zur 5. Auflage
Wir haben unsere Erfahrungen in zahlreichen Seminaren an tausende Zuhörer weitergeben können. Zu den Referenten gehören Psychotherapeuten, Historiker und Theologen, deren Vorträge für viele zu einer wichtigen Hilfe geworden sind.
Die Anregung dazu gab dieses Buch, das auf dem christlichen Markt über viele Jahre ein Bestseller war und inzwischen in zwölf Sprachen übersetzt wurde. Ich freue mich, dass wir Ihnen das Buch in der fünften Auflage aktualisiert und überarbeitet vorlegen können.
Jobst Bittner
Inhalt
Vorwort von Dr. Michael L. Brown 17
Vorwort von Harald Eckert 21
Einleitung 25
Kapitel 1
Die Geschichte einer ehemaligen Nazi-Stadt 35
Kapitel 2
Woher kommt die Decke des Schweigens? 55
Der Besuch eines Hausgottesdienstes in der frühen Gemeinde 60
Ist Israel erwählt? 67
Warum hat die frühe Gemeinde ihre Vollmacht verloren? 73
Die tödliche Infektion 78
Kapitel 3
Die Decke des Schweigens 87
Die Decke des Schweigens im Licht der Bibel 87
Die Decke des Schweigens über Städten und Nationen 97
Die Decke des Schweigens über Gemeinden 103
Die Decke des Schweigens über Ehen und Familien 106
Die Decke des Schweigens durch Vorfahrenschuld 110
Die Decke des Schweigens über Ihrem persönlichen Leben 120
Kapitel 8
Vorwort von Dr. Michael L. Brown
Dieses Buch konnte nur von einem deutschen Pastor und einem geistlichen Pionier mit solidem theologischem Fundament, einer tiefen Liebe zum Heiligen Geist und einer lebenslangen Hingabe an Israel geschrieben werden. Jobst Bittner ist ein solcher Mann. Er studierte unter dem bedeutenden, inzwischen verstorbenen Professor Martin Hengel, bekannt für seine Arbeit über Judaismus und Hellenismus, und so verfügt er über ein fundiertes Verständnis der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens, die ein wesentliches Thema dieses Buches darstellen. Als Pastor, der glaubt, dass es an der Zeit ist, das Evangelium wieder auf die Straße zu tragen, redet und handelt er, indem er seinem Glauben Füße verleiht und seinen Worten lebendige und öffentliche Taten folgen lässt. Er weiß, dass es einzig und allein die Kraft des Heiligen Geistes ist, die Gefangene wirklich frei machen und gebrochene Herzen heilen kann. Als jemand, der für die Hingabe an Israel und die Errettung des jüdischen Volkes steht, weiß er schließlich das schmerzliche Erbe der Gemeinde Jesu in Deutschland richtig einzuschätzen und schaut dabei dennoch voller Zuversicht nach vorne.
Auch andere christliche Leiter aus Deutschland haben sich bereits mit der Decke des Schweigens auseinandergesetzt, die während der Schicksalsjahre des Holocaust über der Gemeinde lag. Unter ihnen war Basilea (früher Dr. Klara) Schlink, Gründerin der evangelischen Marienschwesternschaft. Unter großer Herzensqual schrieb sie im Jahr 1958:
„Wir Deutschen sind es gewesen, die Satans Handlanger waren; in unserem Volk hat man diese Hölle erbaut ... Wir sind selbst schuldig geworden. Wir müssen uns alle sagen: Wären wir, die ganze christliche Gemeinde, wie ein Mann aufgestanden und hätten nach dem Geschehen des Synagogenbrandes Umzüge gemacht und alle Glocken geläutet und irgendwie das Vorgehen der SS boykottiert, wir hätten wohl nicht den Teufelshänden so freie Bahn gegeben, weiter ihr Handwerk zu treiben. Aber uns fehlte die Glut der Liebe – der Liebe, die immer Wege weiß, die es nicht ertragen kann, wenn es dem anderen schlecht geht, wenn er so grauenvoll behandelt und zu Tode gemartert wird. Ja, hätten wir in der Liebe zu Gott gestanden, dann hätten wir es nicht ertragen können, dass Seine Häuser in Flammen gesetzt wurden, und heiliger, göttlicher Zorn hätte uns erfüllt.“ (M. Basilea Schlink, Israel, Mein Volk, Darmstadt-Eberstadt 1959, S. 47 und 51-52)
Mittlerweile leben wir in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts und Jobst Bittner beschreibt, wie die – sehr vielschichtige – Decke des Schweigens auch heute noch über der älteren und jüngeren Generation liegt. Diese Decke muss durch stellvertretende Buße und ein positives öffentliches Bekenntnis zerbrochen werden.
Jemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, könnte entgegnen: „Müssen wir denn ewig über die Sünden früherer Generationen Buße tun? Ist das überhaupt unsere Aufgabe?”
Diese Fragen sind bedenkenswert und durchaus berechtigt. Meiner Meinung nach ist eine solche Buße jedoch notwendig, wenn zum einen die Wunden der Sünden der Vergangenheit noch da sind, was beim Thema dieses Buches mit Sicherheit der Fall ist; und wenn zum andern die Samen der Sünden der Vergangenheit noch vorhanden sind – und auch das kann man heutzutage nicht leugnen.
Das vorliegende Buch ist sicherlich nicht nur ein weiteres Buch über deutsche Christen und den Holocaust – ganz sicher nicht. Es ist der Ruf, tiefer zu graben und jeden zerstörerischen und schmerzlichen Überrest auszugraben und herauszureißen, um dann Heilung, Freiheit und Leben empfangen zu können. Es stellt einen sehr konkreten Aufruf zu einem buchstäblichen Marsch des Lebens dar, der Jesus erhebt und deutlich zeigt, was es wirklich bedeutet, sein Jünger zu sein.
Als jüdischer Nachfolger Jesu, der selbst in der Schuld nichtjüdischer Christen steht, die mich vor 40 Jahren mit dem Messias und Herrn Israels bekannt gemacht und mich zu ihm geführt haben, empfehle ich Ihnen dieses Buch.
Vorwort von Harald Eckert
Vor über 78 Jahren ging der Zweite Weltkrieg – und mit ihm der Holocaust – zu Ende. Nun, fast drei Generationen später, erscheint in Deutschland ein christliches Buch über die „Decke des Schweigens“ in engem Zusammenhang mit dem Holocaustgeschehen. Ist dies nicht ein Nachhutgefecht? Mindestens 30 Jahre zu spät dran? Ich behaupte: Nein – ganz im Gegenteil! Dieses Buch, wie auch der Dienst von Jobst Bittner und der TOS in Tübingen und in vielen Teilen der Welt, hat absoluten Pioniercharakter und eröffnet – gerade für christliche Kreise – ein Thema, das aktueller ist denn je.
Wie komme ich zu dieser Behauptung? Ich beschränke mich auf drei aus meiner Sicht sehr offensichtliche und naheliegende Gründe:
Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg grassierte die Unkenntnis über den Holocaust beziehungsweise über dessen Minimierung, Verharmlosung und krasse Leugnung so sehr wie heute – auch in Deutschland. Wenn – wie eine Umfrage der Universität Wiesbaden vom November 2004 zu Tage brachte – über 50 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass die Israelis den Palästinensern heute das gleiche antun, wie es Nazideutschland den Juden damals angetan hat, dann zeugt dies von einer epidemischen Unkenntnis, sowohl über den Holocaust als auch über den Nahostkonflikt. Und wenn schon in Deutschland die Geschichtskenntnis und die öffentliche Wahrnehmung derart verzerrt ist, wie sieht es dann erst in an-
deren Ländern der westlichen Welt, der Dritten Welt und – ganz zu schweigen – in der moslemischen Welt aus? Und noch ein wenig zugespitzter gefragt: Wenn diese Umfrage nur in frommen Kreisen abgehalten worden wäre, wie wäre das Ergebnis dann bei „uns“ ausgefallen? Wie sicher können wir sein, dass das Ergebnis substanziell besser ausgefallen wäre? Ohne das von Jobst Bittner beschriebene Phänomen der Decke des Schweigens in Kirche und Gesellschaft wären solche aktuellen Umfrageergebnisse und Trends nicht erklärbar.
Das Volk der Juden – in Gestalt des modernen Staates Israel – ist seit seiner Gründung von einem nächsten Holocaust bedroht: Der völligen Vernichtung durch antisemitische, hasserfüllte, extrem gewaltbereite Kräfte. Der Bau der Atombombe durch den Iran gibt dieser Bedrohung, militärisch gesprochen, eine neue Dimension. Es ist auch kein Zufall, dass sich der Iran gleichzeitig sowohl mit seinem atomaren Vernichtungsplan gegen Israel als auch mit seiner aggressiven Holocaustleugnung an die globale Spitze beider Bestrebungen setzt. In verändertem Gewand scheint sich Geschichte zu wiederholen. Und was haben wir Christen, zumal aus Deutschland, aus der Geschichte gelernt? Die richtige Frage lautet nicht (mehr): „Was hätte ich damals getan?“ Die richtige Frage lautet: „Was tue ich heute?“
Die Kraft, auf diese Frage eine biblisch, geistlich und historisch angemessene Antwort zu finden, hat sehr viel mit unserer persönlichen und kollektiven Aufarbeitung und Buße im Licht der Heiligen Schrift sowie im Licht des Heiligen Geistes zu tun und damit, wie wir der Kraft des Kreuzes Jesu im Umgang mit Vergangenheits- und Vorfahrenschuld Raum geben.
Wir leben heute in einem außerordentlichen, ja einzigartigen Zeitfenster, was das Durchbrechen der Decke des Schweigens betrifft.
Ein Zeitfenster, das nur noch wenige Jahre anhält. Ein Zeitfenster, das – wenn einmal versäumt und verloren – so niemals wiederkehren wird: Das Zeitfenster der noch lebenden Zeitzeugen des Holocaust. 240.000 von ihnen leben noch unter uns – etwa 150.000 davon allein in Israel. Von unseren Begegnungsreisen mit jungen Christen wissen wir, dass die deutliche Mehrheit von ihnen mit großer Dankbarkeit reagiert, wenn Christen aus Deutschland – insbesondere junge Menschen – nach Israel kommen, um den persönlichen Kontakt zu ihnen zu suchen, um ihre Geschichte zu hören, um ihnen die Gelegenheit zu geben, glauben zu können, dass Christen, dass Deutsche, dass Deutschland heute anders ist als damals, in deren Kindheit und Jugend. Gerade für Holocaustüberlebende aus der ehemaligen Sowjetunion ist das oft die erste und vielleicht einzige Erfahrung dieser Art. Und für viele – gerade junge – Christen wahrscheinlich auch. Dabei ist jede Begegnung wie ein Laserstrahl, der die Decke des Schweigens, der inneren Distanz und Gleichgültigkeit durchbohrt, die junge Menschen oft unbewusst übergestülpt bekommen und übernommen haben.
Allein diese drei Beobachtungen machen deutlich, wie hocha ktuell, wie hochbedeutsam dieses Buch ist – gerade für christliche Leser. Für „uns“, die wir gerufen sind, in einer Welt, in der die Liebe immer mehr erkaltet (Mt 24,12) – auch die „Liebe zur Wahrheit“ (2.Thess 2,10) – „Salz und Licht“ zu sein und ein prophetisches Volk inmitten einer zunehmend orientierungslosen und entwurzelten Gesellschaft.
Die Frage nach Israel, die biblische und geistliche Beauftragung der Christen in und für Deutschland und dessen Beziehung zu Israel beschäftigen mich seit Jahrzehnten. Als Teenager, kurz nach meiner Hinwendung zu Jesus, traf mich in diesem Zusammenhang ein
Wort aus der Schrift wie ein Hammer – und hat mich seitdem nicht mehr losgelassen: „Wo Sünde mächtig geworden ist, möchte sich die Gnade Gottes umso mehr erweisen“ (Röm 5,20b). Diese Verheißung gilt auch – und gerade in Deutschland – für die Sünde des Antisemitismus und des Judenhasses, und zwar auf allen Ebenen: im persönlichen Leben, in der Familie, in der Gemeinde, über Städten, Regionen und Nationen. Im Umkehrschluss heißt dies: Gott möchte segnen, er liebt Versöhnung und Erlösung. Dafür ist Jesus ans Kreuz gegangen. Dafür steht die Kraft des Heiligen Geistes zur Verfügung. Davon legt dieses Buch auf höchst eindrucksvolle und bewegende Weise Zeugnis ab. Diese lebendige Hoffnung, bestärkt durch zahlreiche tiefe Erfahrungen, verbindet mich mit Jobst Bittner und der TOS seit vielen Jahren.
In diesem Sinne wünsche ich diesem mutigen und wegweisenden Buch viele Leser, die durch die Lektüre so tief berührt werden, dass sie ihrerseits in wachsendem Maße zu Wegweisern werden. Wegweiser dahingehend, welch großartige Erfahrung es ist, die „Decke des Schweigens“ zu durchbrechen und lebendige Zeugen der versöhnenden und erlösenden Kraft Jesu zu sein – in einer Zeit und Gesellschaft, die dies so dringend benötigt.
Einleitung
Die Entstehung dieses Buches zog sich über einige Jahre hin. Je mehr ich mich mit der „Decke des Schweigens“ beschäftigte, desto mehr entdeckte ich, wie sehr jeder Bereich unseres Lebens damit verbunden ist. Immer mehr Erfahrungen und Erkenntnisse fügten sich hinzu. Jetzt kann ich das fertige Buch vorlegen und hoffe, dass es Ihnen hilft, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Sehr wahrscheinlich sind Sie mehr von der „Decke des Schweigens“ betroffen, als Sie es bisher wahrgenommen haben.
Wir leben unter einer Decke des Schweigens und merken es meistens nicht. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben und verhindert Versöhnung, Heilung und Wiederherstellung.
Steckt das Schweigen der Kriegsgeneration zum Holocaust immer noch in unseren Knochen? Die Vernichtung der europäischen Juden hatte im deutschen Familiengedächtnis leider nie wirklich einen Platz. Erst in den frühen 80er Jahren wurden in Deutschland die Spätfolgen des Kriegs bei den nachkommenden Generationen entdeckt. Die meisten Familien in Deutschland leben bis heute unter einem Schatten der Vergangenheit.
Ich möchte versuchen, ein Phänomen zu beschreiben, das zwar unterschiedliche Hintergründe und Ursachen hat, aber dennoch für die Folgegenerationen der deutschen Kriegsgeneration und der Holocaustgeneration gleichermaßen gilt. Die Nachkommen beider
Generationen entdecken nur langsam, wie sehr sie die Bürde ihrer Familiengeschichte mit sich getragen haben. Allmählich lernen sie, darüber zu sprechen und sorgen dafür, dass die Geschichte ihrer Familie ans Licht kommt und bearbeitet werden kann. So sehr sich auch in Deutschland viele Christen in Kirchen und Gemeinden wünschen, dass das Kapitel des Nationalsozialismus endlich abgeschlossen wird und nicht immer wieder neu ins Blickfeld gerät, so wenig entspricht dies der Realität. Beide, die Opfer- und die Tätergeneration, leiden immer noch an dem Erbe ihrer Vergangenheit und werden nur Heilung und Wiederherstellung erleben können, wenn sie einander wahrnehmen, sich vergeben und versöhnt zueinander finden. Das kann nur passieren, wenn eine Decke des Schweigens über ihnen zerbricht. Ausgehend von den eigenen biografischen Erfahrungen in Tübingen, einer Universitätsstadt, die zur Zeit des Nationalsozialismus eines der ideologischen Zentren war, aus dem Exekutoren und Massenmörder hervorgingen, werde ich versuchen, aus biblisch-theologischer, kirchengeschichtlicher und psychologischer Sicht zu beleuchten, woher die Decke des Schweigens kommt und wie sie zerbrochen werden kann.
DIE FAMILIÄRE EBENE
Ich werde mich in diesem Buch mit der Decke des Schweigens auf unterschiedlichen Ebenen beschäftigen. Am persönlichsten betrifft uns sicher die familiäre Ebene. Mehr als drei Viertel aller deutschen Familien haben damit zu tun. Sie sind die Kinder und Enkel der Kriegsgeneration und tragen die schuldhaften Verstrickungen, traumatischen Erfahrungen sowie die Flucht und Vertreibung dieser Generation heute noch mit sich herum. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist das Schweigen. Viele gehen durch endlose Wüsten, ohne
dass sich für sie eine Veränderung abzeichnet. Sie haben sich mit seelischen Verstimmungen, Ängsten, Blockaden, Bindungsstörungen und innerer Starre abgefunden, ohne deren Ursache gefunden und die befreiende Macht des Kreuzes wirklich kennengelernt zu haben. Wird das Schweigen der Generationen gebrochen und werden die unerzählten Geschichten erzählt, eröffnet das völlig neue Möglichkeiten, inneren Frieden, Sicherheit und Heilung finden zu können.
Viele Christen in Kirchen und Gemeinden verpassen eine ganz wichtige Entwicklung, die in der Gesellschaft schon längst zum „Trend“ geworden ist. Sie sind der Überzeugung, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit längst geschehen sei. Man solle endlich seinen Schuldkomplex hinter sich lassen und nach vorne schauen. Erstaunlicherweise hat sich aber in der Öffentlichkeit die Aufarbeitung des Nationalsozialismus noch intensiviert. Die Genealogie, also die Erforschung der Familiengeschichte, boomt seit Jahren. Ahnenforschung ist nicht mehr der schrullige Zeitvertreib von Rentnern und Adligen, sondern gilt als Ausdruck eines gewachsenen Bedürfnisses nach innerer Verwurzelung und Identität. Die Grundlage jeder Veränderung ist die ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ich hatte mich selbst jahrelang dagegen gewehrt und musste meinen inneren Widerstand aufgeben. Das geschah in einem Gottesdienst, in dem ich das Vorrecht hatte, vor zahlreichen Holocaustüberlebenden zu predigen. Ich erlebte dort eine völlig andere Realität. Meine deutsche Sprache rief bei vielen schmerzliche Erinnerungen hervor und Gespenster der Vergangenheit standen wieder auf. Nach einer Zeit der Heilung und Versöhnung erzählten sie mir von den Ängsten und Traumata, die sich von ihren Eltern und Großeltern auf sie weitervererbt hatten. Millionen der zweiten und dritten Generation von Holocaustnachkommen leiden immer noch an den Folgen. Eigentümlicherweise sind sie in einer ähnlichen
Sprachlosigkeit gefangen wie die Nachkommen der Tätergeneration. Solange die Opfer- und die Tätergeneration noch immer unter dem Erbe der Vergangenheit leiden, dürfen Christen ihre Verantwortung nicht als beendet erklären.
DIE HISTORISCHE EBENE
Eine andere Ebene der Decke des Schweigens ist die geschichtliche. Mit dem Neuaufbau Deutschlands nach 1945 begann der mühsame Prozess der Aufarbeitung. Nazitäter versuchten unterzutauchen, was ihnen zum großen Teil auch gelang; Mitläufer und Mitwisser flohen in das Schweigen des Alltags und versuchten, die Vergangenheit zu verdrängen. Erst 20 Jahre später begann die Decke des Schweigens langsam durchlässig zu werden. Angesichts der sechs Millionen Juden, die im Holocaust auf grausamste Art ermordet wurden, und des strategisch geplanten und akribisch durchgeführten Massenmordes an 30 Millionen Menschen in Osteuropa stellte man sich die Frage, ob es für die Deutschen zulässig ist, sich hinter der Schuld einiger fanatischer Einzeltäter zu verstecken. Hinter dem Schweigen verbarg sich eine kollektive moralische Schuld, eine Verantwortung der schweigenden Mehrheit, die dem mörderischen Treiben zuschaute und tatenlos gegenüberstand. Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten eine beispiellose Zeit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hinter sich. Auf unzähligen Konferenzen wurde Deutschlands Vergangenheit thematisiert und darüber Buße getan. Mit dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung hatte der Herr unser Land sichtbar geheilt. Und auch weiterhin vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht Berichte, Aufklärung und auch Diskussionen über den Holocaust und andere Kriegsverbrechen gibt. Holocaustleugner werden strafrechtlich
verfolgt. Jährliche Regierungskonsultationen zwischen Israel und Deutschland sind ein Zeugnis der freundschaftlichen Verbundenheit. Eine große Zahl an Kirchen und Gemeinden stehen in einem lebendigen Kontakt zu Israel.
DIE KIRCHENGESCHICHTLICHE EBENE
Und dennoch ist die Decke des Schweigens noch nicht verschwunden. Es gibt einen tief verwurzelten Antisemitismus, der weit hinter die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht. Er ist wie eine negative Saat in unserer westlichen Kultur verborgen und in unser Denken eingepflanzt, sodass er immer wieder aufbrechen kann.
Sei es gegenüber der Relativierung des Holocaust, der Leugnung des Existenzrechts Israels oder den antijüdischen Haltungen und Einstellungen – das gemeinsame Kennzeichen dieser negativen Saat ist das Schweigen. Es ist das gleiche Schweigen wie das der schweigenden Mehrheit zur Zeit des Nationalsozialismus. In Form von Gleichgültigkeit und Passivität ist es tief in unsere Gemeinden eingedrungen. Beides sind Kennzeichen eines „genetischen Defekts“, den das Christentum seit der Trennung von seinen jüdischen Wurzeln in sich trägt. Um diese These zu erhärten, werden wir uns mit der kirchengeschichtlichen Dimension der Decke des Schweigens beschäftigen. Dabei geht es um die Frage, warum die Kirche in der westlichen Welt ihre Vollmacht verloren hat. Die frühe Kirche konnte sich, trotz der Widerstände eines hellenistisch geprägten Mittelmeerraums, sehr schnell ausbreiten. Mit dem Verlust ihrer jüdischen Wurzeln tauschte sie ihre geistliche Kraft gegen weltliche Autorität ein und wurde schließlich zum Verursacher der jahrhundertelangen Leidensgeschichte des jüdischen Volkes. Warum wir die Vollmacht der Gemeinde nur mit dem klaren Bekenntnis zur Schuld der Chris-