

Claudia Dahinden Die Uhrmacherin
SCHICKSALSSTUNDEN
Roman
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Penguin Random House Verlagsgruppe FSC ® N001967
2. Auflage
Copyright © 2022 by Claudia Dahinden Copyright © 2022 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur Hille & Schmidt. Redaktion: Susann Harring Umschlaggestaltung: bürosüd Umschlagabbildungen: www.arcangel.com / Mary Wethey, www.gettyimages.de / Heiko Stange / EyeEm, mauritius images / Bildagentur-online / McPhoto / Alamy / Alamy Stock Photos, www.buerosued.de Karte Umschlag: Peter Palm, Berlin
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-328-10564-0 www.penguin-verlag.de
Für Beat, meinen Mann und besten Freund.
Unsere Story begann vor dreißig Jahren in Fribourg, und ich freue mich »usinnig« auf alles, was noch kommt!
Im Glossar ab S. 556 finden sich Erklärungen zu den verwendeten Schweizer Ausdrücken sowie Begriffen aus der Uhrenindustrie.
Dr
guet Fründ
Tuet dir e guete Fründ erbcho, Zieh vor em s Chäppli ab, Gang ihm uff alle Wäge noh, Gang mit em bis zum Grab; Du weisch jo, wien es Fründe git:
A faltscher Fründschaft fählt’s der nit!
Und lauft me zue dr chriseldick, So dick, wie’s dusse schneit, Chunnt Hans und Bänz und Durs und Vick, Pass uf, i ha dr’s gseit! –
Du chasch ne glych gäng fründlig sy, Doch schlo nid gschwing uff d’Fründschaft y.
Los au nit uff es gschliffes Wort
Und wenn’s di no so rüehrt:
Es suufers Härz am rächten Ort
Isch’s, was zur Fründschaft füehrt!
S isch au scho gsi, nimm’s hüt au a:
By zwölfe chönnt’s e Judas ha!
Und wer i Freude mit dr lacht
Und mit dr briegge cha, Mit dem hesch rächti Fründschaft gmacht; So Fründe muess me ha!
Vor so me Fründ zieh’s Chäppli ab, Gang mit em bis zum chüehle Grab!
Franz Josef Schild, Grenchner Arzt und Volksdichter
Der gute Freund
Begegnet dir ein guter Freund, nimm vor ihm das Käppchen ab, Geh ihm auf allen Wegen nach, Geh mit ihm bis aufs Grab; Du weißt ja, wie es Freunde gibt: An falscher Freundschaft fehlt’s dir nicht!
Und läuft man zu dir dicht gedrängt, So dicht, wie’s draußen schneit, Kommen Hans und Bänz und Durs und Vick, Pass auf, ich hab dir’s gesagt! –
Du kannst trotzdem freundlich sein, doch schlag nicht zu schnell in die Freundschaft ein.
Hör auch nicht auf ein geschliffnes Wort, Und wenn’s s dich noch so rührt:
Ein reines Herz am rechten Ort
Ist’s, was zur Freundschaft führt!
So war es schon immer, nimm’s heut auch an:
Bei zwölfen könnt ein Judas sein!
Und wer in Freude mit dir lacht
Und mit dir weinen kann, Mit dem hast du rechte Freundschaft gemacht; Solche Freunde muss man haben!
Vor so einem Freund nimm’s Käppchen ab, Geh mit ihm bis zum kühlen Grab!
1Noch eine Umdrehung, dann war es geschafft.
Sarah legte Daumen und Zeigefinger der linken Hand um den Wecker, verstärkte den Druck ihrer rechten Hand auf den Schraubenzieher und drehte das Schräubchen sorgfältig ein.
Lehrmeister Flury hatte seinen Lehrlingen klargemacht, dass diese Stücke sorgsam zu behandeln seien, schließlich seien sie keine billigen amerikanischen Produkte, sondern Qualitätsarbeit aus dem französischen Hause Japy, einem Spezialisten »für ganz ordentliches Handwerk hinter glänzender Fassade«, wie er sich ausgedrückt hatte. Und der faustgroße Wecker mit der ziselierten Messingverkleidung und dem geschliffenen Glas, den Sarah gerade bearbeitete, war wirklich eine Schönheit. Ein letztes Mal anziehen …
Ein dröhnendes Scheppern neben ihr. Sarah zuckte zusammen. Der Schraubenzieher glitt ab und hinterließ einen wüsten Kratzer auf dem glänzenden Metall. Verärgert drehte sie sich um.
»Was hast du wieder angestellt?«
Fabrice, ihr schlaksiger Lehrlingskollege, schien sie nicht zu
hören. Sein Kopf mit dem dunklen Haar war immer noch über seinen eigenen Wecker gebeugt; er war ganz in seine Arbeit versunken. Dann, als wären ihre Worte über Umwege doch noch bei ihm angekommen, sah er hoch.
»Tut mir leid.« Er hob den Lärmverursacher – die Weckerglocke, die er in Bearbeitung gehabt hatte – vom Boden auf, betrachtete sie abwesend und beugte sich wieder über sein Tischchen.
Sarah schüttelte den Kopf und inspizierte ihren Wecker. Bis auf den Kratzer sah alles perfekt aus. Was würde Lehrmeister Flury zu diesem Malheur sagen? Wahrscheinlich etwas wie: »Präzision und Sorgfalt sind das Alpha und Omega des Uhrmachers!« Und dabei würde er aussehen wie Moses, der mit den Zehn Geboten vom Sinai herunterstieg.
Sie schmunzelte bei diesem Gedanken. Ihr Lehrmeister liebte die Uhren und das Handwerk über alles, und dafür bewunderte sie ihn. Der Kratzer war nur ein winziges Missgeschick; sie würde nicht gleich in Ungnade fallen. Bisher hatte Flury ausschließlich enthusiastische Lobeshymnen auf seine beiden Erstjahrs-Lehrlinge gesungen.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es war dunkel geworden, und nun erklang auch schon die Fabrikglocke. Rasch packte sie ihre Werkzeuge zusammen, schlüpfte in ihren Mantel und begab sich mit allen anderen in Richtung Ausgang.
Im Freien begrüßte sie als Erstes die Januarbise, die scharf durch die dünne Wolle schnitt. Sarah schob die Hände tiefer in die Taschen, dankbar, dass sie der Pulk der anderen Arbeiter ein wenig vor der Kälte abschirmte. Am Gasthof Bären vorbei bewegte sich die Schlange der Arbeiter in Richtung Löwen-
kreuzung und weiter gen Südbahnhof. Sarah wandte sich derweil nach rechts und beschleunigte ihre Schritte. Nur heim in die warme Stube!
Wie ein erlösender Hort tauchte Rosas Häuschen am rechten Straßenrand auf, fast verdeckt von einer gewaltigen Föhre, deren Nadeln sich wie winzige weiße Speere spreizten. Sarah öffnete die Haustür, und sofort wehte ihr süßer Duft entgegen – Rosinen, Mürbeteig, ein Hauch Vanille. Neugierig trat sie in die Küche, wo sich ihre Schlummermutter lächelnd zu ihr umdrehte. »Wie ist es gegangen? Neues Jahr, neues Glück?«
»Fast. Neben Fabrice zu arbeiten war wieder einmal nichts für schwache Nerven. Aber sag: Was backst du da? Ich dachte, es gibt deine berühmte Wintersuppe.«
Rosa wies auf einen Topf, dem weißer Dampf und der Geruch von Lauch und Gewürznelken entwich. »Die ist fertig. Gerade bereite ich die Dreikönigskuchen für Schneiders vor, uns habe ich auch einen gemacht. Die kennt ihr in Luzern, oder nicht?«
»Natürlich. Darauf freue ich mich schon!«
Sarah hängte ihren Mantel und den blauen Kittel in die Garderobe. Wie vertraut ihr dieser Anblick geworden war! Erst ein halbes Jahr war es her, seit sie mit der Lehre zur Uhrmacherin begonnen hatte, erst neun Monate, seit sie im April des vergangenen Jahres nach Grenchen gezogen war – ein Jahr, das seit fünf Tagen der Vergangenheit angehörte. Was mochte 1874 für sie bereithalten?
Rosa trug eben die Suppenschüssel ins Esszimmer, die schwarzbraunen Haare kreuz und quer aus dem lockeren Dutt herausstehend, mit geröteten Wangen und einem strahlenden
Lächeln auf dem Gesicht. Sarah lächelte zurück. Immer noch staunte sie darüber, wie schnell Rosas Häuschen ihr ein Heim geworden war. Bei Schneiders waren sie Arbeitskolleginnen gewesen, doch Rosa hatte sie so hurtig unter ihre Fittiche genommen wie eine Mutterhenne ihr mageres Küken – obschon bei Rosas Kochkünsten kein Küken lange mager blieb!
Rosa schöpfte zwei Teller Suppe, und Sarah griff in das Körbchen, das schon auf dem Tisch bereitstand, und legte sich eine dicke Scheibe von Rosas selbst gebackenem Roggenbrot neben den Teller. Nach einem kurzen Tischgebet machten sie sich über das noch warme Brot und die Lauchsuppe her, die wunderbar schmeckte und Sarahs müde Glieder wärmte. In Windeseile war der Teller leer, und sie seufzte zufrieden.
»Wie war das mit dem schlechten Anfang?«, fragte Rosa nun nach.
»So schlimm ist es nicht. Ein kleines Missgeschick.«
»Bist du denn mit der Arbeit an diesem Ding – wie heißt es schon wieder – fertig geworden?«
»Pendelwecker. Fertig ja, aber Fabrice hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Kurz bevor ich fertig bin, lässt das drollige Genie etwas fallen, ich rutsche vor Schreck ab und hinterlasse einen Kratzer auf der Messingfassung. Abgesehen davon wäre der Wecker perfekt. Ich hoffe, Lehrmeister Flury sieht das auch so.«
Rosa tätschelte ihr die Schulter. »Das wird er! Und jetzt schau in dein Zimmer. Ich habe dir für Sonntag das blaue Kleid abgeändert, das deine Mutter dir zu Weihnachten geschenkt hat.«
»Hast du? Wie herrlich!«
Sarah eilte in ihr Zimmer. Da hing es am bemalten Bauernschrank, aus warmem nachtblauem Mohair und mit feiner cremefarbener Spitze an den Ärmeln, die nun nicht mehr an einen Puttenengel erinnerten. Als sie das Kleid in Luzern anprobiert hatte, hatte sie alle Selbstbeherrschung aufbringen müssen, um es würdig entgegenzunehmen.
Dank der fürsorglichen Rosa verströmte der Ofen in ihrem Zimmer bereits wohlige Wärme, und ein selbst geknüpfter Teppich schirmte ihre Füße von der Bodenkälte ab. Sarah strich über die frisch bezogene Bettdecke und warf einen Blick auf das Regal über dem Pult, das Rosas Schwager Ruedi ihr gezimmert hatte. Viel hatte sie nicht aus Luzern mitgebracht: die Uhr, die Vater Pfyffer ihr nach Hannes’ Tod geschenkt hatte, ihr Reiseschachspiel. Und daneben lag natürlich die Taschenuhr, die sie mit Paul gebaut hatte.
Sorgfältig hängte Sarah ihren blauen Kittel über ihren Stuhl und legte die Kleider für den morgigen Tag heraus, wusch sich und schaute kurz aus dem Fenster. Eisblumen zierten wie hellgraue Stickerei die nachtdunklen Scheiben, und in der Ferne schimmerte das gedämpfte Licht einer Petroleumlampe durch den Nebel. Die hellgrüne Kirchturmspitze schien in der Luft zu schweben. Wie anders war dieser Abend im Vergleich zu ihrem ersten in Grenchen! Der Blick auf Grenchens Gotteshaus war ihr inzwischen so vertraut wie die spitzen Türme der Hofkirche in Luzern, die sie von ihrem Elternhaus aus sehen konnte. Und wie im fernen Luzern tickte auch in diesem Zimmer nun silberhell die Pfyffersche Uhr.
Sie hatte ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und
für ihre Lehre alles auf eine Karte gesetzt. Und es hatte sich gelohnt: Schon nächste Woche fand ihr Halbjahresgespräch mit Lehrmeister Flury statt, dem sie zuversichtlich entgegensah. Müde, aber zufrieden kuschelte Sarah sich unter die duftende Bettdecke. Der Morgen durfte kommen!
Die Kirchenglocken läuteten durch den frostigen Morgen, während Sarah neben Rosa die Kirchstraße hocheilte. Sie waren spät dran, aber zum Glück strebten noch andere der hohen Holztür zu. Leise betraten sie das Gotteshaus, bekreuzigten sich, beugten hastig die Knie und ließen sich erleichtert in Rosas bevorzugter Reihe nieder.
Wie immer herrschte eine erwartungsvolle Stille, nur unterbrochen vom Rascheln der gestärkten Unterröcke und dem Scharren der Füße in den klobigen Winterschuhen. Sarah warf einen Blick auf die Tafel mit den Kirchenliedern und suchte sie aus dem roten, in Leder gebundenen Gesangsbuch heraus. Sie legte nach wie vor nicht viel Wert auf den wöchentlichen Messebesuch, aber sie hatte Vater versprochen, ihren christlichen Pflichten nachzukommen. Und heute war es ihr leichtgefallen, aus dem Bett zu kommen: Paul hatte geschrieben, dass er nach Grenchen fahren und sie nach der Messe zu einem Spaziergang samt Kaffee und Kuchen im Restaurant Hallgarten abholen würde. Seit sie zusammen Silvester gefeiert hatten, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Die Kammfabrik in Mümliswil, bei der Paul arbeitete, hatte das Jahr mit einem Großauftrag begonnen, und Paul hatte wie alle anderen über die Zeit arbeiten müssen. Umso mehr freute sie sich auf das Wiedersehen.
Pfarrer Walser, der eben mit den Ministranten die Kirche betrat, unterbrach ihren Gedankengang. Er wirkte besorgt. »Die heutige Bibelstelle stammt aus Matthäus 5,11«, verkündete er. »›Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, so sie daran lügen.‹ Liebe Gemeinde, diese Zeit ist da.« Blass und ernst blickte er von der Kanzel auf seine Schäfchen herab. »Unserem Bischof wurden in Solothurn die Fenster eingeworfen. Und das ist noch harmlos, wenn wir an das Schicksal unserer Glaubensgeschwister im Berner Jura denken. In Bonfol wurden dreizehn Personen verhaftet!« Ein sardonisches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. »Aber der Herr ist mit den Seinen, und er sorgt für Gerechtigkeit. Bei der Installation des christkatholischen Pfarrers in Biel wollte keine einzige Musikgesellschaft spielen. Stramme Männer des Glaubens!«
Er redete sich weiter in Rage, und Sarah musterte verstohlen die Gesichter um sich herum. Ihr waren die Streitereien zwischen den Katholiken nach wie vor fremd, und das würde wohl auch so bleiben. Aber das Grenchner Kirchenvolk nahm sie immer noch sehr ernst.
Auch nach der Messe hielt sich die Empörung. Trotz der beißenden Kälte formierten sich die üblichen Grüppchen, die sich unter einer gewaltigen schneebedeckten Linde versammelten. Rosa strebte einigen Kirchgängern zu, unter denen Sarah den Kirchgemeinderatspräsidenten Obrecht ausmachen konnte, außerdem das fromme Gäthchen, das hinter allem und jedem eine Weltverschwörung gegen die Katholiken vermutete. Garantiert würden sie gleich die düsteren
Zeiten beweinen. In gebührendem Abstand zu den Gottesstreitern stellte sich Sarah unter die Linde und ließ den Blick über den Kirchhof schweifen. Paul war noch nicht zu sehen. Sie näherte sich Rosas Truppe auf Hörentfernung und stellte erleichtert fest, dass man vom nahenden Weltuntergang zu einem interessanteren Thema übergegangen war. Das entnahm sie zumindest den geweiteten Nasenlöchern des alten Gäthchens. Sarah lächelte. So sah Gäthchen immer aus, wenn eine besonders würzige Neuigkeit ihr unersättliches Ohr erreichte.
»Und das auf Breidenstein!«, rief Gäthchen gerade in einer Mischung aus Missbilligung und Zufriedenheit. Sie schüttelte den Kopf. »So ein Schulgeld, und dann geht ihnen ein Junge verloren.«
»Wie, verloren?«, fragte Sarah.
»Letzten Freitag ist einer der Auswärtigen verschwunden«, erwiderte Rosa.
»Ein Junge, der seit zwei Jahren dort ist«, ergänzte Gäthchen missbilligend. »Kein Neuling, der Heimweh hatte! Und die Landjäger waren noch nicht einmal vor Ort.«
»Dafür hat sich Präfekt Marthaler zum offiziellen Detektiv ernannt. Er stolpert mit seinem Notizbuch durch die Gänge und hat mich schon zweimal in die Mangel genommen – als wäre ich ein Verbrecher!«
Die mürrischen Worte kamen von Ruedi, Rosas Schwager, der verdrossen auf seinen krummen Beinen hin- und herwankte. Rosa tätschelte seinen Arm. »Das meinst du nur. Du bist sicher der untadeligste Mensch, der auf Breidenstein arbeitet. Du gibst mir doch recht, Sarah!«
Sarah nickte lächelnd, obwohl sie Ruedi kaum kannte. Er pflegte das Grab von Rosas früh verstorbenem Gatten Fred –seinem Bruder –, und auf ihren regelmäßigen Friedhofsspaziergängen bewunderte sie stets die liebevolle Bepflanzung.
Nach ihren Worten lächelte er Rosa dankbar an, und seine Augen glänzten in seinem faltigen Gesicht wie Stückchen eines zugefrorenen Sees. »Du übertreibst, Schwägerin.«
»Tue ich nicht! Seit du auf Breidenstein die Umgebung instand hältst, sieht es noch schöner aus. Und die Köchin hat mir gesagt, dass du überall hilfst, wo es dich braucht. Dieser Präfekt soll vor der eigenen Türe kehren! Und spätestens wenn die Landjäger kommen, wird er mit seinen Spielchen aufhören.«
»Falls sie kommen! Wahrscheinlich sind sie überlastet mit den Übeltaten der Christkatholiken«, sagte Gäthchen grimmig.
»Die Endzeit ist nahe! Meinst du nicht auch, Hans?«
Der greise Hans Bühler hob einen gekrümmten Finger, und Sarah seufzte. Jetzt durften sie sich auf eine weitere Sonntagspredigt zum Thema Katholikenverfolgung und Endzeit gefasst machen.
»Vielleicht ist der Junge einfach ausgerissen«, warf Rosa ein.
»Bei seinem Vater haben sie ihn jedenfalls nicht gefunden!«
Gäthchens Gesicht verzog sich in heiliger Entrüstung. »Wahrscheinlich treibt er sich in Wirtschaften herum. Die Jugend heutzutage!«
Sie holte tief Luft, doch ein sandfarbener Schopf, der hinter der Linde sichtbar wurde, befreite Sarah von weiteren Qualen.
»Paul ist da! Ich muss los.« Wie schön, dass sie sich sahen! Trotz ihrer Zuversicht war ihr etwas mulmig beim Gedanken
an ihr baldiges Halbjahresgespräch. Ein Austausch mit Paul würde ihr guttun. Außerdem war sie gespannt, was es mit den Neuigkeiten auf sich hatte, die er in seinem letzten Brief angekündigt hatte. Seit Herr Schneider, ihr früherer Vorgesetzter und Pauls Vater, diesem versprochen hatte, ihn bei der Pachtzahlung zu unterstützen, war Paul auf der Suche nach einem geeigneten Bauernhof, und sie hofften beide, dass er einen in der Region finden würde. Im letzten halben Jahr hatten sie jede freie Minute zusammen verbracht. Wenn sie beobachtete, wie er die Pferde seines Vaters pflegte und fütterte, und wenn er ihr auf ihren Spaziergängen erzählte, was er auf seinem Hof anpflanzen und wie viele Kühe er halten wollte, wünschte sie ihm nichts mehr, als dass er seinem Ziel endlich näher kam –so wie sie dem ihren.
Eine Viertelstunde später saß sie mit Paul an einem Tischchen im brechend vollen Hallgarten, und obwohl es ringsum schnatterte, Gabeln auf Teller quietschten und Stühle und Tische herumgerückt wurden, schienen sie allein auf einer Insel zu sein. Verstohlen musterte sie Paul. Er wirkte blass und dünn. Wie viele Stunden hatte er wohl letztens arbeiten müssen? Doch das warme Funkeln in seinen Augen war noch dasselbe. Sie liebte es genauso wie die Art, wie ihm seine flachsfarbenen Haare in die Stirn fielen – ein Bild, das sie sich immer in Erinnerung rief, wenn er ihr am meisten fehlte. Lächelnd griff sie nach seiner Hand. »Wie geht es in Mümliswil? Kommst du auch mal zur Ruhe?«
Er seufzte. »Kaum. Die Fabrik hat schon wieder einen neuen Auftrag bekommen – Kämme für die Königin von Dä-
nemark, stell dir vor! Es ist ein Wunder, dass ich heute freibekommen habe.«
»Und ich bin froh darum. Ich habe dich vermisst! Und mich beschäftigt einiges.«
»Mich auch«, erwiderte Paul. »Im Moment gerade, wie bildhübsch du in deinem Kleid aussiehst. Ich kann kaum glauben, dass du hier mit mir sitzen willst.« Er betrachtete sie liebevoll, und Sarah spürte die Röte in ihre Wangen aufsteigen. »Und mir gefällt, wie du dein Haar aufgesteckt hast«, fuhr Paul fort.
»Aber das sind die Dinge, die mich ablenken. Was ist es bei dir?«
»Ich habe am Dienstag mein Halbjahresgespräch mit Lehrmeister Flury. Ich bin zuversichtlich, aber jetzt, da es näher rückt …«
»Er wird zufrieden sein. Gefällt dir die Arbeit denn immer noch? Und wie läuft es mit deinem jungen Kollegen – Fabrice?«
»O ja, und wie es mir gefällt! Und Fabrice ist in Ordnung.« Sie lachte. »So jung er ist: Er erinnert mich an einen zerstreuten Professor, wie er vor sich hin murmelt und nur seine Uhrenteile sieht. Er hat ein intuitives Verständnis dafür, wie Dinge funktionieren, und vergisst nie etwas.« Sie seufzte. »Das ist ziemlich einschüchternd. Außerdem stammt er aus einer Fabrikantenfamilie, die sich zu den Christkatholiken zählt. Wie Lehrmeister Flury! Aber das sollte keine Rolle spielen, wenn es um meine Leistung geht. In Sachen Theorie bin ich zuversichtlich, und bisher war auch die Praxis kein Problem. Nur der Pendelwecker hat mir etwas Mühe bereitet.«
»Pendelwecker sind langweilig, soweit ich mich erinnere.«
»Aber es sind die Grundlagen, auf denen jeder Uhrmacher aufbaut!«
»Das wird schon. Und jetzt lassen wir das Fabrikgeschwätz. Ich habe Neuigkeiten.« Paul strahlte und beugte sich vor.
Seine Aufregung ließ auch in Sarah ein Prickeln hochsteigen. »Geht es um die Pacht? Hast du einen Hof gefunden?«
»Ich bin auf eine Anzeige gestoßen – ein Bauernhof in Bettlach. Der Besitzer verlangt mehr Pacht, als Vater mir zugesagt hat, aber ich glaube, ich kann Vater überzeugen, wenn du mir beistehst. Wirst du?«
»Natürlich!« Bettlach – das war fast so gut wie Grenchen. Sarah umschloss seine Hände mit ihren. Es waren schlanke, kräftige Hände, dazu geschaffen, sich um die Tiere auf dem eigenen Hof zu kümmern. »Ich freue mich für dich.«
»Und ich erst! Ich hoffe, es ist kein Traum, aus dem ich erwache, bevor er in Erfüllung geht.«
»Er wird in Erfüllung gehen! Wann willst du mit deinem Vater sprechen?«
»In drei Tagen habe ich ein Gespräch mit dem Bauern, dann wollte ich am übernächsten Mittwoch nach Grenchen kommen und es ihm am Abend sagen. Kommst du mit?«
»Und ob ich das tue!«
Paul lächelte. »Und ich werde am Dienstag an dich denken. Ich bin mir sicher, dass das Gespräch mit Flury gut geht. Du hast Talent, das habe ich damals gleich gesehen. Mach dir keine Sorgen.«
Die liebevolle Zuversicht in Pauls Stimme tat gut. Sarah lächelte ihm zu, dann stürzten sie sich auf die vernachlässigten Kuchenstücke und bestellten eine zweite Runde Kaffee. Eine
viel zu kurze Stunde später war es Zeit für Pauls Zug. Sarah umarmte ihn und sah ihm nach, wie er gen Süden zum Bahnhof lief. Wie glücklich er wirkte! Das war es, was sie sich für ihn gewünscht hatte, und sie würde ihm beim Gespräch mit seinem Vater jede Unterstützung gewähren, die er brauchte. Ein scharfer Wind fegte durch ihre Kleider. Sie zog den Mantel fester um den Körper und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Dutt befreit hatten. Doch die Wärme, die sie im Hallgarten verspürt hatte, hielt sich. Wenn Paul an sie glaubte, tat sie das auch. Und so, wie er ihr Kraft gab, würde sie ihm helfen, sein Ziel zu erreichen.
Im Kabuff von Lehrmeister Flury roch es nach Tabak, Öl und heiß gelaufenem Metall. Wanduhren, Standuhren und Taschenuhren, Wecker und Pendeluhren in verschiedenen Stadien der Reparatur lagerten auf dunklen, schmutzigen Regalen; dazwischen stapelten sich kreuz und quer Werkzeuge. Was die Ordnung anging, die ein Uhrmacher halten sollte, gehörte Sarahs Lehrmeister zur Wasser predigenden, aber Wein trinkenden Sorte.
»Schauen wir mal, mein schönes Kind.« Flury erhob sich von seinem Stuhl und ging auf und ab. Trotz der inneren Anspannung sah Sarah ihm belustigt zu. Jedem anderen hätte sie diese Formulierung übel genommen – sie war schließlich schon sechsundzwanzig Jahre alt! Doch bei ihm kam darin nur väterliches Wohlwollen zum Ausdruck, und das konnte sie gebrauchen.
Wie immer, wenn ihr klein gewachsener, kugelförmiger Lehrmeister über die hehren Prinzipien der Uhrmacherei sprach, schritt er weit aus, reckte den Zeigefinger und das Kinn in die Höhe und dozierte mit einer Inbrunst, die klarmachte,
dass es für ihn nichts Heiligeres gab. Allerdings musste sie sich auch heute gedulden, denn er kam selten direkt auf ein Thema zu sprechen. Jetzt ließ er sich zuerst über den Zustand der Uhrenindustrie im Allgemeinen und dem Ergehen der Gebrüder Schild AG im Besonderen aus; ein von ihm gern beackertes, schier unerschöpfliches Thema, weil – so viel hatte sie schon gelernt – das Uhrenmetier nicht besonders stabil war.
»1873 ist der Absatz zurückgegangen«, sagte Flury. »Die Amerikaner produzieren billiger als wir, aber sie verstehen weniger von den Feinheiten unserer Metiers. Wir müssen ...« Er stockte mitten im Satz, den Zeigefinger immer noch gen Himmel erhoben, und nestelte an seinem Kneifer. Dann warf er Sarah einen scharfen Blick zu, als hätte er zwischenzeitlich vergessen, dass sie noch da war.
»Was wollte ich sagen? Ach ja: Wir müssen unsere Stärken ausspielen. Aber jetzt zu Ihrem ersten Halbjahr!« Er kehrte zurück an sein Pult, setzte sich und faltete seine Hände. »Wie gefällt es Ihnen bisher?«
»Sehr gut!« Sarah spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie hatte nicht so enthusiastisch klingen wollen. »Das Drehen und Schleifen fand ich nicht so interessant«, sagte sie rasch. »Ich konnte es kaum erwarten, mit den Uhren zu arbeiten.
Aber jetzt bin ich glücklich mit der Arbeit.«
»Das ist gut.« Er musterte sie. »Und schämen Sie sich niemals für Ihre Leidenschaft! Sie werden sie brauchen. Es wird
Momente geben, in denen Ihnen die Arbeit langweilig vorkommt oder in denen Sie denken, dass Sie es nicht schaffen.
Dann brauchen Sie jede Unze Begeisterung, die Sie jetzt haben.«
Sarah lächelte. Sein Eifer gefiel ihr, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr die Arbeit einmal nicht mehr gefallen könnte.
Er nickte, als wüsste er genau, was sie gerade gedacht hatte, griff nach einem Heft auf seinem Tisch, schlug es auf und fuhr mit seinem ölfleckigen Finger über die Zeilen.
»Dann wollen wir mal sehen. Sie haben sich gut eingearbeitet, sind zuverlässig, pünktlich und mit ganzem Herzen dabei, schwatzen nicht herum und überdehnen die Pausen nicht. In der Theorie« – er sah kurz zu ihr hoch – »sind Sie weiter als die meisten Lehrlinge, die ich bisher unterrichtet habe, sowohl in der Mechanik als auch im geometrischen Zeichnen. Exzellent! Das habe ich bei einer Frau noch nie gesehen.«
Sarahs Kopf fühlte sich an wie ein Heißluftballon. Sie strahlte ihn an, ohne zu wissen, was sie sagen sollte.
Flury hatte seinen Kopf derweil wieder über sein Heft gesenkt. »Kommen wir zur Praxis. Die Schwarzwälder Uhr, die wir im ersten Vierteljahr hatten, haben Sie ausgezeichnet bearbeitet. Der Umgang damit ist Ihnen leichtgefallen. Der Pendelwecker ...«
Seine Stirn legte sich in Falten, und Sarah spürte plötzlich die harte Rückenlehne ihres Stuhls. »Ich weiß, ich ...«
»Der Kratzer ist nicht weiter schlimm, aber Sie haben die Zeiger nicht ausreichend befestigt. Das würde höchstens einen Monat halten. Sonst sind Sie in der Praxis gut unterwegs, aber nicht so herausragend wie Herr Leibundgut. Sie können sich noch steigern.«
Sarahs Hals wurde trocken wie die Luft in Flurys Kabuff. Aber ihr Lehrmeister war noch nicht fertig. »Außerdem müs-
sen Sie an Ihrem Französisch arbeiten. In unserer Gegend ist das wichtig, der Jura ist nahe. Ihre Aussprache ist mangelhaft, ebenso Ihr Wortschatz. Im Moment mögen Sie beides noch nicht brauchen, aber vielleicht arbeiten Sie einmal in einem Geschäft. Ich werde Sie nicht mit Herrn Leibundgut vergleichen; seine Mutter ist eine Welsche. Aber Sie haben auch sonst aufzuholen; den meisten Grenchnern ist das Französische geläufig.« Er schloss das Heft und stand auf, Sarah tat es ihm nach. Prüfend musterte er sie; seine Augen, auf der Höhe ihrer Nase, blickten scharf durch den Kneifer.
»Was ist mit Ihnen? Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, oder dachten Sie, Sie würden der erste sein?« Er lächelte gutmütig und reichte ihr die Hand. »Adieu, schönes Kind. Sie sind auf gutem Wege.«
Ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, nickte Sarah ihrem Lehrmeister zu und machte sich auf den Heimweg. Es hatte schon eingedunkelt und war eisig, der Himmel ein dunkler Teppich voller kalt funkelnder Sterne. Nach kurzer Zeit brannten ihre Wangen. Als sie am Bären mit seinen erleuchteten Fenstern vorbeikam, warf sie einen Blick hinein. Mehr als ein blauer Kittel war zu sehen; Fabrikarbeiter beim Feierabendumtrunk. Gemütlich und heimelig sah es aus. Auf sie wartete heute niemand, Rosa war noch bei Schneiders.
Die Kälte auf ihren Wangen breitete sich langsam in ihrem Körper aus, und sie hastete voran. Etwas beklommen war ihr schon zumute. Bisher war alles wie von selbst gegangen. War das der Anfang aller Schwierigkeiten? Irgendwie war sie froh, dass sie Fabrice jetzt nicht begegnen musste; sicher hatte er in allen Fächern brilliert.
Zehn Minuten später erreichte sie Rosas Häuschen. Während sie aufatmend den Mantel auszog, fiel ihr Blick auf einen Brief auf der Kommode im Eingangsbereich. Er war von Vater. Die Ablenkung kam wie gerufen; es brachte nichts, zu sehr zu grübeln. Sie eilte in ihr Zimmer, brach das Siegel und begann zu lesen. Wie es Vaters Art war, geizte er mit Informationen zur Familie. Stattdessen informierte er sie über die Plage der Christkatholiken in Luzern, über die mehrheitlich pessimistischen Berichte seines Freundes Segesser aus dem eidgenössischen Parlament und über sein Lieblingsthema: den bevorstehenden zweiten Urnengang zur Bundesrevision. Sarah seufzte innerlich. Es war nicht so, dass sie sich dafür nicht interessierte, aber warum suchte er sich für diese Tiraden ausgerechnet sie aus? Schließlich hatte er einen Sohn vor Ort, mit dem er sich austauschen konnte – der im Gegensatz zu ihr wählen durfte. Aber sie wusste nur zu gut, dass Daniel in dieser Hinsicht kein guter Gesprächspartner war. Ihn interessierte der nächste Stammtisch seiner Mittelschulverbindung mehr als Politik. Widerwillig las sie weiter, stockte jedoch, als sie den Namen Hannes las. Sein mysteriöser Tod hatte sich gerade erst zum zweiten Mal gejährt, und obwohl sie mit Paul glücklich war: Die Erinnerung an ihre erste Liebe, ihren einstigen Verlobten, schmerzte jedes Mal aufs Neue. Ob die Polizei bei den Untersuchungen vorangekommen war? Sie beugte den Kopf tiefer über den Brief.
Wie ich dir erzählt hatte, hat die Polizei die Ermittlungen zu Hannes’ Todesfall wieder aufgenommen. In den letzten Monaten hat sie regelmäßig Anzeigen in der Zeitung veröffentlicht, um Personen zu fin-
den, die am Tag des Unfalls auf dem Gütsch waren und etwas gesehen haben. Doch leider hat sich bisher niemand gemeldet. Ich halte dich auf dem Laufenden.
Wie geht es dir? Was macht die Uhrmacherei? Ich hoffe, du hast nach wie vor Freude an der Arbeit und machst deinen Lehrmeister zufrieden. Ich bin mir sicher, dass du zu seinen Besten gehörst!
Sarah legte den Brief auf ihren Sekretär. Wie schnell einen Vergangenheit und Gegenwart doch einholen konnten! Es hatte sie geschmerzt, an Hannes’ Todestag nicht an seinem Grab stehen zu können. Stattdessen war sie auf dem hiesigen Friedhof spazieren gegangen, und wie immer hatte ihr ein Besuch dieser Gedenkstätte irdischer Vergänglichkeit wohlgetan.
Aber richtig gut würde es ihr erst gehen, wenn sie wusste, wie er an den Rand jenes Felsens gelangt, wie er abgestürzt war.
Warum er seine Sonntagkleidung getragen hatte, wo sie doch zusammen hatten wandern wollen …
Sie versuchte, diese Gedanken aus ihrem Gedächtnis zu bannen, aber es fiel ihr schwer. Zwei Jahre; das klang nach einer langen Zeit, in der eine solche Wunde zumindest ansatzweise heilen könnte. Der Schmerz, den sie beim Anblick seines zerschmetterten Körpers im Schnee empfunden hatte, war fast so frisch wie damals. Wann würde die Erinnerung sie nicht mehr so mitnehmen? Und doch hatte sie auch Grund zur Dankbarkeit: Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sich ihr Herz so rasch für jemand anderen öffnen würde.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Vaters Brief zu, und ihr Blick wanderte zu den letzten Zeilen. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Vater glaubte an sie. Zwar
spürte sie einen leichten Druck, weil er erwartete, dass sie Erfolg hatte, dass sie herausragte. Aber das machte nichts – das erwartete sie ebenso.
Entschlossen erhob sie sich, setzte sich vor ihren Spiegel und bürstete energisch ihre dunklen Locken. Ab morgen würde sie früher aufstehen und sich in den praktischen Arbeiten üben; schließlich hatte Rosa ihr eine Rumpelkammer dafür frei geräumt, und ihr selbst angefertigtes Werkzeug nahm sie wie alle Uhrmacher mit nach Hause. Heute Abend würde sie sich die Arbeitsschritte und Griffe einprägen. Bald konnte sie auch mit Paul wieder darüber sprechen; er hatte die Lehre ebenfalls gemacht und konnte ihr weiterhelfen. Und wenn sie vorher ein mitfühlendes Ohr brauchte: Morgen traf sie Pauline und Marie zum Jassen, darauf freute sie sich schon. Aber jetzt war erst einmal Lernen angesagt. Sie beugte sich mit neuem Eifer über ihr Lehrbuch. Es gab nichts, was man mit harter Arbeit nicht schaffen konnte!
»Wie war das Wiedersehen der Liebenden letzten Sonntag?«
Sarah folgte der spitzbübisch lächelnden Pauline ins Esszimmer, wo eine dampfende Kanne auf dem Tisch stand. Schwerfällig ließ sich Pauline auf die Bank fallen. »Marie, kannst du Sarah versorgen? Mir ist die Puste ausgegangen.«
Marie, die sich auf der Eckbank fläzte, setzte sich auf und reichte Sarah eine dampfende Tasse Kaffee.
»Du bist ein Schatz!« Sarah gesellte sich zu Marie auf die Bank, griff nach der Tasse und genehmigte sich einen tiefen Schluck. »Das tut gut! Die Januarbise ist übel. Ich komme mir vor, als wäre ich bis auf die Knochen gefroren.«
»Vom letzten Sonntag muss doch noch ein bisschen Wärme übrig sein«, erwiderte Pauline schmunzelnd. »So ging es mir jedenfalls mit Adolf, als er mir den Hof machte.«
»Das glaube ich dir aufs Wort!« Sarah musterte ihre Freundin fürsorglich. »Aber sag, wie geht es dir? Sollte das Kind nicht schon da sein?«
»Wenn’s nach mir geht, schon.« Pauline seufzte. »Wer weiß, vielleicht kommt es während unserem Jass – mir wäre es ganz recht!«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
»Vielleicht helfen ein paar aufregende Neuigkeiten«, erwiderte Sarah. »Stellt euch vor: Paul hat in Bettlach einen Hof gefunden, den er pachten will.«
Pauline griff nach Sarahs Hand und drückte sie. »Das ist ja wundervoll!«
»Nicht wahr? Jetzt muss er nur noch seinen Vater überzeugen. Der Pachtbetrag liegt über der Summe, die ihm Herr Schneider versprochen hat. Aber ich werde ihm helfen und meinen Charme spielen lassen.« Sarah nahm einen weiteren Schluck Kaffee und lehnte sich auf der Bank zurück. Das Esszimmer von Schild-Hugis wirkte mit seinen Holzwänden heimelig, und die Eckbank aus Kirschholz bot genug Platz für ihre Treffen.
»Wie war deine erste Woche auf Breidenstein?«, fragte Sarah Marie.
»Es ist ein wundervolles Institut! Der Direktor, die Lehrer und die Schüler sind sehr nett.« Marie hielt kurz inne. »Aber die anderen Dienstmädchen schauen mich komisch an«, sagte sie schließlich. »Wahrscheinlich wissen sie, was ich vorher gemacht habe. Daran muss ich mich noch gewöhnen.«
Es wurde still am Tisch. Mitfühlend betrachtete Sarah die Freundin mit den rosigen Wangen und den glänzenden hellbraunen Haaren. Von Weitem sah sie immer noch wie kaum zwanzig aus, aber wenn man genauer hinsah, wirkte sie älter. Die dunklen Schatten um die mandelfarbenen Augen hatten sich abgeschwächt, aber verschwunden waren sie noch nicht. Letztes Jahr hatte Marie noch im Fleur, Grenchens einzigem Bordell, gearbeitet. Sarah wurde immer noch mulmig, wenn sie an die Zeit zurückdachte, die sie dort als Dienstmädchen in geheimer Mission verbracht hatte, aber das war natürlich nichts im Vergleich zu den langen Jahren, die Marie als Prostituierte gearbeitet hatte.
Seit jenen dramatischen Tagen, in denen sich die Todesfälle letztes Jahr aufgeklärt hatten, hatten Pauline und Sarah, die enge Vertraute und Freundinnen geworden waren, immer wieder versucht, Marie eine andere Arbeit zu verschaffen. Hartnäckig hatte die Freundin jeden Vorschlag abgelehnt, ohne wirklich begründen zu können, was ihr daran nicht gefiel. Sie hatten nur vermuten können, dass Stolz und Angst vor der Veränderung sie gelähmt hatten. Doch als der Institutsleiter auf Breidenstein ihr auf Zusprache von Paulines Mann Adolf eine Stelle als Dienstmädchen angeboten hatte, hatte sie zur Freude der Freundinnen zugesagt. Dass es nicht leicht werden würde, war klar gewesen; hoffentlich gab Marie nicht auf.
»Wie ist die Arbeit? Kommst du zurecht?«, fragte Sarah.
»Es ist körperlich anstrengend, aber das war es früher auch.«
Sarah schluckte trocken und warf Pauline einen Blick zu. Manchmal beschwor Marie mit einer harmlosen Bemerkung
schwer verdauliche Bilder aus der Welt der Freudenmädchen herauf. Es war schwierig, darauf richtig zu reagieren, denn das Letzte, was sie wollten, war, dass Marie sich einmal mehr ausgeschlossen fühlte.
»Ich bin mir sicher, du gewöhnst dich daran. Direktor Breidenstein kann froh sein, dass du für ihn arbeitest! Und die Mädchen werden dich bald wie eine der Ihren behandeln.«
Pauline griff nach Maries Hand und lächelte. »Grüß Dorothea von mir; sie hat früher für uns gearbeitet.«
Maries eben noch sorgenvolle Züge hatten sich gelockert.
Fröhlich griff sie nach der Kaffeekanne. »Darauf trinke ich noch einen!«
Lächelnd betrachtete Sarah Pauline, das energische Gesicht und das honigblonde Haar, das im Schein der Petroleumlampe glänzte. Ihre Freundin verstand es, Menschen aufzubauen.
»Wo ist Adolf?«, fragte sie dann. »Haben wir ihn vertrieben?«
»Er trifft sich mit Obrechts.« Pauline seufzte. »Sie hatten letztens Streit wegen der Pläne der Christkatholiken, in Grenchen einen Ort für die Messe zu finden. Zum Glück muss ich nicht dabei sein.«
Adolf war eine der Führungsfiguren der neuen christkatholischen Bewegung in Grenchen, die sich wie an vielen anderen Orten der Schweiz, Süddeutschlands und Österreichs nach dem Ersten Vatikanum und dem Unfehlbarkeitsdogma, das von vielen abgelehnt wurde, formiert hatte. Pauline, die im Glauben viel Kraft fand, belasteten die Spannungen zu den früheren Glaubensfreunden in der römisch-katholischen Kirche. Ihr selbst bedeutete das nicht so viel, aber in Anbetracht
von Vaters feindlicher Gesinnung gegenüber den Christkatholiken war Sarah dankbar, dass das Thema sie und ihre Freundin bisher nicht auseinandergebracht hatte.
»Die Konflikte wirken sich bis in die Produktion der SchildFabrik aus«, erwiderte Sarah nun. »Wenn wir Rohmaterial in den Jura liefern oder bei den Bauern fertige Stücke abholen, werden die Kutschen manchmal von der Polizei aufgehalten. Wahrscheinlich meinen sie, wir bringen Waffen, für welche Seite auch immer.«
»Wechseln wir das Thema«, sagte Pauline entschlossen. »Wie war dein Halbjahresgespräch?«
»Erst gut, dann weniger. Mit meinen praktischen Fähigkeiten ist Flury nicht so zufrieden, wie ich gehofft hatte, und an meinem Französisch hat er einiges auszusetzen.«
Ein Lächeln umspielte Paulines Lippen. »Dann musst du es machen wie ich und ins Welschland gehen.«
»Du meinst, um Manieren zu lernen? Das hat bei dir doch auch nichts gebracht.«
Pauline lachte schallend. »Immerhin musste ich nicht wegen des Französischen hin. Aber genug von der Arbeit. Hat denn keine von euch pikantere Neuigkeiten?«
»Doch, ich.« Marie beugte sich vor. »Ihr habt sicher von dem vermissten Jungen gehört. Heute Morgen wurde in der Post auf Breidenstein ein Brief gefunden. Der Junge wurde entführt!«
»Entführt?«, rief Pauline entsetzt. »Und damit wartest du so lange?! Was stand in dem Brief?«
»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Marie. »Das Kanzleimädchen, das die Post verteilt, hat uns davon berichtet. Der
Brief bestand aus ausgeschnittenen Buchstaben einer Zeitung. Das ganze Haus ist in Aufruhr! Der Vater des Jungen ist auf dem Weg nach Grenchen.«
»Wie schrecklich. Waren die Landjäger schon da?«, fragte Pauline.
»Friedli ist heute aufgetaucht«, erwiderte Marie düster. »Er hat mich misstrauisch angeschaut; wahrscheinlich hat er sich aus dem Fleur an mich erinnert. Gesagt hat er nichts; sicher hatte er Angst, ich könnte ihn auch erkennen. Er hat mit dem Heimleiter und der Kanzleifrau gesprochen; die hat mir erzählt, er habe sie ziemlich wirr befragt.«
»Dass er nicht viel taugt, wissen wir vom letzten Jahr«, bemerkte Sarah trocken. »Hoffentlich holen sie Verstärkung aus Solothurn.«
»Ich halte euch auf dem Laufenden«, erwiderte Marie eifrig. »Und ihr könntet mich einmal über Mittag oder am Abend besuchen. Dann könnt ihr euch selbst einen Eindruck verschaffen.«
»Eine sehr gute Idee«, erwiderte Pauline nachdenklich. Sie runzelte die Stirn. »Ich wollte morgen Abend in die Theateraufführung auf Breidenstein, obwohl Adolf in Sorge ist wegen meines ›Zustands‹, wie er es so liebevoll nennt. Jetzt frage ich mich, ob die überhaupt stattfindet. Hast du etwas gehört?«
Marie nickte. »Die Aufführung findet statt. Der verantwortliche Lehrer hat sich dafür eingesetzt; man will die Jungen, die sich vorbereitet haben, nicht enttäuschen.«
Pauline lächelte. »Wunderbar! Dann gehe ich hin; ich brauche Luftveränderung. Kommst du mit, Sarah?«
»Ich habe es vor. Rosas Schwager Ruedi hat die Kulissen ge-
zimmert und uns eingeladen. Außerdem bin ich gespannt auf den Grenchner Hamlet. Wenn das mal gut kommt!«
»Jetzt hörst du dich wie die patrizische Stadtluzernerin an, die du mal warst.«
»Die war ich nie!« Sarah hob das Kinn. »Im Herzen bin ich seit meiner Geburt eine Grenchnerin.«
»Dann solltest du auch zu Bezirkslehrer Feremutschs Vortragsabend kommen«, erwiderte Pauline. »Es werden verschiedene Lehrer aus Breidenstein referieren. Unter anderem wird Lehrer Eberwein über die Grenchner Geschichte sprechen. Er ist ein Freund von Adolf und mir und der netteste Mensch, den man sich vorstellen kann.«
»Kann ich Paul mitbringen, falls er da ist?«
»Natürlich. Wie wäre es jetzt mit unserer Jass-Partie?«
»Unbedingt«, erwiderte Sarah eifrig. »Und da Adolf fehlt, könnten wir es mit dem Bieter versuchen, den ich euch letztens gezeigt habe.«
»Na gut«, meinte Pauline. »Aber da du den besser kennst als wir, bestehe ich auf dem französischen Kartendeck. Du musst dich sowieso daran gewöhnen.«
Sarah grinste. »In Ordnung.« Sie mischte geschickt und verteilte die Karten. Wenn es einen Glaubenskrieg gab, der in der Schweiz noch härter ausgefochten wurde als der katholische, dann war es die Frage, mit welchen Karten man einen Jass klopfte. Als Luzernerin war sie mit dem deutschen Kartendeck aufgewachsen, aber sie hatte sich wohl oder übel überzeugen lassen, auf das französische zu wechseln, das im Bernischen und Solothurnischen verwendet wurde – eine Bekehrung, die ihr Vater ihr hoffentlich nicht übel nahm.
Sie begannen mit dem Jass, und zu ihrer Freude stellte Sarah fest, dass die Freundinnen den Bieter schon sehr gekonnt spielten. Die Fehde wogte hin und her, doch am Ende siegte die Erfahrung mit dem Spiel über die Vertrautheit mit dem Kartendeck, sodass Sarah die Mehrheit der Partien für sich entscheiden konnte.
Um zehn Uhr verabschiedete sich Marie in Richtung Breidenstein, und Sarah eilte die Kirchstraße hinunter zu Rosas Häuschen. Der Abend mit den Freundinnen hatte ihr gutgetan, und sie war gespannt auf das Theaterstück. Allerdings gab die Entführung dem Abend eine beklemmende Note. Der arme Junge! Wer wohl dahintersteckte? Es konnte nicht schaden, morgen die Augen offen zu halten … Bei dem Gedanken schüttelte sie innerlich den Kopf. Hatte sie vom letzten Jahr nicht mehr als genug von Polizeiarbeit?
Die feingewandeten Besucher, die sich vor der imposanten Fassade des Instituts Breidenstein versammelt hatten, verteilten sich auf der schneebedeckten Einfahrt wie dunkle Tuschetupfer. Links und rechts des Weges erhoben sich hohe Schneewälle, die Pferdehufe und die Kutschenräder an den Fahrzeugen der Eltern, die sich die Theatervorstellung ansehen wollten, klangen gedämpft. In der Nacht war eine gewaltige Menge Schnee gefallen, und der Breidensteinpark mit seinen in den Himmel ragenden Mammutbäumen wirkte unter der glitzernden Decke wie ein verwunschenes Niemandsland. Sarah sah zu den Baumriesen hoch. Letztes Jahr hatte sie erfahren, dass Josef Girard der Ältere, neben Anton Schild der zweite Begründer der Grenchner Uhrenindustrie, das Haus als
Heilbad hatte bauen lassen. Sein Sohn Josef, ein Arzt, hatte sich damals um die Gäste seines Vaters gekümmert, der in dem Gebäude in den Dreißigerjahren auch Umstürzler aus Italien und Deutschland versteckt hatte. Unter Führung der Girards war das »Bachtelenbad« für seine Heilbäder weit über die Region hinaus berühmt gewesen, aber die Konkurrenz hatte in den letzten Jahrzehnten nicht geschlafen. So war es ein Glücksfall für Grenchen und die Girards gewesen, als der Pädagoge Wilhelm Breidenstein ihnen das Haus 1864 abgekauft hatte. Nun beherbergten die Gebäude seit bald zehn Jahren das renommierte Knabeninstitut, und beim Anblick des eindrucksvollen Gebäudes in seiner malerischen Umgebung schien eine ruchlose Entführung noch unbegreiflicher, ja geradezu surreal.
»Wunderbar sieht es aus, nicht?« Rosa strahlte. »Du hättest es als Heilbad erleben sollen, als all die feinen Herrschaften in ihren Kutschen anreisten! Und im Sommer ist es unvergleichlich schön.« Sie deutete zu den hohen Bäumen. »Dort liegen die Badeteiche. Der Weg, auf dem wir gehen, ist dann gesäumt von den schönsten Blumen. Und dann das Haus in der Ferne, mit der großen Veranda – fast wie Schloss Waldegg ob Solothurn!«
»Nur gehört es zum Glück keiner Patrizierfamilie, sondern einem ausgezeichneten Pädagogen«, erwiderte Herr Schneider, der eben neben Rosa getreten war.
Sarah lächelte. »Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herr Schneider! Und Sie haben die Kinder mitgebracht.« Sie drückte ihm und Euseb die Hand und umarmte Sophie, die neben ihrem Vater herging. Die Wangen des Mädchens leuch-
teten rot wie Bratäpfelchen, und ein erwartungsvolles Lächeln lag auf dem aufgeweckten Gesicht.
»Gut siehst du aus, Sophie! Was macht die Schule?«
»Sophie macht sich bestens, Fräulein Siegwart.« Herr Schneider nickte zufrieden. »Die neue Lehrerin hat sich in diesem halben Jahr gut eingearbeitet.«
»Aber mit dir war’s schöner!«, flüsterte Sophie deutlich vernehmbar, und ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Sarah lachte und strich dem Mädchen über den Kopf. »Kaum zu glauben, dass es ein halbes Jahr her ist seit unserem Unterricht. Nun bist du bald neun, nicht wahr? Es war eine Freude, mit dir zu arbeiten, Sophie!«
Euseb daneben reckte sich erwartungsvoll. »Ich werde bald zwölf!«
Sarah lächelte verlegen, aber auch erleichtert, weil er offenbar kein ähnliches Lob von ihr erwartete. Sie hätte es schwerlich zustande gebracht: Euseb war eine der härtesten Nüsse gewesen, die sie als Lehrerin zu knacken versucht hatte. Aber am meisten eingebrannt hatte sich in ihrer Erinnerung natürlich das Trauma, das Herrn Schneider die geliebte Frau und seinen Kinder die Mutter entrissen hatte. Auch sie selbst war in den Monaten danach regelmäßig aus Albträumen aufgeschreckt. Doch die verstreichende Zeit hatte die Wunden ansatzweise geheilt, vor allem die Besuche mit Paul bei dessen Vater und Geschwistern, bei denen sie miterleben durfte, dass sich die Kinder langsam erholten. Auch Herr Schneider sah besser aus; er hatte mehr Fleisch auf den Knochen und eine frische Gesichtsfarbe.
»Sind Sie auch ein Shakespeare-Liebhaber, Herr Schneider?«, wandte sie sich an ihren ehemaligen Dienstherrn.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nicht so mit dem Theater, aber ich möchte mich mit Breidenstein unterhalten. Ich würde Euseb nächstes Jahr gern herschicken. Der Junge hat sich in der letzten Zeit angestrengt; ich glaube, Ihre Arbeit mit ihm hat sich positiv ausgewirkt.«
»Das freut mich sehr!« Sarah lächelte. Herr Schneider war es wichtig, dass seine Kinder alle Möglichkeiten hatten, und sie hoffte, sein Wunsch würde in Erfüllung gehen. Er hatte etwas Glück verdient.
Sie näherten sich den Grüppchen vor dem Haus, die sich Richtung Außentreppe bewegten. Sarah schloss sich mit Herrn Schneider und den Kindern der Kolonne an, die sich wie ein in Taft und Seide gewandeter Tausendfüßler durch den schmalen Gang schlängelte und in einen Saal von herrschaftlichen Ausmaßen ergoss. Das Parkett trug ein Sternenmuster, an der Decke prunkten riesige Kronleuchter, und durch die hohen Fenster blickte man auf die Auffahrt zum Institut. Unter Murmeln und Rascheln setzten sich die Gäste auf die reichlich gepolsterten Stühle. Nach einigen Minuten gespannten Wartens öffnete sich die Seitentür, und Wilhelm Breidenstein trat vor sein Publikum. Der schlanke Mittvierziger mit dem braunen, gewellten Haar und dem gepflegten Bart begrüßte seine Gäste mit launigen Worten, dann öffnete sich der samtene Vorhang.
Sarah beugte sich gespannt vor. Shakespeares Hamlet – ein wahrlich gewagtes Unternehmen! Doch schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass sich unter den Breidenstein-Schülern