

Claudia Dahinden Die Uhrmacherin
TAGE VOLLER GEHEIMNISSE
Roman
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Penguin Random House Verlagsgruppe FSC® N001967
3. Auflage
Copyright © 2023 der Originalausgabe by Claudia Dahinden Copyright © 2023 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München produktsicherheit@penguinrandomhouse.de (Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schmidt. Redaktion: Susann Harring Umschlaggestaltung: bürosüd Umschlagabbildungen: Joanna Czogala / Arcangel, www.buerosued.de
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-328-11076-7
www.penguin-verlag.de
Für meine Schwester Bettina Müller, die mir den Weg zum »Herrn der Dinge« geebnet hat.
Love you, Sis!
Der Lächema
Dr Bättler het kei Gäld und Guet Und doch e frohe, freie Muet; Und muess er zletscht i d’Heimet goh, So frogt er au nit vil drnoh Und seit: »Das macht mir währli nüt, Mir sy halt numme Lächelüt.«
Dr Buur schafft Wuchen us und y Er meint, es chönn nit angersch sy Füllt Hüüser und füllt Spycher a, Und isch drby ne plogte Ma; Doch wart, au du muesch no drvo, Du hesch dy Sach bloss z’läche gno.
Dr Herr isch fryli besser dra, Er will halt syni Zinse ha; Er isst und trinkt und pflägt sy Lyb, Het was er will zum Zytvertryb; So läbt er furt und dänkt nit dra, Au er syg numme Lächema.
Dr Fürst, mit Szepter und mit Chron, Sitzt ruehig uf sym weiche Tron, Het Städt und Länder wyt und breit Und glaubt, er heig’s uff d’Ebigkeit; Het Gäld und läbt i Suus und Bruus, Doch goht au ihm sys Lächen uus.
Vom Chaiser bis zum Bättlerma Wird niemer do Verblybe ha. Es Wägli füert dr Heimet zue, Und ’n ieders Härz fingt dört sy Rue. Läb fromm und rächt und merk my Düt: Mir all sy numme Lächelüt!
Franz Josef Schild, Grenchner Arzt und Volksdichter
Der Lehensmann
Der Bettler hat kein Geld und Gut Und doch ein’ frohen, freien Mut Und muss er zletzt in d’Heimat gahn So frägt er auch nit viel dernahn Und sagt: »Das macht mir wahrlich nüt, Wir sind halt nurmals Lehenslüt.«
Der Baur schafft Wochen aus und ein Er meint, es könnt nit anders sein Füllt Häuser und füllt Speicher an, Und ist dabei ein plagter Mann, Doch wart, auch du musst noch davon Du hast Dein Sach nur z Lehen gnomm.
Der Herr ist freilich besser dran, Er will halt seine Zinsen han, Er isst und trinkt und pflegt syn Leib, Hat was er will zum Zeitvertreib, So lebt er fort und denkt nit dran, Auch er sei nurmals Lehensmann.
Der Fürst, mit Zepter und mit Kron, Sitzt ruhig auf sym weichen Thron, Hat Städt’ und Länder wyt und breit, Und glaubt, er hab’s auf d Ewigkeit; Hat Geld und lebt in Saus und Braus, Doch geht auch ihm syn Lehen aus.
Vom Kaiser bis zum Bettelmann Wird niemand da Verbleiben han. Ein Weglein führt der Heimat zu, Und jedes Herz findt dort syn Ruh Leb fromm und recht und merk mein Deut: Wir all’ sind nurmals Lehensleut.
Im Glossar ab S. 443 finden sich Erklärungen zu den verwendeten Schweizer Ausdrücken sowie Begriffen aus der Uhrenindustrie.
1Im Bemühen, sich die Vorfreude auf den sicheren Triumph nicht anmerken zu lassen, griff Sarah nach ihrem Läufer und kassierte frohlockend Gideons Schimmel. Das blütenweiße Ross hatte sich auch so verführerisch von seinem schwarzen Quader abgehoben! Wie immer hatte Gideon als Hüter des Gesetzes die Farbe des Lichts für sich beansprucht; die einzig richtige Wahl, wie er zu betonen pflegte. Zum Glück war er daran gewöhnt, dass Weiß nicht immer den Sieg davontrug.
Durch das offene Fenster drangen Getrampel und Kinderlachen. Erstmals in diesem Frühling war es richtig warm, und die Kinder, die über die langen Wintermonate nach Sonne und Wärme gehungert hatten, spielten fröhlich Fangen auf den Straßen. Ein leichter Wind trug den Duft von Kuchen und Kaffee ins Esszimmer, und die Frühlingssonne warf helle Flecken auf das schwarz-weiße Brett und die reichlichen Opfer von Sarahs Attacken auf Gideons Krieger des Lichts.
Zufrieden stellte sie das erstrittene Ross in ihre kleine Sammlung und blickte auffordernd zu Gideon, doch seine
Miene verriet nichts. Gelassenheit lag darin und ein Hauch froher Erwartung. Aber er war auf dem Holzweg, wenn er glaubte …
Gideon griff nach seinem Turm, der – und nun erkannte sie das Problem – plötzlich frei stand, weil sie ihren Läufer verschoben hatte, zog ihn über das Brett und direkt auf ihre Königin zu. Sarah entfuhr ein erstickter Ausruf, und ihre Hand schnellte nach vorn.
»Zu spät, meine Liebe.«
Erbarmungslos schnappte er sich ihre Königin, lehnte sich zurück und schenkte ihr ein maliziöses Lächeln, das ihre siegesgewohnte Seele bis ins Mark traf.
»Das glaube ich nicht!«
»Ich auch nicht, aber wie heißt es so schön? ›Auch ein blindes Huhn …‹«
»In diesem Fall ein Gockel. Aber freu dich nicht zu früh; so schnell gebe ich nicht auf.«
Entschlossen beugte Sarah sich wieder über das Brett. Die Schlacht wogte erneut, doch ihren verbissenen Bemühungen zum Trotz war der Verlust der Königin kaum wettzumachen. Die Kontrolle über das Spiel war ihr entglitten, und Gideon dachte gar nicht daran, sich den erstrittenen Vorteil wieder nehmen zu lassen. Nach einer weiteren Viertelstunde war der Kampf vorbei und Sarah geschlagen.
Mit einem Seufzen erhob sie sich. »Lass uns Kaffee trinken, nicht zu vergessen: Kuchen essen! Ich brauche mindestens zwei Stück, um diese Schmach zu verkraften.«
»Du tust so, als sei es besonders demütigend, gegen mich zu verlieren«, erwiderte Gideon. »Ich hoffe, dir ist klar, dass ich
das als persönlichen Affront und Beleidigung eines Landjägers ansehe.«
Bemüht ernst blickte er sie an, aber seine Mundwinkel zuckten.
»Das ist es in der Tat. Allerdings empfinde ich es als größere Schmach, dass ich dumm genug war, mich von deinem aufreizend zur Schau gestellten Gaul hinreißen zu lassen. Ich hätte wissen müssen, dass du mit deiner schwierigen Beziehung zu diesen Tieren ohne viel Aufhebens eins von ihnen opfern würdest.«
»Um an eine Königin zu kommen, würde ich einiges mehr opfern. Aber genug davon; ich freue mich auf den Siegestrunk!«
Sie begaben sich ins Wohnzimmer, wo Rosa erwartungsvoll in ihrem Fauteuil saß und den Blick von Sarah zu Gideon gleiten ließ.
»Ich brauche nicht zu fragen, wer gewonnen hat. Sarahs Miene spricht Bände! Hier, Kind, nimm ein Stück Kuchen.«
Sarah griff nach dem großzügig bemessenen Stück Marmorgugelhopf und setzte sich auf das Sofa, während Gideon sich in den gegenüberliegenden Sessel fallen ließ.
»Einen Träsch zum Sieg, Herr Korporal?«, fragte Sarah trocken.
»Nein, danke, der Sieg ist berauschend genug.« Gideon hob die Tasse, die Rosa ihm hingestellt hatte.
Auch Sarah griff nach ihrer Tasse. »Wie war die Woche für die Landjägerei?«
»Ich sehe, du willst das Thema wechseln und von deiner Niederlage ablenken. So sei es denn: Sie war beruhigend langweilig.«
»›Beruhigend langweilig?‹ Das sind ganz neue Töne.«
»Die letzten paar Monate waren aufregend genug«, entgegnete Gideon kurz.
»Du hast recht«, antworte Sarah rasch. Ein Anflug schlechten Gewissens und Ärger über sich selbst stiegen in ihr hoch. Manchmal redete sie, ohne nachzudenken. Auch sie war froh, dass nach den Angelegenheiten auf Breidenstein Ruhe eingekehrt war, und bei Gideon hatte der Fall tiefe Wunden hinterlassen.
»In der Werkstatt ist es recht ruhig«, fuhr sie fort. »Lehrmeister Flury hält sich mit neuen Aufgaben vor unserer Stage in Luzern zurück.«
»Wann reist du ab?«
»Nächsten Samstag. Ich freue mich sehr auf Uhrmacher Wernli und auf das, was wir von ihm lernen können!«
»Und auf Luzern, nehme ich an. Du hast nicht oft Gelegenheit, nach Hause zu fahren.«
»Mein Zuhause ist hier«, erwiderte Sarah fest. »Aber ja, ich freue mich auf die Familie und auf Luzern. Wobei ...«
»Sicher beschäftigt dich die Sache mit Hannes. Du hast mir noch gar nicht gesagt, was dein Vater geschrieben hat.«
»Er hat geschrieben, dass Hannes’ Vater einen Umschlag erhalten hat; darin waren, glaube ich, eine verkohlte Blume und ein Bild der Muttergottes. Irgendwie unheimlich.« Sie schauderte. »Vor allem sollen solche Umschläge auch nach den sogenannten Katholikenmorden an die Angehörigen verschickt worden sein, deshalb spekuliert die Polizei über eine Verbindung zwischen den Fällen.« Sie biss in ihr Kuchenstück und kaute bedächtig. »Es bedrückt mich schon«, fuhr sie fort.
»Dass niemand etwas Persönliches gegen Hannes haben kann, war mir immer klar. Aber dass er als Katholik und wegen seiner Konfession ermordet wurde, ergibt keinen Sinn. Er war kein Würdenträger; nur ein junger Lehrer, der sich ein Leben aufbauen wollte – mit mir.«
Sarah presste die Lippen zusammen und drängte die Tränen zurück. So ging es ihr öfter, seit sie vor zwei Wochen Vaters Telegramm erhalten hatte. Die neue Entwicklung riss die Wunde, die Hannes’ Tod geschlagen hatte und die in den letzten zwei Jahren langsam verheilt war, wieder auf, und sosehr sie sich auch anstrengte, sie im Zaum zu halten, war sie doch machtlos gegen die in ihr rumorenden Gefühle.
»Das ist sicher nicht leicht. Was hältst du davon, wenn ich mich in Luzern erkundige? Wir haben ein gutes Einvernehmen mit den Polizeikorps, die zum Bistum gehören. Vielleicht kann ich mehr erfahren.«
»Das wäre wunderbar!«
»Mache ich gern.« Gideon warf einen Blick auf die Wanduhr. »Aber jetzt muss ich weiter. Mutter erwartet mich zum Abendessen.«
»Sieg beim Schach, Kaffee und Kuchen und dann noch ein Abendessen bei Muttern? Dich verwöhnt heute das Schicksal!«
»Du hast den Vorzug deiner Gesellschaft vergessen«, erwiderte Gideon lächelnd.
»Das war Absicht. So bleibe ich das bescheidene, zurückhaltende Fräulein, das sich all seiner Vorzüge nicht bewusst ist.«
»›Bescheiden‹ ist schon gewagt, aber ›zurückhaltend‹? Das klingt gar nicht nach dir.«
»Ich glaube, du hast die Gunst der Stunde ausgereizt.« Sarah erhob sich und geleitete Gideon hinaus. »Aber wenn du mir Nachrichten aus dem Luzernischen bringst, bin ich vielleicht bereit, dir zu vergeben.«
»Dann werde ich das tun.«
Sie traten an den Rand der Leberbergstraße, die an diesem schönen, aber frischen März-Sonntag nicht stark befahren war.
»Gehst du zu Fuß?«, fragte Sarah.
»Nein, heute nehme ich ausnahmsweise den Zug.« Er nickte Sarah und Rosa zu und machte sich in Richtung Bahnhof davon.
»Der Mann ist eine Nummer für sich«, meinte Rosa, die Hände in die Hüften gestemmt. »In meiner Jugend hätten sich Galane solche Töne nicht erlaubt!«
»Galane nicht, Freunde schon«, erwiderte Sarah.
»Wenn du meinst!«
»Ich meine.«
Zusammen traten sie wieder in die Wohnung, aber nicht bevor Sarah einen letzten Blick auf den entschwindenden Gideon geworfen hatte. Sosehr sie sich auf Luzern freute: Die Schachspiele und das freundliche Geplänkel mit Gideon würde sie ebenso vermissen wie ganz Grenchen. Sie hatte hier Wurzeln geschlagen und sich mit Rosa, Pauline, Adolf und Marie einen Kreis an Freunden aufgebaut, der noch wichtiger geworden war, seit sich die Beziehung zu Paul zerschlagen hatte. Wie würde es sich anfühlen, sich wieder länger in ihrer alten Heimat aufzuhalten? Wie würden ihre Eltern damit umgehen, sie als Uhrmacherin zu erleben?
Dennoch überwog die Freude. Außerdem würde sie nicht allein gehen müssen: Fabrice würde mit ihr kommen. Sie lächelte bei dem Gedanken. Wenn ihr jemand vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass sie sich darüber freuen würde, hätte sie ihm nicht geglaubt, sondern befürchtet, dass ihr Lehrlingskollege ihr in der Sonne stehen würde. Inzwischen hatten sie beide gelernt, sich gegenseitig zu unterstützen und nicht als Konkurrenz zu sehen. Zusammen würden sie auch diese Hürde meistern. Und bevor es losging, gab Pauline noch ein Abschiedsfest für sie. Was konnte man sich mehr wünschen? Danach, da war sie gewiss, wäre sie allem gewachsen.
»Dieses Mal musst du uns häufiger schreiben.« Pauline klopfte der kleinen Hedwig auf den Rücken. »Sonst vergisst du uns noch!«
»Wie könnte ich euch vergessen?«, erwiderte Sarah. »Und ihr müsst versprechen, mir zu schreiben. In vier Wochen kann sogar in Grenchen viel passieren!«
»Das machen wir.« Marie streckte die Hände aus. »Gib mir die Kleine, Pauline. Du kommst gar nicht dazu, etwas zu trinken.«
Dankbar legte Pauline der Freundin das Kind in den Arm und lehnte sich seufzend zurück. »Da sprichst du ein wahres Wort. Aber jetzt erzähl, Sarah. Was wirst du in Luzern machen?«
»So genau weiß ich das nicht, aber Uhrmacher Wernli ist ein Meister seines Fachs. Er hat schon an der Uhr des Klosters in St. Urban gearbeitet, aber vor allem entwirft er Taschenuhren.«
»Ihr habt wirklich Glück, dass Wernlis Zeit für euch haben. Ihre Stages sind höchst begehrt!« Die Worte kamen von Adolf, der eben das heimische Esszimmer betrat und sich neben seine Frau auf die Eckbank setzte. »Wernli und seine Frau wohnen und arbeiten sonst in der Westschweiz, und in den drei Jahren, die sie nun in Luzern wirken, waren die Plätze immer ausgebucht. Sie sind beide Meister ihres Fachs – auch sie ist Uhrmacherin.«
»Wie schön«, erwiderte Sarah aufgeregt. »Weißt du mehr über die Arbeit der Wernlis?«
»Seine Spezialität sind die Fertigung von Komplikationen, ihre vor allem die dazu notwendigen komplexen Berechnungen. Sicher werden sie euch einen Einblick in diese Arbeit geben, auch wenn das eher Aufgaben für spätere Lehrjahre sind. Das ist wirklich eine einmalige Gelegenheit!«
»Komplikationen? Wer braucht denn die?«, fragte Marie grinsend.
Adolf lächelte. »In der Uhr braucht man sie wohl, auch wenn sie meistens eine Ergänzung sind. Monatsanzeigen, Mondstellungen, solche Sachen.«
»So eine Angabe könnte mir beim Säen und Pflanzen helfen«, bemerkte Rosa. »Ich ernte meine Kräuter nur bei Vollmond!«
»Um zu wissen, wann Vollmond ist, kann man nach oben schauen«, konterte Marie.
»Und wenn es regnet oder wir Hochnebel haben? Nebel ist in Grenchen nicht gerade Mangelware«, entgegnete Sarah trocken. »Und du brauchst gar nicht so böse zu schauen, Pauline. Der wahre Grenchner darf über sein Dorf klagen,
solange er es gegen Außenstehende verteidigt. Ist das nicht die Devise?«
»Gesprochen wie eine wahre Grenchnerin«, erwiderte Adolf. »Du wirst dich gut machen in Luzern, da bin ich mir sicher. Und jetzt müsst ihr leider schon wieder ohne mich auskommen; ich lege mich aufs Ohr. Die Sitzung war lang genug. Noch einen schönen Abend, die Damen!«
Er verließ das Esszimmer wieder, und Sarah wandte sich an Pauline. »Adolf sieht Gott sei Dank wieder besser aus. Aber mager ist er immer noch.«
»Die Sitzungen in der Kirche sind anstrengend«, bemerkte Pauline. »Ich beneide dich, dass du dich für ein paar Wochen von diesem Katholikenzwist verabschieden kannst.«
»Der köchelt in Luzern auch. Aber ich hoffe, dass ich damit nicht viel zu tun haben werde. Vor allem frage ich mich, wie es Fabrice ergehen wird. Er ist es nicht gewohnt, in einem römisch-katholisch geprägten Ort zu leben.« Sarah seufzte.
»Noch stärker beschäftigt mich aber Hannes. Gideon hat mir versprochen, dass er sich bei der Luzerner Polizei erkundigen will, aber ich habe noch nichts von ihm gehört.«
»Du musst uns auf dem Laufenden halten!«
»Das werde ich. Und jetzt lasst uns einen letzten Schieber klopfen!«
Pauline griff nach den Karten, und die nächste halbe Stunde war dem Jass gewidmet. Marie und Pauline trugen den Sieg davon, sodass sich Sarah und Rosa als Verliererinnen auf den Heimweg begaben, doch das machte ihnen nichts aus. Im Schach war Sarah der Sieg weit wichtiger als beim Jassen.
Grenchens Straßen waren leergefegt – es herrschte immer noch Fastenzeit, und die Lokale waren kärglich besucht. Die einzigen Nachtschwärmer waren die Insekten, die um das Licht der Petroleumlampen herumschwirrten. Im Dunkel nur schwach sichtbar, erhob sich der Kirchturm in den Nachthimmel. Ein seltsamer Gedanke, dass sie bald wieder die spitzen Türme der Hofkirche sehen würde; den Pilatus, den Vierwaldstättersee! Und natürlich die Eltern, Daniel – und vor allem Hanna. Die kleine Schwester fehlte ihr. Die Briefe, die sie von ihr erhielt, waren ihr immer ein Schatz. Es würde schön sein, sie zu sehen. Und nicht nur in diesen Wochen in Luzern: Danach begann Hanna die Ausbildung im Kloster Visitation in Solothurn. Ein warmes Gefühl machte sich in Sarahs Brust breit. Wie sie sich erhofft hatte, hatte ihr der Abend mit den Freundinnen Kraft geschenkt. Jetzt war sie bereit für die morgige Reise – und für Luzern!
»Das ist famos!«
Fabrice’ Augen waren fast so groß wie ein Fünfliberstück, während er Luzerns stolzes Bahnhofgebäude bewunderte, und Sarah konnte sich nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen. Ihr junger Kollege hatte sich während der Bahnfahrt redlich bemüht, den Gleichgültigen zu mimen, obwohl sie beide wussten, dass er seine bisherigen sechzehn Lebensjahre fast ausschließlich in Grenchen und Solothurn verbracht hatte. Doch nun, da sie in Luzern angekommen waren und sich die Dächer der Stadt vor ihnen ausbreiteten, war es um seine Selbstbeherrschung geschehen. Staunend blickte er um sich, auf die geschäftig hin und her eilenden Menschen, die Kutschen, die
in Reih und Glied auf Passagiere warteten. Seinem staunenden Gesicht konnte Sarah deutlich ansehen, wie aufregend er das alles fand, und wie so oft, wenn jemand etwas bewundert, das man schon lange kennt, erschien auch Sarah die Heimatstadt in einem neuen Licht. Fast war ihr, als sauge sie all die Eindrücke durch Fabrice’ Augen, Ohren und Nase in sich auf: den scharfen Geruch von Kohle, der von den Lokomotiven herüberwehte, den süßlich riechenden, dampfenden Pferdemist auf den Pflastersteinen; das geschäftige Hufklappern der Kutschpferde und die freudigen Rufe von Menschen, die sich wiedersahen; die bunten Taschentücher, die geschwenkt wurden, und die tränengefüllten Augen, wenn es hieß, Abschied zu nehmen.
»Ihr beide seid die Lehrlinge aus Grenchen, nicht wahr? Willkommen in Luzern!«
Eine barsch klingende Stimme unterbrach ihre Gedanken, und Sarah wandte sich um. Der Urheber dieser Worte war etwa Mitte vierzig und von schmalem Wuchs.
»Ich bin euer Arbeitgeber für die nächsten vier Wochen. Benedikt Wernli.« Der Mann mit dem dunklen, gewellten Haar schüttelte ihr kräftig die Hand und wandte sich dann Fabrice zu, der so ängstlich auf seine schmalen Uhrmacherhände sah, als drohe ihm der Verlust eines Fingers.
»Die Kutsche wartet.« Schon strebte Wernli davon, und sie stolperten ihm mit ihren Koffern hinterher zu einer Droschke, die von einem gescheckten, kräftigen Pferd gezogen wurde. Der Kutscher griff nach ihrem Gepäck und verstaute es hurtig im Wagen, während Sarah hinter Fabrice in die Kutsche stieg. Schon zuckelten sie los in Richtung Hofkirche. Der See zu
ihrer Rechten glitzerte in der Abendsonne, die ihre Strahlen über das ruhig daliegende Wasser warf, und der dahinter sich in den Abendhimmel reckende Pilatus strahlte Ruhe und Würde aus. Luzern, wie sie es kannte und liebte, und doch neu. Wie stolz und würdig die Türme der Hofkirche in den rosafarbenen Himmel stachen! Und die steinernen, mehrstöckigen Häuser mit den Schieferdächern – so anders als die strohgedeckten Gebäude in Grenchen. Auf der Seepromenade tummelte sich allerlei Volk, das den Frühlingsabend nutzte, um unter die Leute zu kommen – wobei sich der Ausdruck »Volk« bei dieser Schar fast verbot: Damen in kostspieligen Batistkleidern, Herren mit Monokel und gestreiften Hosen, sorgfältig gekämmte Jungen in Matrosenanzügen, die hinter bunten Holzreifen herrannten.
»Allseits feine Pinkel unterwegs«, murmelte Fabrice.
»Das sind vor allem Touristen. Die Luzerner sind nicht anders als unsereiner. Und unter dem feinen Stoff sitzt ohnehin dasselbe Ungetier, wie mein Vater zu sagen pflegt«, erwiderte Sarah.
»Das kann ich bestätigen«, ergänzte Uhrmacher Wernli mit einem grollenden Unterton in seiner Stimme. »Wer in der Welt herumgekommen ist, weiß, dass die Menschen überall die gleichen sind.«
»Woher stammen Sie, Herr Wernli? Nicht aus Luzern, wie es klingt.«
»Ich komme aus dem Zugerland, aber während meiner Lehrjahre war ich in Deutschland, in Belgien und in der Westschweiz, wo wir normalerweise leben, meine Frau und ich. Aber davon später mehr. Wir sind da!«
Die Kutsche hatte vor einem schmalen, mehrstöckigen Haus aus grauem Schieferstein angehalten. »Das ist das Lehrlingsheim ›Zur lieben Frau‹, hier seid ihr gut aufgehoben«, erklärte Wernli. »Die Pensionsmutter wird euch erklären, wie ihr den Weg zur Arbeit findet. Ich erwarte euch am Montag um Punkt sechs!«
Zögernd nickte Sarah, und auch Fabrice brachte nur ein zaghaftes Nicken zustande. Schon war Wernli wieder in die Kutsche gestiegen und davongefahren. Das graue Haus, das sich vor ihnen in den Himmel erhob, wirkte nicht sonderlich gastfreundlich, trotz seines Namens. Nachdenklich sah Sarah auf die dunkle Fassade. Adolf hatte ihr das Angebot gemacht, dass sie auch in ihrem Elternhaus bleiben könne, obwohl das nicht üblich war. Doch Fabrice hatte seine Panik bei dem Gedanken nicht verbergen können, und ihr war das Abenteuer Lehrlingsheim ganz recht. Sosehr sie sich freute, die Eltern und Geschwister wiederzusehen: Sie war es nun gewohnt, ihr eigenes Leben zu leben und nicht mehr unter der stetigen Aufsicht zu stehen, die sie daheim zu erwarten hätte.
Hatte sie sich richtig entschieden? Oder hätte sie doch bei ihren Eltern wohnen sollen? Mutter war gar nicht begeistert gewesen über ihre Entscheidung. Andererseits: Sie hatte schon weit schwierigere Herausforderungen bewältigt.
Aufmunternd nickte sie Fabrice zu. »Los, du Held! Wir schaffen das.« Sie griff sich ihren Koffer und stieg die Treppe hoch, während Fabrice ihr fast an den Fersen klebte. So hatte sie ihn noch nie erlebt, aber sie konnte es ihm nachfühlen. In einem neuen Ort war erst einmal alles ungewohnt und einschüchternd.
Ungewohnt war auch das Foyer des Heims: Mit hoher Decke, aber schmucklosen Wänden aus grauem Stein wirkte es streng und unpersönlich. Doch die hochgewachsene Dame mit dem grau melierten, zu einem Knoten gedrehten Haar, die hinter einem Empfangstresen saß und ihnen entgegenlächelte, ließ den Raum gleich freundlicher wirken.
»Die beiden aus Solothurn, nicht wahr? Kommt ruhig näher, ich beiße nicht.«
Sarah fühlte Wärme in ihre Wangen steigen. Sahen sie so verschreckt aus? Entschlossen trat sie näher und streckte die Hand aus. »Ich bin Sarah Siegwart.«
»Rosamund Bartius«, erwiderte die Dame.
»Fab… Fabrice Leibundgut«, brachte ihr Kollege heraus.
»Auch dir ein herzliches Willkommen, junger Mann. Ich zeige euch die Zimmer.«
Ihnen durch ein enges Treppenhaus vorangehend geleitete Fräulein Bartius sie in ihre Mehrbettzimmer, zuerst in den Frauen-Trakt, wo sie auf eines der Betten deutete und anmerkte, dass das Nachtessen gleich serviert werde. Während sie mit Fabrice in den oberen Stock verschwand, stellte Sarah ihren Koffer vor das Bett, machte sich frisch und eilte dann in den Speisesaal, der von Gelächter und Gesprächen in allen Sprachen der Welt widerhallte: gutturale Laute, die sie dem Osten zuordnete, schnelles Hochdeutsch, Französisch, helles, lautes Italienisch. So unterschiedlich wie die Sprachen waren auch die Lehrlinge. Die meisten schienen ihr deutlich jünger als sie selbst, aber es gab auch ein paar ältere darunter. An einer Tischecke, etwas verloren seine Suppe löffelnd, saß bereits Fabrice, den Blick auf seinen Teller gesenkt, als erfor-
dere das Essen seine ganze Konzentration. Sarah setzte sich zu ihm.
»Du warst ja fix wieder unten! Wie ist dein Zimmer?«
Er verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht recht. Ich habe noch nie mit anderen in einem Raum geschlafen.«
»Wirklich? Ich bin’s von meiner Ausbildung zur Lehrerin gewohnt. Keine Angst, das ist halb so wild – solange du keinen Schnarcher als Zimmergenossen hast.«
»Daran habe ich nicht gedacht!« Fabrice’ Augen weiteten sich ob dieser beängstigenden Aussicht.
»Nur mit der Ruhe.« Sie tätschelte ihm die Hand. »Du gewöhnst dich rasch daran.«
Hungrig machten sie sich über den Hauptgang her, der aus Rösti und Gemüse bestand.
»Ich bewundere deine Gelassenheit«, klagte Fabrice. »Ich wünschte, ich hätte mehr davon, aber ich bin nur ein Dorfbengel aus der Provinz.«
»Mach dich nicht so klein! Und glaub mir, ich bin nur äußerlich ruhig. Innen drin brodelt es auch.«
»Wirklich? Würde man nicht denken.«
»Du lässt dir sonst auch nicht viel anmerken. Freust du dich?«
»Wie verrückt! Und ich bin gespannt, was wir alles lernen werden.« Jetzt leuchteten Fabrice’ dunkle Augen. »Und natürlich will ich Luzern kennenlernen.«
»Es gibt viel zu sehen: die Hofkirche, die Kapellbrücke. Dann müssen wir einmal auf den Pilatus und natürlich auf den Gütsch.« Sarah zögerte kurz. »Aber jetzt lege ich mich hin, damit ich morgen frisch bin für die Messe. Kommst du auch?«
Er schüttelte den Kopf. »Vater hat mir gesagt, wo die Christkatholiken sich treffen. Einer seiner Freunde wird mich mitnehmen.«
»Aber morgen Mittag bist du bei uns eingeladen.«
Er nickte dankbar, worauf sie aufstanden und in ihre Zimmer zurückkehrten. Sarah packte ihren Koffer aus und sah sich um. Der Raum sah nicht anders aus als ihr Zimmer in Baldegg, aber immerhin mit nur vier Betten statt deren acht; momentan war er leer, weil ihre Zimmergenossinnen wohl noch im Aufenthaltsraum saßen. Auch hier hing ein Kruzifix an der Wand, ein Bild der Muttergottes und eins von Luzerns Stadt- und Kantonsheiligen, Sankt Leodegar. Ihr Bett stand direkt am Fenster, und irgendwie schien ihr Luzern von hier aus kleiner. Weniger vertraut, weniger Heimat – aber doch ein guter alter Freund, mit dem sie schöne Erinnerungen verband. Und leider auch andere.
In einer Ecke des Fensters erhob sich über den Dächern der Stadt der Gütsch, Luzerns zweiter, kleinerer Hausberg neben dem Pilatus – eher ein größerer Hügel, wenn man es recht bedachte. Eben hatte sie Fabrice versprochen, mit ihm hochzusteigen, aber kaum hatte sie die Worte gesagt, war ihr mulmig geworden. Der Gütsch, der Ort, an dem sie mit Hannes so viele schöne Stunden verbracht hatte. Dort hatte sie ihn tot unterhalb des Felsvorsprungs liegen sehen, und dort auf dem Gütsch war er, wie es nun aussah, nicht verunfallt, sondern ermordet worden.
Verzagt wandte sie sich ab. Warum machte ihr Letzteres so zu schaffen? So lange hatte sie darunter gelitten, dass sein Unfall keinen Sinn ergab; wie seltsam es war, dass er in seinen
Sonntagskleidern hochgestiegen war. Immer wieder hatte sie sich geärgert, weil die Polizei nichts unternehmen wollte, und war so dankbar gewesen, als dank Vaters Gespräch mit Polizeidirektor Segesser endlich Bewegung in die Sache gekommen war. Und doch war es etwas anderes, wenn man damit konfrontiert wurde, dass es Mord war; vielleicht sogar Mord aus Glaubensgründen, Hass auf Katholiken. Sie fröstelte.
Es war seltsam, hier zu sein, in einem Mehrbettzimmer, ohne all die Schätze, die sie sonst überall hin mitgenommen hatte. Nur das Reiseschachspiel hatte sie dabei; vielleicht fand sie hier Spielkumpane. Sie konnte es nicht riskieren, aus der Übung zu kommen und nächstes Mal gegen Gideon zu verlieren. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Wie es ihm wohl ging? Sie musste ihm bald schreiben. Vielleicht hatte er schon Neuigkeiten zu Hannes.
»Gut schaust du aus. Aber du könntest ein neues Kleid vertragen.«
Die besondere Mischung aus Wohlwollen, Enttäuschung und mit Missbilligung vermischter Resignation in Mutters Stimme war ein Heimkommen der besonderen Art.
»Ich kann nicht viel Geld für meine Garderobe ausgeben, Mutter; das weißt du doch«, erwiderte Sarah geduldig.
»Wie willst du so einen Mann finden? Heute war der Junge von Friedwarts im Gottesdienst, aber er hat dich kaum angesehen.«
»Gott sei Dank dafür! Er ist langweiliger als ein Stück Brot.«
Mutters Nasenflügel weiteten sich. Sie warf einen alarmierten Blick auf den jungen Pfarrer, der mit ihnen zu Tisch saß, offenbar in Besorgnis, er könnte diese Bemerkung für blasphemisch halten. Vater hatte ihn ihr als Pfarrer Steingruber vorgestellt. Er verzog keine Miene mit Ausnahme eines Mundwinkels, den Sarah meinte zucken zu sehen. Aber jetzt musste sie vor allem für einen Themenwechsel sorgen.
Sie wandte sich an den jungen Mann. »Sind Sie der neue Pfarrer der Hofkirche, Pfarrer Steingruber?«
Der Pfarrer schüttelte errötend den Kopf. »Das wären zu große Schuhe für einen Grünschnabel wie mich. Ich bin ab Pfingsten für die Pfarre in Ebikon zuständig; es ist meine erste Gemeinde.«
»Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, Herr Pfarrer«, entgegnete Vater freundlich. »Pfarrer Steingruber, liebe Sarah, hat zuvor am Priesterseminar in Solothurn gearbeitet und ist immer noch Leiter des renommierten Seminaristenchors. Ich habe den Chor letztens in der Kathedrale in Solothurn gehört und war so begeistert, dass ich ihn für Ostern zu uns in die Hofkirche eingeladen habe. Außerdem ist die Kirche in Ebikon sehr traditionsreich. Bereits 1180 ist im Ort eine Gottesstätte verbrieft, die ›Kapelle unserer Lieben Frau‹. Die Pfarrkirche, in der Pfarrer Steingruber wirkt, wurde 1790 errichtet.«
»Das wusste ich nicht«, erwiderte Pfarrer Steingruber freundlich.
»Wenn es in einem der alten Schinken im Kantonsarchiv steht, dann weiß es Vater«, bemerkte Sarah. »Aber sag, wie steht es um die Bundesrevision?«
Vater hob die Brauen, und sie konnte es ihm nicht verübeln. Normalerweise wich sie diesem Thema aus, aber lieber das als weitere Diskussionen mit Mutter über Luzerns übrig gebliebene heiratsfähige Junggesellen. Hörte das nie auf? Vielleicht, wenn sie dreißig wurde. Aber sie hätte damit rechnen müssen, dass Mutter ihre Anwesenheit für diesen Zweck ausnutzen würde, jetzt, da ihre Freundschaft
mit Paul Geschichte war. Ihre Eltern hatten nie verhehlen können, dass sie die Beziehung nicht billigten. Vater hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er von Paul erwartete, nicht den Ketzereien seines Vaters anzuhängen, und Mutter hatte die Nase gerümpft, als sie ihr von Pauls Zukunftsplänen als Bauer erzählt hatte. So hatten beide auch ihre Erleichterung über das Ende nicht verborgen, und nun sah Mutter ihre Zeit gekommen. Sarah seufzte innerlich. Zum Glück war sie nur ein paar Wochen hier.
Im Hause Siegwart hatte sich, so ihr erster Eindruck, nichts verändert. Im Esszimmer hing ein neues Bild, aber die Kirschbaumholz-Kommode war noch dieselbe, und wenn sie ihre Geschwister ansah, die an den üblichen Plätzen saßen, war es beinahe, als wäre sie nie weg gewesen.
»Schön, dass du fragst«, antwortete Vater nun und breitete eifrig den Inhalt der Leserbriefe aus, die er letztens geschrieben hatte. »Ich wechsle mich mit Segesser ab«, bemerkte er.
»Wobei auch wir uns nicht ganz einig sind. Ich bin für eine strikte Ablehnung; er votiert dafür, dass wir uns einfach enthalten, um nicht Zunder in die zukünftige Zusammenarbeit im Bund zu streuen. Ich kann das nicht nachvollziehen!«
»Mein Vater meinte, die Revision sei eine gute Sache«, bemerkte Fabrice fragend. Der arme Tropf wusste nicht, in welches gefährliche Gewässer er sich begab! Schon runzelte Vater die Stirn, beugte sich nach vorn und hob seinen Zeigefinger, als wolle er eine Vorlesung halten.
»Dein Vater gehört den Radikalen an, nicht wahr? Dann werde ich dich gern belehren, junger Mann: Bern will den Kantonen die Macht nehmen, ihre eigenen Angelegenheiten
selbst zu klären. Ich kann diesem Zentralismus gar nichts abgewinnen! Was die Eidgenossenschaft groß gemacht hat, ist die Selbstständigkeit der Kantone! 1848 haben wir schon genug Eigenständigkeit abgegeben. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Unter dem Vorwand, das Volk vor den Pfarrern zu schützen, will der Staat in die Angelegenheiten der Kirche eingreifen, uns vorschreiben, wie wir unseren Glauben zu leben haben. Die Ordensmänner und -frauen will man aus der Ausbildung entfernen – als wäre nicht während Jahrhunderten nur die Kirche darum besorgt gewesen, dass junge Menschen zu einer Schulbildung kommen. Plötzlich will der Staat alles regeln. Sogar die Ehe!« Er schüttelte den Kopf. »Dass es eine staatliche Ehe geben soll, ist noch das eine, aber wenn man uns verbieten will, vor Gott und der Gemeinde den Bund zu schließen, dann ...«
»Ich glaube nicht, dass sie das schaffen, stimmt’s?«, warf Sarah ein. »Da wird dein Freund Segesser im Nationalrat auch noch ein Wörtchen mitreden.«
»Segesser ist auch nicht mehr der Jüngste, und er hat es satt, zwischen den Fronten zu stehen. Aber wir wollen hoffen, dass du recht hast.«
Sarah nickte erleichtert und sah mitfühlend auf Fabrice, dessen Augen sich geweitet hatten ob der Rage, in die Vater sich wieder einmal geredet hatte.
Zum Glück fand die Abstimmung in vier Wochen statt; danach würde hoffentlich auch im Hause Siegwart wieder ein anderes Thema im Zentrum stehen.
»Wie gefällt Ihnen Luzern, Fabrice?« Aus Mutters Stimme klang – wenig überraschend – reines Wohlwollen. Fabrice
mochte Grenchner und Christkatholik sein, aber er stammte aus einer vermögenden Familie, und das zählte bei Mutter weit mehr als alle Glaubensfragen.
»Ich habe noch nicht viel davon gesehen, Frau Siegwart«, erwiderte Fabrice respektvoll. »Aber die Stadt ist wunderschön! Ich freue mich, wenn Sarah mir alles zeigt.«
»Was kann Sarah dir schon zeigen? Ich nehme dich mit an unseren Stammtisch. Da lernst du das Leben kennen!«
Daniel grinste, bevor er eine zweite Portion Rösti in sich hineinschaufelte, als hinge sein Leben davon ab.
»Was für ein Stammtisch?« Die Neugier in Fabrice’ Augen behagte Sarah gar nicht.
»Den meiner Studentenverbindung. Die ›Semper Fidelis‹ ist eine der ältesten Sektionen des Schweizerischen Studentenvereins. ›Immer treu‹, so sind wir!«
»Diese Treue bezieht sich kaum auf die Pflichten des Lebens, stimmt’s? Du siehst jedenfalls aus, als hättest du das Leben schon mehr als genug genossen, Bruder! Ich glaube nicht, dass sich solche Abende für einen künftigen Uhrmacher ziemen. Unsereiner braucht ruhige Hände und einen wachen Kopf!«
»Sei nicht so spießig, Sarah«, erwiderte Daniel und klopfte Fabrice auf die Schulter. »Der Junge muss etwas erleben, und dazu gehört auch ein feuchtfröhlicher Ausflug. Sind wir etwa nicht ›zur Herrlichkeit geboren?‹!«
Er holte Luft, doch wie nicht anders zu erwarten, setzte Mutter dem Treiben mit Blick auf den Pfarrer sogleich ein Ende. »Am Esstisch werden keine Studentenlieder gesungen! Iss auf, damit wir das Dessert genießen können.«
»Bin fertig!« Daniel legte sein Besteck in den Teller. »Dank sei dem Herrn, dass am Sonntag nicht gefastet wird!«
»Allerdings«, bemerkte Mathilde, die eben ins Esszimmer segelte und jedem ein Stück Schokoladentorte hinstellte.
»Diese Fastenkocherei ist langweilig. Genießt es!«
Für kurze Zeit konzentrierten sich alle auf den seltenen Genuss, den Fabrice mit begeisterten Ausbrüchen kommentierte und daneben offenkundige Neugier an Daniels Abendprogramm-Vorschlägen bekundete.
»Dein Interesse in allen Ehren, aber in Luzern gibt es doch einiges, das sich mehr lohnt als ein Besuch in einer schummrigen Kneipe«, sagte Sarah.
»Die Hofkirche sollten Sie sich unbedingt ansehen«, ergänzte Vater. »Begleiten Sie uns doch in zwei Wochen zur Ostermesse. Pfarrer Steingrubers Chor wird die Cäcilienmesse von Gounod singen. Das wird ein Hochgenuss!«
Fabrice’ flehender Blick wanderte zu Sarah.
»Wir kommen sehr gern, Vater«, erwiderte diese. »Das wird Fabrice gefallen.« Mit einem Hauch Mitgefühl und einer großen Portion Befriedigung registrierte sie die aufglimmende Panik in den Augen ihres Kollegen. Für einmal war er mit seiner Konfession in der Minderheit; eine neue Erfahrung, die ihm guttun würde.
»Die Blumendekorationen werden schöner denn je«, zwitscherte Mutter.
»Deine Mutter will sagen«, kommentierte Vater, »dass sie nun allein dafür verantwortlich ist und ihr Frau Gebenstorf nicht mehr ins Handwerk pfuschen kann. Ich wünschte, ich hätte diese Probleme! Ich muss meinen Bürogehilfen ersetzen,
der diese Woche aufhört, und habe noch keinen gefunden. Ich war gestern bei Albert Pfyffer, seine Schwester meinte, sie wisse vielleicht jemanden, aber es wird nicht einfach werden.«
»Du warst bei Albert! Gibt es etwas Neues?«, fragte Sarah gespannt.
»Eigentlich nicht. Allerdings deutet die Polizei die Hinweise nun so, dass auch Hannes dem Katholikenmörder zum Opfer fiel«, erwiderte Vater langsam.
»›Katholikenmörder‹? Das hört sich furchtbar an. Worum geht es?«, fragte Pfarrer Steingruber.
Vater nickte dem Pfarrer zu. »Das ist eine lange Geschichte. Albert ist der frühere Schwiegervater von Sarah; ihr Verlobter ist am Berchtoldstag 1872 am Fuß einer Felswand des Gütsch gefunden worden – bei einem der Steinbrüche. Lange nahm man an, es sei ein Unfall gewesen ...«
»Ich dachte das nie«, warf Sarah ein.
Vater griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, Liebes! Jedenfalls haben die Behörden letztes Jahr – auch dank meiner Beziehungen zum Polizeidirektor – die Ermittlungen wieder aufgerollt. Dann wurde an Weihnachten ein Abt tot in seiner Klosterkirche gefunden, dieses Jahr ein Vorsitzender eines katholischen Vereins in der Franziskanerkirche. Und nun vermutet man, dass Hannes auch in diese Reihe gehört.«
Beklommenheit kroch in Sarah hoch. »Wie kommen sie darauf?«
»Albert hatte – ich hatte es dir bereits geschrieben – vor einiger Zeit einen Umschlag in der Post; darin eine verkohlte Margerite und ein Bildchen der Muttergottes. Beides haben auch die Angehörigen der beiden Opfer von Weihnachten und
Aschermittwoch mit der Post erhalten. Es gibt allerdings einen kleinen Haken. Das mit der Margerite und dem Bild stand vor Kurzem in der Zeitung, weil ein junger Polizeiaspirant es ausgeplaudert hat. Was er nicht sagte – weil er es nicht wusste –, war, dass bei den beiden anderen Opfern auf der Rückseite des Bildchens ein handgeschriebener Bibelvers stand. Der fehlte beim Bild, das Albert bekommen hat.«
»Dann wollte jemand den Mord an Hannes diesem Serientäter in die Schuhe schieben!«, erwiderte Sarah hitzig.
»Das wäre denkbar. Vielleicht hat der Täter mitbekommen, dass die Polizei wieder ermittelt, und wollte sich so aus der Sache herausziehen. Da es ausführlich in der Zeitung stand, haben es natürlich viele Menschen mitbekommen.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Hannes in diese Reihe gehört.«
»Ja, es scheint nicht glaubwürdig. Aber wer war es sonst?«
Bedrückt bohrte Sarah die Gabel in ihren Kuchen und nahm einen Bissen. Er schmeckte herrlich, doch der Appetit war ihr vergangen. Zum Glück hob Mutter nun resolut die Tafel auf, und Vater verschwand mit Daniel und Pfarrer Steingruber im Herrenzimmer, gefolgt von einem zögerlichen Fabrice.
Sarah wandte sich an Hanna. »Wollen wir noch etwas plaudern? Du warst das ganze Essen hindurch so still.«
Hanna strahlte, und mit ziemlicher Erleichterung folgte Sarah ihr in den oberen Stock. Mit Sicherheit hatte Mutter vor, sie während ihres Luzern-Aufenthalts zu Sonntagskaffees mit möglichen Bewerbern zu verpflichten. Dieser Unbill galt es, so lange wie möglich zu entkommen.
In Hannas Zimmer sah alles aus wie letztes Mal, mit Ausnahme einer gestiegenen Anzahl von Heiligenbildchen, Kerzen und anderem frommen Beiwerk.
Sarah ließ sich auf das Bett plumpsen. »Erzähl, was hast du in letzter Zeit gemacht? Hat Mutter bei dir mehr Erfolg, was die ehrbaren und wohlhabenden Junggesellen Luzerns angeht?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Hanna errötend. »Letzten Sonntag war Friedmars Bruder hier, aber ich finde ihn langweilig. Und eigentlich will ich nicht heiraten.«
»Hast du das Mutter gesagt?«
Hanna schüttelte den Kopf. »Es hat noch Zeit.« Ihre Augen glänzten. »Ich habe letzten Monat im Waisenhaus in Luzern gearbeitet. Es wird von den Ingenbohler Schwestern geleitet, und es ist wundervoll! Die Kinder erhalten gute Kost und Unterkunft und natürlich christliche Unterweisung. Das ganze Haus atmet Gottes Geist!«
»Wie wunderbar«, erwiderte Sarah mit einiger Mühe. Was um Himmels willen sollte ›atmet Gottes Geist‹ bedeuten? »Willst du in den Orden eintreten?«
»Vielleicht«, erwiderte Hanna. »Aber erst lasse ich mich in Solothurn weiterbilden. Gottes Ruf war noch nicht so deutlich, wie ich es mir wünsche. Und es soll sein Plan sein.«
»Glaubst du wirklich, dass Gott einen Plan für dein Leben hat?«
»Ja, das glaube ich.«
Jetzt spürte Sarah einen Knoten im Magen, und der rührte nicht vom schweren Kuchen her.
»Und was war Gottes Plan für Hannes? Dass ihm auf dem Gütsch der Kopf eingeschlagen wird?«
Hanna zuckte zurück, und Sarah spürte einen Hauch von Gewissensbissen. Ihr Ton war doch etwas harsch gewesen.
»Verzeih«, sagte sie schnell. »Aber es fällt mir schwer, an Gottes gute Pläne zu glauben, wenn ich daran denke, was Hannes und ich zusammen vorhatten und wie grausam das zerstört wurde. Versteht du?«
»Natürlich verstehe ich dich! Und ich will nicht behaupten, auf deine Frage eine Antwort zu haben. Aber mir ist es wichtig, dass ich tue, was Gott von mir möchte. Verstehst du?«
»Ich versuche es.« Sarah legte eine Hand auf die ihrer Schwester und drückte sie. »Und ich freue mich sehr, dass wir uns häufiger sehen werden, wenn du erst in Solothurn bist. Ich habe dich lieb.«
Sie umarmten sich, und Sarah atmete auf. Die Anspannung zwischen ihnen hatte sich gelöst, und als sie kurz darauf mit Fabrice aufbrach, fühlte sie sich fast wie immer. Aber während Fabrice, ganz angetan von seinen Gesprächen mit Daniel und überwältigt davon, seinen ersten Träsch getrunken zu haben, aufgeregt plapperte, kreisten Sarahs Gedanken um Hannes. Entgegen dem, was sie vorhin zu Vater gesagt hatte, empfand sie beim Gedanken daran, dass er diesem Katholikenmörder zum Opfer gefallen sein könnte, etwas Neues: die Hoffnung auf Genugtuung. Nun bestand die Möglichkeit, dass sie endlich erfahren würde, wer Hannes auf dem Gewissen hatte. Wenn Gott in seiner Größe ihr diesen Abschluss verschaffte, konnte sie sich mit dem Verlust vielleicht doch noch versöhnen.
Um sechs in der Früh war es rund um das Geschäft Breitschmid noch leer und still. Keine flanierenden Touristen, keine hupenden Dampfschiffe; nur das geschäftige Rattern von Kutschen, die mit ihren Waren in Richtung Wochenmarkt fuhren. Breitschmid selbst wartete mit opulent ausgestatteten Schaufenstern, die neugierigen und hoffentlich kauffreudigen Kunden anlockend. Aber es war erst Ende März, die touristische Hochsaison noch weit entfernt.
Gefolgt von Fabrice, der ihr wieder an den Fersen hing wie ein Schulkind, das Angst hat, den Anschluss zu verlieren, betrat Sarah das Geschäft. Dunkel und still war es auch hier; die uhenden und ahenden Damen aus aller Herren Länder, die sich bei ihrem letzten Besuch um die Vitrinen geschart hatten, waren verschwunden wie Geister vergangener Sommer. Schlummernd lagen die juwelenbesetzten Uhren auf ihren samtenen Kissen, ihren Glanz noch verbergend, als wären sie Wesen, die erst zum Leben erwachten, wenn jemand sie bestaunte und bewunderte. Nun, jetzt hatten sie so jemanden. Sarah trat vor eine der Vitrinen. Ein besonderes Stück lag darin; eine Taschenuhr von beeindruckender Größe, mit einer Fassung aus Rotgold, einer Datumsanzeige, verzierten Zeigern und einem Zifferblatt, wie sie es noch nie gesehen hatte: überzogen mit türkisfarbenem Emaille, darin verborgen ein Muster aus winzigen Quadern, beinahe dreidimensional … »Sie bewundern mein letztes Werk, Fräulein Siegwart?«
Die Stimme gehörte Uhrmacher Wernli, der zu ihr getreten war und sie sichtlich stolz anlächelte. Der barsche Ton, den er bei ihrer Ankunft an den Tag gelegt hatte, war verschwunden; hier war er offenkundig in seinem Element.
»Sie ist prächtig, Herr Wernli! Wie haben Sie dieses Zifferblatt gefertigt?«
»Das habe ich guillochiert.« Er lächelte gutmütig; wahrscheinlich sah er ihr an, dass sie das Wort noch nie gehört hatte. »Beim Guillochieren graviert man geometrische Figuren mit einer extra dafür konstruierten Maschine in eine Oberfläche. Ich kann Ihnen später gern mehr darüber erzählen. Aber erst wollen wir hier abschließen, bevor ein Frühaufsteher in den Laden kommt. Gehen wir nach hinten.«
Sarah und Fabrice folgten dem Uhrmacher in die Werkstatt, und erneut stiegen Erinnerungen an jenen Tag im letzten Sommer in ihr hoch: als sie dem jungen Mann dabei zugesehen hatte, wie er ein Federhaus auswuchtete, als sie ergriffen wurde von der Sehnsucht, selbst mit Uhren zu arbeiten. Wie gern dachte sie daran!
Uhrmacher Wernli wies sie und Fabrice an zwei nebeneinanderstehende Arbeitstische. »Ich zeige Ihnen heute den Aufbau einer meiner selbst entwickelten Taschenuhren, einer etwas einfacheren als der, die Fräulein Siegwart aufgefallen ist. Aber keine Angst; auch diese hat ein paar interessante Besonderheiten.«
Gespannt beugte Sarah sich vor. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Fabrice es ihr gleichtat. Platziert in einem ihm bekannten Umfeld – an einem Uhrmachertischchen in einer Werkstatt –, hatte er seine Angst fast völlig abgelegt. Die nächsten zwei Stunden hörten sie Wernli zu, der ihnen den Aufbau der Uhr erklärte und es auf unnachahmliche Weise verstand, komplizierte Handgriffe einfach zu demonstrieren. Als sie ihn darauf hinwies, lächelte er nur. »Das ist nicht die
wahre Kunst. Nur wenn Sie die Funktionsweise von etwas durch und durch verstanden haben, können Sie es einfach erklären. Und je besser Sie etwas verstehen, desto einfacher können Sie es bauen! Ich habe nichts gegen Verzierungen, das sehen Sie an meinen Kreationen. Aber am liebsten ist es mir, wenn sich Schönheit in Einfachheit und Funktionalität zeigt.«
Als ihnen der Kopf langsam brummte, stand Wernli auf und streckte sich. »Das soll fürs Erste reichen. Wir wollen einen Imbiss nehmen, und weil es euer erster Tag ist, lade ich euch ein. Ab morgen dürft ihr euch selbst verpflegen.«
Er führte sie die Straße entlang in ein zweistöckiges, schmales Steinhaus in der Nähe und über dessen Holzstiege in den oberen Stock. Sie waren noch nicht oben angekommen, als die Tür von einer etwa vierzigjährigen Frau geöffnet wurde. Sie war gleich groß wie Sarah und trug ihr dunkelbraunes Haar fast so kurz wie ein Mann – etwas, das Sarah an einer Frau noch nie gesehen hatte. Ihre tiefblauen Augen waren von kleinen Fältchen umgeben.
»Das ist meine Frau Monique«, sagte Wernli, der neben sie getreten war und ihr einen Arm um die Taille legte. »Sie hat uns einen Happen gerichtet.«
»Kommt rein, ihr Lieben«, sagte Monique. »Nach einem Vormittag mit Benedikt seid ihr sicher ausgehungert!« Sie ging ihnen voran in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Auf einem schimmernden Holztisch standen ein riesiger Teller mit belegten Broten und eine Schale mit rotwangigen Äpfeln, daneben eine bauchige Vase mit einem Strauß Tulpen. Es roch nach frisch gebrautem Minztee.
»Setzt euch und esst«, forderte Monique sie auf.
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Genüsslich bissen sie in die saftigen Schinkenbrote.
»Die sind herrlich, Monique!« Sarah putzte sich den Mund ab, fast beschämt darüber, wie gierig sie geschlungen hatte. Nicht gerade damenhaft! Mutter hätte sich für sie geschämt, wenn sie es gesehen hätte.
»Freut mich, dass es euch schmeckt.« Monique nickte zufrieden. »Ihr hattet sicher einiges zu verdauen! Hast du ihnen die Komplikationen erklärt?«
»Noch nicht«, erwiderte Wernli. »Das würde ihre armen Hirne überlasten.«
»Vielleicht nicht! Sie sehen mir nach zwei wachen Geistern aus.« Sie ließ ihren Blick wohlwollend von Fabrice zu Sarah gleiten, und das Vertrauen und der Zuspruch darin trugen mehr als die Brote dazu bei, dass Sarah sich auf besondere Weise gestärkt fühlte.
»Meine Frau ist eine noch bessere Uhrmacherin als ich«, sagte Wernli. »Sie wird euch das eine oder andere zeigen; darauf dürft ihr euch freuen.«
Monique winkte ab, aber es war unverkennbar, dass das warme Lob ihres Mannes sie freute. »Wir haben beide unsere Stärken«, erwiderte sie dann. »Ich sorge vor allem dafür, dass er nicht zum Griesgram verkommt.«
Wernli murmelte Unverständliches, aber Monique lachte nur und umarmte ihn. »Streit es nicht ab. Und jetzt ab mit euch; ich habe auch noch Arbeit.«
Sie standen auf und machten sich auf den Rückweg, aber nicht, bevor Monique sie umarmt und ihnen ein Säckchen mit