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I

W o das Glück zu

finden ist

»Alle Menschen wollen glücklich sein.«

Seit es Menschen gibt, haben sie danach gefragt, was Glück ausmacht und wie man das Glück findet. Die Frage nach dem Glück stand schon am Anfang der Philosophiegeschichte und sie bewegt die Menschen bis heute oder heute wieder von Neuem.

Um dem Glück auf die Spur zu kommen, möchte ich auf ein Märchen zurückgreifen. In der Welt der Märchen spielt häufig Gold eine Rolle und häufig ist ein goldener Gegenstand, nach dem jemand auf die Suche geht, ein Bild für das Glück, für das Kostbare und Wertvolle, das der Mensch im Leben erstrebt. Dieses Glück ist nicht von vornherein gegeben. Man muss sich aufmachen, um es zu suchen und zu erringen.

Im Märchen »Der goldene Vogel« lernt der jüngste Sohn durch den Fuchs, den er freundlich behandelt hat, die Geheimnisse des Menschen kennen. Er findet den goldenen Vogel, das

goldene Pferd und die goldene Königstochter. Doch dreimal gerät er in große Bedrängnis, weil er dem Rat des Fuchses nicht folgt, sondern seinem eigenen Empfinden. Er sollte den goldenen Vogel im schäbigen Holzkäfig lassen und nicht in den goldenen Käfig stecken. Er sollte dem goldenen Pferd den alten Sattel auflegen und nicht den goldenen. Und er sollte die Jungfrau mit sich nehmen, ohne dass sie Abschied von ihren Eltern nimmt. Doch der Königssohn denkt immer, das gehe doch nicht.

Die Weisheit dieses Märchens liegt darin, dass das Gold, das Wertvolle, das, was uns Glück ermöglicht, eben mitten im Gewöhnlichen zu finden ist. Wenn ich alles vergolden möchte, dann folge ich meinen Illusionen. Und ich gerate in Bedrängnis und werde scheitern. Die Weisheit will uns lehren, dass wir mitten im Alltag das Gold, das Glück unseres Lebens suchen sollen und nicht in einer heilen Welt.

Vielen Menschen geht es schlecht, weil das Leben ihre Vorstellungen, die sie sich vom Leben gemacht haben, nicht erfüllt. Sie hängen ihren Wunschvorstellungen und Illusionen nach. Die Kunst des Glücklichseins besteht aber darin, mitten in der Realität meines Lebens das Gold zu suchen, das Wertvolle, das Glänzende, das, was mich glücklich sein lässt. Wie soll das gehen?

Dazu kann es helfen, das Leben so zu betrachten, wie es ist: die Arbeit mit den täglichen Problemen; die Partnerschaft mit ihrem Auf und Ab, mit den Krisen und Konflikten; die

Familie, die Beziehung zu den Eltern. Sicher findet sich in diesen Bereichen vieles, was nicht ideal ist, worunter man leidet und was dem Glücklichsein vermeintlich im Weg steht. Das Gold darin zu suchen, heißt nun nicht, alles zu vergolden, um das Schmerzliche der Situation zu überspringen. Es meint vielmehr: Schau dein Leben an und sage dir: Ja, es ist nicht alles so gekommen, wie ich mir das vorgestellt oder wie ich es mir erträumt habe. Aber mitten in diesem hölzernen

Käfig meines Alltags ist der goldene Vogel verborgen. Dieser goldene Vogel verleiht meiner Seele Flügel. Ich kann mir mitten in dieser Enge meine eigenen Gedanken machen. Ich kann über das Geheimnis des Lebens nachdenken, über die Abgründe der menschlichen Seele. Ich kann mich über diese Alltagswelt hinwegheben, ohne vor ihr zu fliehen. Ich bleibe in dem hölzernen Käfig meines Lebens und habe doch goldene Flügel bekommen.

Wir können also versuchen, unser Leben mit den Augen des goldenen Vogels anzuschauen. Dann werden wir immer wieder unerwartete Türen zum Glück finden – mitten in allem, was unseren Alltag ausmacht.

Im Folgenden möchte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, einige dieser »Türen zum Glück« vorstellen – Sie müssen dann nur noch den Mut haben, hindurchzugehen.

Ihr

P. Anselm Grün

Loslassen und annehmen

Wir meinen oft, dass wir weniger werden, wenn wir unsere Arbeit, unsere Kraft, unsere Aufgaben, unsere Bedeutung loslassen. Der Taoismus kennt eine Parabel, die uns zeigt, dass gerade dann, wenn aller äußere Wert losgelassen worden ist, der eigentliche Wert des Menschen zum Vorschein kommt. Sie erzählt von einem Zimmermann und seinem Lehrling, der eine gewaltige, sehr alte und knorrige Eiche erblickte und darüber staunte: Der Zimmermann sagte zu seinem Lehrling: »Weißt du, warum dieser Baum so gewaltig und so alt ist?« Der Lehrling sagte: »Nein. Warum?« Da antwortete der Zimmermann: »Weil er unnütz ist. Wenn er nützlich wäre, wäre er schon lange gefällt, zersägt und zur Herstellung von Betten und Tischen verwendet worden. Weil er aber unnütz ist, hat man ihn wachsen lassen. Deshalb ist er nun so groß, dass man in seinem Schatten ausruhen kann.« Weil der Wert des Baumes nur darin lag, Baum zu sein, konnte er frei dem Licht entgegenwachsen – und so wurde er zu einem Baum, der viele Menschen einlud, sich in seinem Schatten auszuruhen.

Wenn wir unseren äußeren Wert loslassen, dann erfahren wir, dass unser wahrer Wert darin besteht, einfach Mensch zu sein. Und dann wird unser Leben fruchtbar. Andere werden kommen, um bei uns auszuruhen. Sie spüren, dass wir nichts mehr wollen, sondern dass wir einfach nur da sind.

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