundwerten festhielt und Gefühle wie Nächstenliebe, Freundschaft, Mitleid und Lebenslust bewahrte. Der Verfasser des Briefes schrieb kurz vor seinem Tod an seine Familie. Anstatt in dieser Situation an sein eigenes Schicksal zu denken, sprach er seiner Familie gegenüber Mut und Hoffnung aus und dachte an seine Freunde und Mithäftlinge.
Der Brief wurde im Februar 1945 auf dem Gebiet von Krematorium III in Birkenau von dem Warschauer Medizinstudenten Andrzej Zaorski gefunden. Er war Teil einer medizinischen Delegation, die half, die ehemaligen Häftlinge zu pflegen, die in Auschwitz geblieben waren. Direkt neben den Krematoriumsruinen traf er auf eine Gruppe einheimischer Polen, die in der Asche der Ermordeten nach Wertgegenständen suchte. Nachdem die Meute
1 Jadwiga Bezwiska und Teresa Wiebocka, Hrsg., Inmitten des grauenvollen Verbrechens: Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, 2. Aufl. (Oświęcim: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1996), 259–265.
verschwunden war, näherte sich der Student der Asche und einer Glasflasche, in der er den Brief von Chaim Herman fand. Er war auf einigen gut erhaltenen Bögen karierten Papiers geschrieben. Auf dem äußersten Blatt, das einem Kuvert glich, stand die Adresse des polnischen Roten Kreuzes geschrieben. Erst im inneren Teil des Briefes war die Adresse der Empfänger in Frankreich vermerkt. Zaorski erinnert sich, dass ihm sofort klar war, wer den Brief geschrieben haben musste: Nur eine Person, die wusste, dass die Asche in den Fluss geschüttet wurde, konnte darin einen solchen Brief versteckt haben. Der junge Mann las den Brief und als er im März 1945 nach Warschau zurückkehrte, brachte er ihn dort zur französischen Botschaft. Die Flasche kam nie an ihren eigentlichen Bestimmungsort, blieb jedoch als wichtige Quelle und Andenken an einen ermordeten Sonderkommando-Häftling erhalten. Erst am 11. März 1971 machte Zaorski seine Aussage beim Jüdisch Historischen Institut in Warschau und erzählte, wie die Flasche mit Chaim Hermans Brief gefunden wurde.2
Für Wissenschaftler ist die Auseinandersetzung mit der Shoah nicht einfach. Trotz der Grausamkeit der deutschen Verbrechen müssen sie sich so detailliert wie möglich mit diesen auseinandersetzen, um die Rekonstruktion der Geschichte zu ermöglichen. Es wäre falsch, die Auseinandersetzung mit dem Massenmord in den deutschen Todesfabriken zu scheuen, da erst eine solche das Wesen des Nationalsozialismus erkennen lässt.
Die deutschen Mörder legten alles daran, die Beweise für ihre Taten zu beseitigen. Mit dieser Aufgabe wurde im Sommer 1942 die Spezialeinheit 1005 unter dem Kommando von Paul Blobel beauftragt, die dafür zuständig war, die Leichen der Ermordeten auszugraben und zu verbrennen. Bis zum letzten Moment waren die Mörder darum bemüht, alle Spuren des Massenmordes zu beseitigen.
Trotz dieser Versuche gelang es Häftlingen des Sonderkommandos, Berichte, Erzählungen, Briefe, Fotos und ähnliches für die Nachwelt zu bewahren.
Entweder gelang es, solche Zeugnisse auf riskantem Wege aus dem Lager zu schmuggeln oder sie wurden auf dem Lagergelände vergraben. Diese Dokumente und die Aussagen der Überlebenden sind unabdingbar, um die Geschichte der Vernichtungslager zu rekonstruieren. Sie dokumentieren nicht nur die Verbrechen der Deutschen, sondern vermitteln selbst heute noch die Gedanken und Gefühle von Menschen, die direkt mit dem Massenmord in Berührung kamen. Sie führen uns näher an ein Verständnis dessen, was uns heute unvorstellbar ist. Diese Arbeit stützt sich in erster Linie auf die Aussagen der ehemaligen Häftlinge des Sonderkommandos, um die
2 Vgl. Jadwiga Bezwiska und Teresa Wiebocka, Hrsg., Inmitten des grauenvollen Verbrechens, 255 f.
Geschichte des Sonderkommandos aus ihrer Perspektive zu erzählen.
Ohne die Aussagen der Überlebenden ließen sich die Bedingungen in den Vernichtungslagern nicht rekonstruieren. Die Versuche der Deutschen, ihre Verbrechen zu vertuschen, ließen ein dokumentarisches Vakuum entstehen, das nur mit den Erinnerungen der Überlebenden gefüllt werden kann. Selbst die Stimme eines einzigen Zeugen kann dabei helfen, die Geschichte zu rekonstruieren.3
Die Interviews, die für dieses Buch angefertigt wurden, sollen dazu beitragen, dass die Geschichte des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau nicht in Vergessenheit gerät. Die Verbrechen, die in den deutschen Todesfabriken begangen wurden, sind so unvorstellbar, dass wir auf die Aussagen der Überlebenden angewiesen sind: Nur sie können von den letzten Minuten im Leben der zum Tode Verurteilten berichten, können Auskunft darüber geben, wie sie aussahen, was sie sagten und welche Gefühle sie äußerten. In diesem Sinne sind die Überlebenden des Sonderkommandos die Hüter des Vermächtnisses der Ermordeten. Die Geschichtswissenschaft sollte – im Sinne der Oral History – dieses Vermächtnis nicht ignorieren, sondern für ihre Forschungen fruchtbar machen. Die Berichte der Überlebenden vermitteln ein eindrucksvolles Bild der Realität der Häftlinge und vermitteln zusätzlich zu den historischen Fakten – für deren Aufzeichnung sie selbstverständlich ebenfalls äußerst fruchtbar sind – ein Bild der Erlebniswelt derjenigen, die den Schrecken erleben mussten. Die Chance zu einem besseren Verständnis dessen ist es, die die Oral History liefert und die sich die Geschichtswissenschaft nicht entgehen lassen sollte – auch und besonders nicht in Bezug auf die Massenmorde in Auschwitz-Birkenau.
Die mündlichen Aussagen bieten eine andere Ebene der Geschichte an. Aspekte wie Gefühle, Zweifel, Gedanken, Hemmungen, der Alltag im Krematorium, Einzelheiten, Verhaltensmuster bestimmter SS-Männer – all dies findet nie, oder nur sehr begrenzt, ein Echo in Dokumenten. Nur die Aussage des Zeugen, der das Ereignis persönlich am eigenen Leib erfuhr, kann ein Licht auf die genannten Aspekte werfen. Deshalb kann es für die Oral History keinen Ersatz geben, was im Falle des Holocausts noch bedeutungsvoller ist. Die Oral History, zusammen mit der schriftlichen Dokumentation, gibt dem Historiker die Möglichkeit, ein authentisches, volleres Bild der Geschichte zu bauen und zu rekonstruieren.
3 Carlo Ginzburg, „Just One Witness.“ In Probing the Limits of Representation: Nazism and the „Final Solution“, hrsg. von Saul Friedländer, 82–96 (Cambridge, Massachusetts, London: Harvard University Press, 1992).
2. Die Entstehung des Sonderkommandos
Dieses Kapitel versucht, die Geschichte der Vorläufer des sogenannten Sonderkommandos zu rekonstruieren, die bis heute wenig bekannt ist. Anhand dieser wird gezeigt, dass die Massentötung in Auschwitz nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess mit vielen Akteuren war. Die Ausführung des Mordprozesses durchlief verschiedene Phasen, die auf eine organisatorische, technische und ökonomische Optimierung des Mordens hinauslief. Zunächst wurden einfache Mittel eingesetzt, die im weiteren Verlauf im Rahmen eines heuristischen Versuch-und-FehlerVerfahrens optimiert wurden, mit dem auf Probleme vor allem in Bezug auf Mordkapazitäten, Aufwand, Abwälzung der Taten auf Häftlinge bzw. wenige, subalterne SS-Mannschaften und -Hilfstruppen, Geheimhaltung, wirtschaftliche Nutzbarmachung reagiert wurde. Erst in diesem Prozess bildete sich jene Häftlingsgruppe heraus, die seit ihrem Einsatz in den neuen Krematorien von Birkenau als Sonderkommando bekannt war.
War der Massenmord in Auschwitz anfangs improvisiert, reagierte die SS früher oder später auf die Probleme, die sich ihr auftaten: Erschießungen belasteten die Täter, waren aufwendig und kostenintensiv und erregten Aufsehen; die ersten Gaskammern waren klein und unzugänglich, verfügten nicht über Abzüge, waren schlecht schallisoliert und unzureichend getarnt; die Krematoriumsöfen im Stammlager waren leistungsschwach, fielen aus und verzehrten viel Koks; zehntausende begrabener Leichen mussten exhumiert werden, weil sie Flüsse und Seen der Umgebung vergifteten etc.
Auschwitz kann als Labor gesehen werden, in dem zunächst mit Hilfe von Experimenten die „Endlösung“ auf den Weg gebracht wurde. Die SS vor Ort hatte unbegrenzten Spielraum für ihre mörderischen Ideen und Vorstellungen. Auftretende Schwierigkeiten wurden von ihr als Prüfstein und Ansporn angesehen. Als erst einmal Klarheit über das Ziel bestand, wurde wie in jedem modernen Unternehmen zielgerichtet versucht, mit einem begrenzten Aufwand ein maximales Ergebnis zu erzielen.
Die Täter vor Ort erhielten nun massiv logistische und materielle Unterstützung von höherer Stelle. Dieses Zusammenspiel befähigte sie schließlich im Frühjahr 1944, auf dem Höhepunkt von Willen und Möglichkeit zur Vernichtung, innerhalb von wenigen Wochen rund 500.000 Juden aus Ungarn zu ermorden.
Dieser dynamische Prozess spiegelt sich in der Geschichte der Sonderkommandos wider. Wie der gesamte Vernichtungskomplex Auschwitz, so waren auch die in diesem Buch behandelten jüdischen Sonderkommandos
aus den lokalen Möglichkeiten gewachsene Organisationen, die immer wieder Veränderungen unterworfen waren. Eine kleine Gruppe von etwa zehn Personen, die eher als „Aufräum-Kommando“ zu bezeichnen ist,102 wandelte sich zu einem Kommando, in dem bis zu 1.000 Häftlinge mit fest abgegrenzten Aufgabengebieten arbeiteten.
2.1 Die ersten Sonderkommandos
Der Begriff Sonderkommando bezeichnet streng genommen erst die mit der Inbetriebnahme der neuen Krematorien in Birkenau ab Frühjahr 1943 eingesetzten Häftlingskommandos. Als „frühes Sonderkommando“ beziehungsweise als „Vorläufer des Sonderkommandos“ werden im Folgenden alle Kommandos von fast ausschließlich Juden bezeichnet, die vor dem Frühjahr 1943 gezwungen wurden, den Empfang und die Entkleidung der Opfer zu begleiten und nach deren Ermordung durch die SS die Verwertung und Beseitigung der Leichen durch Verbrennen und Verscharren zu übernehmen: Dazu gehören das Fischl-Kommando, das Grubenkommando, das Begrabungskommando, das offene Sonderkommando, und das EnterdungsKommando. Erst ab September 1942 wurde einheitlich und offiziell vom Sonderkommando gesprochen, und erst ab März 1943, dem Zeitpunkt der Fertigstellung der neuen Krematorien in Birkenau, entstand ein kontinuierliches und einheitliches System des Arbeitsprozesses und der Arbeitsteilung. Zwischen diesen Kommandos gab es Unterschiede, die wesentlich in Abhängigkeit zur Genese der Massenvernichtung in Auschwitz standen. So unterschied sich das Sonderkommando zum einen in seinen Aufgaben:
Anfangs waren es Häftlinge, die mit keinen oder einfachen Hilfsmitteln für die Beseitigung der Leichen zu sorgen hatten. Mit der Effektivierung und Ökonomisierung der Massentötungen schuf die SS neue Einsatzorte und Aufgaben, die höhere Arbeitsteilung und Professionalisierung forderten und Verwertungsaufgaben immer zentraler machten. Damit aber wurde die Bedeutung der Häftlinge immer zentraler. Das Kommando wuchs, seine Existenzbedingungen wurden besser, aber auch prekärer. Denn das Sonderkommando wurde als Geheimnisträger erkannt und immer konsequenter isoliert.
In den frühen Sonderkommandos herrschte noch keine strikte und an Effektivität orientierte Arbeitsteilung. Die Häftlinge übten alle anfallenden Aufgaben aus, sie wechselten oft ihre Tätigkeit oder begleiteten den
102 Jadwiga Bezwińska et al., Auschwitz in den Augen der SS (Warschau: Wydawnictwo Interpress, 1992); Hg. von: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 122.