Forum 178/2024 – Das Magazin der IPPNW

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ippnwforum

das magazin der ippnw nr178 juni 2024 3,50€ internationale Ă€rzt*innen fĂŒr die verhĂŒtung des atomkrieges – Ă€rzt*innen in sozialer verantwortung

- Mythos „Targeted Killing“

- TĂŒrkei: Leben nach dem Erdbeben

- GefÀhrliche Atom-Fantasien

Klimaschutz ist Gesundheitsschutz:

FĂŒr ein gutes Leben in planetaren Grenzen

Anesu Freddy / UNDP Zimbabwe / CC BY-NC 2.0 Deed

AufrufandieneugewÀhltenEU-Abgeordneten

DieEUbrauchteineeigene atomareAbschreckung!

JoschkaFischer(GrĂŒne),ehem.Bundesaußenminister NukleareAbschreckungistein unumgĂ€nglichesElementder VerteidigungdeseuropĂ€ischen Kontinents!

EmmanuelMacron,PrÀsidentderRepublikFrankreich Wirbrauchendie europÀischeAtomwaffe!

ManfredWeber,FraktionsvorsitzenderderEVP

HelfenSieuns,dieEurobombezuverhindern!

JedeatomareAufrĂŒstungderEUwĂ€reeinmassiver VerstoßgegendenNichtverbreitungsvertragund wĂŒrdedasRisikoeinesAtomkriegesweitererhöhen.

FriedenundSicherheitlassensichnichtmitnoch mehrAtomwaffenerreichen,sondernnurdurch RĂŒstungskontrolleundEntspannungspolitik.

SendenSiedaherjetztunserenAufruf »Eurobombestoppen!«andieneugewÀhlten AbgeordnetenimEuropaparlament!

AufrufanalleKandidierendenund AbgeordnetendesEU-Parlamentes

KostenloseFaltblĂ€ttermitdemAufrufkönnenSiebestellen beiOhneRĂŒstungLeben Arndtstraße31 ‱ 70197Stuttgart ‱ Tel.0711608396 ‱ orl-info@gaia.de ‱ undunter www.ohne-ruestung-leben.de/mitmachen

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FĂŒreineEuropĂ€ischeUnion ohneAtomwaffen!
SpendenfĂŒrdieseAktion:OhneRĂŒstungLeben ‱ DE96520604100000416541 EineKooperationvonOhneRĂŒstungLeben,IPPNWunddemTrĂ€gerkreis»Atomwaffenabschaffen – beiunsanfangen!«
PARTNER

Dr. Robin Maitra ist Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW.

Die ökologische Krise, von der die Erderhitzung und der Verlust der Artenvielfalt nur die bedeutsamsten A spekte sind , ist die Megakrise unseres Jahrhunderts. Von der Intaktheit unserer Umwelt hĂ€ngen menschliche Gesundheit, Wohlergehen und ProsperitĂ€t in entscheidendem Maße ab.

Inzwischen werden in fast jedem Monat und Jahr neue Hitzerekorde vermeldet. In Deutschland ist die Temperatur seit 1881 um 1,8°C gestiegen und liegt damit bereits deutlich ĂŒber den Zielen des Pariser Klimagipfels von 2015. Die Zeit wird knapper, in der ohne weitgehende BeschrĂ€nkung eigener BedĂŒrfnisse eine gutes Klimakonzept und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen wirksam werden kann.

Dieter Lehmkuhl widmet sich in seiner Analyse dem derzeitigen Rollback in der Klimapolitik: Warum handelt die Gesellschaft angesichts der ökologischen Bedrohung nicht angemessen – und was gibt es fĂŒr Lichtblicke, die einen transformativen Wandel in Aussicht stellen?

In Kenia betreffen die Auswirkungen des Klimawandels insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen. Dennis Opondo, Harrison Kuria Karime und Victor Chelashow von der IPPNW Kenia schildern, wie sich der Gesundheitsbereich auf die Anforderungen der Klimakrise vorbereitet. Wir berichten auch ĂŒber Klimaschutzmaßnahmen im deutschen Gesundheitswesen: Hier haben sich die ersten Gemeinden auf den Weg gemacht, beteiligte Akteure zu vernetzen und regionale AktionsplĂ€ne zu entwickeln.

Laura Wunder gibt einen Überblick ĂŒber die verheerenden Umweltauswirkungen des Krieges in Gaza. So hatten Anfang 2024 70 Prozent der Einwohner*innen Gazas kein sauberes Trinkwasser mehr. Über dies und vieles mehr berichtete der britische Geograf Benjamin Neimark in einem Onlinevortrag, den er im April 2024 bei der IPPNW hielt.

Die Fotos zu diesem Forum-Schwerpunkt stammen vom UN Development Programme und zeigen BĂ€uerinnen aus Simbabwe, die sich ĂŒber klimafreundliche Landwirtschaft fortbilden. Frauen – die in der Landwirtschaft lange marginalisiert waren – treiben die Transformation des Sektors an. Sie stellen sich den Herausforderungen der Klimakrise und entwickeln wirtschaftliche UnabhĂ€ngigkeit und Resilienz.

Eine anregende LektĂŒre wĂŒnscht –Ihr Dr. Robin Maitra

3 Grafik: Freepik.com EDITORIAL
4 IAEA-Gipfel: GefÀhrliche Atom-Fantasien 16
Abschiebung aus der Psychiatrie Klimabewegung: Wie geht es weiter? Adiyaman: Leben nach dem Erdbeben 8 Mythos „Targeted Killing“ 10 Iran-Israel: FlĂ€chenbrand mit atomarem Eskalationspotential 12 „We are survivors“: ICAN-Bildungsreise nach Kasachstan 14 Die nukleare Kette: Atomtests in Semipalatinsk 15 GefĂ€hrliche Atom-Fantasien 16 Aus der Psychiatrie in den Abschiebeflieger 18 Simbabwe: BĂ€uerinnen im Aufwind 20 Kenia: Klima und Gesundheit 22 Schwierige Zeiten fĂŒr Klima- und Umweltschutz 24 Hitzeschutzmaßnahmen im deutschen Gesundheitswesen 27 Klima- und Umweltfolgen des Gazakrieges 28 UN Civil Society Conference in Nairobi 30 Editorial 3 Meinung 5 Nachrichten 6 Aktion 31 Gelesen, Gesehen 32 Gedruckt, Geplant, Termine 33 Gefragt: Rolf Bader 34 Impressum/Bildnachweis 33 INHALT THEMEN SCHWERPUNKT WELT RUBRIKEN 24 18 24 Saulo Zayas / pexels.com © Eric de Mildt / Greenpeace
UnverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig:
Im Mai 2024 kĂŒndigte der russische PrĂ€sident Wladimir Putin atomare Übungen an der ukrainischen

Grenze

an. Die IPPNW warnte erneut vor einer Eskalation des Ukrainekrieges zum Atomkrieg.

Dr. Inga Blum ist Mitglied im internationalen Vorstand der IPPNW.

Alle Atomwaffenstaaten mĂŒssten sich in einem ersten Schritt vertraglich verbindlich verpflichten, auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten und Atomwaffen aus der höchsten Alarmbereitschaft zu nehmen. Mit diesem Vorschlag, die chinesische Atomwaffendoktrin des „No first use“ aufzugreifen, sollten die Atomwaffenstaaten USA, Großbritannien und Frankreich auf Russland zugehen. Ein solches Vorgehen könne zudem die geopolitische RivalitĂ€t zwischen China und den USA entspannen.

„Taktische“ Atomwaffen sind bei weitem nicht harmlos – sie können bis zu 20 Mal zerstörerischer sein als die Bombe, die die USA auf Hiroshima abgeworfen haben. Damit sollen die russischen AtomĂŒbungen MilitĂ€rpersonal darauf trainieren, innerhalb von Sekunden Massenmorde an Zivilist*innen zu begehen.

Die glaubhafte Drohung mit Atomwaffen ist ein integraler Bestandteil der nuklearen Abschreckung. Alle Atomwaffenstaaten ĂŒben regelmĂ€ĂŸig Einsatzszenarien mit Atomwaffen, modernisieren ihre Arsenale und entwickeln die politischen Rahmenbedingungen, um Atomwaffen als glaubhaftes Mittel der Außenpolitik zu stĂ€rken. Die jĂŒngsten russischen Drohungen wie auch die jĂ€hrlichen Steadfast-Noon-Manöver der NATO oder die nordkoreanischen Raketentests sollen genau diesen Zweck erfĂŒllen.

Ein nĂŒchterner Blick auf diese Entwicklungen zeigt, dass Atomwaffen als Instrument der EinschĂŒchterung und Erpressung funktionieren, nicht als Stabilisierungsfaktoren. Solange Atomwaffen als legitimes Mittel der Außenpolitik gelten, besteht die Gefahr, dass Staatschefs wie Putin oder Kim Jong Un diese Waffen auch einsetzen. Drohungen mit Atomwaffen sollten daher konsequent und kategorisch verurteilt werden, um die Waffen und deren Besitzerstaaten zu stigmatisieren.

Um jedoch glaubhaft nukleare Drohungen zu verurteilen, ist der Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) nötig. Der AVV ist der einzige multilaterale Vertrag, der Atomwaffen verbietet und einen konkreten Fahrplan hin zu einer Welt ohne Atomwaffen bereit hĂ€lt. Wenn wir Atomwaffen delegitimieren wollen, mĂŒssen wir dafĂŒr sorgen, dass alle Staaten dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten.

5 MEINUNG

Die IPPNW öffnet sich fĂŒr weitere Gesundheitsberufe

Die IPPNW öffnet sich erstmals seit ihrer GrĂŒndung im Jahr 1982 fĂŒr andere Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen. Das haben die Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinstudierenden auf der Mitgliederversammlung am 27. April 2024 in Frankfurt am Main beschlossen. Neben Medizinstudierenden und approbierten Psycholog*innen sind nun unter anderem auch PflegekrĂ€fte, Apotheker*innen, medizinisch-technische Assistent*innen, Hebammen oder NotfallsanitĂ€ter*innen eingeladen, Vollmitglied bei der IPPNW zu werden.

Die Ă€rztliche Sonderstellung, die die Ärzteschaft im Medizinsystem frĂŒher hatte, habe so keinen Bestand mehr, lautete die BegrĂŒndung. Heute gebe es eine starke Akademisierung auch anderer Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Damit folgt die deutsche Sektion den vielen internationalen IPPNW-Sektionen nach, die diesen Schritt bereits getan haben. So zum Beispiel die US-amerikanische Sektion „Physicians for Social Responsibility“ oder die britische Sektion „Medact“.

Die IPPNW engagiert sich fĂŒr eine menschenwĂŒrdige Welt frei von atomarer Bedrohung und fĂŒr Frieden weltweit. Sie setzt sich ein fĂŒr die Ächtung jeglichen Krieges, fĂŒr gewaltfreie, zivile Formen der Konfliktbearbeitung, fĂŒr den Erhalt unserer natĂŒrlichen Lebensgrundlagen und die gerechte Verteilung von Ressourcen sowie fĂŒr ein soziales und humanes Gesundheitswesen.

Mehr im Forum intern, S.8f.

UN: IPPNW fordert ReprÀsentanz atomwaffenfreier Staaten

AnlÀsslich der Civil Society Conference der Vereinten Nationen, die am 9. und 10. Mai 2024 in Nairobi (Kenia) stattfand, mahnte die IPPNW Deutschland weitreichende Reformen in der Struktur der UN an. Die Vereinten Nationen seien in ihrer jetzigen Form nicht in der Lage, angemessen auf die existenziellen Bedrohungen durch Atomwaffen oder die Klimakrise zu reagieren.

Die fĂŒnf VetomĂ€chte im UN-Sicherheitsrat sind alle Atomwaffenstaaten, die zwar den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet haben, aber die daraus resultierende Verpflichtung zur AbrĂŒstung der Atomwaffen bis heute nicht eingelöst haben. Die IPPNW fordert daher eine stĂ€rkere ReprĂ€sentanz der atomwaffenfreien Staaten im UN-Sicherheitsrat. Daher solle ein Staat, der den Atomwaffenverbostvertrag unterzeichnet habe, in die Gruppe der stĂ€ndigen Mitglieder aufgenommen werden.

Der UN-Atomwaffenverbotsvertrag und der Prozess, wie dieser in Kraft getreten ist, könne als Wegweiser dienen, um die notwendigen VerÀnderungen in der Struktur des derzeitigen Sicherheitsrates einzuleiten und atomwaffenfreien Stimmen eine Vertretung im Sicherheitsrat zu geben.

An der Konferenz nahmen ĂŒber 500 NGOs von allen fĂŒnf Kontinenten, Botschafter*innen und auch PrĂ€sident*innen afrikanischer Staaten teil. Die Ergebnisse der Konferenz fließen in den Zukunftsgipfel der UN in New York im im September 2024 ein.

Mehr auf S. 30 und 34 sowie unter: www.un.org/en/summit-of-the-future

Zivilgesellschaft ist gemeinnĂŒtzig!

Über 4 05.000 Menschen haben seit dem Attac-Urteil die Unterschriftensammlung „Zivilgesellschaft nĂŒtzt der Gemeinschaft: Politische Beteiligung ist gemeinnĂŒtzig!“ unterschrieben, die die Allianz „Rechtssicherheit fĂŒr politische Willensbildung“ ins Leben gerufen hatte. Die Unterschriften sollen bald an Bundesfinanzminister Christian Lindner ĂŒbergeben werden

Im April 2014 erkannte das Finanzamt Frankfurt Attac die GemeinnĂŒtzigkeit ab, mit der BegrĂŒndung, das Netzwerk agiere zu politisch. Campact und Change.org folgten. Nacheinander verloren kleine und große Organisationen und Vereine die GemeinnĂŒtzigkeit, weil sie sich „politisch einmischen“.

Die Allianz „Rechtssicherheit fĂŒr politische Willensbildung“ ist ein Zusammenschluss von fast 200 Vereinen und Stiftungen, der sich fĂŒr ein modernes GemeinnĂŒtzigkeitsrecht einsetzt, das demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement fördert, statt es zu behindern. Aktuell sind Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich regelmĂ€ĂŸig politisch Ă€ußern, stĂ€ndig der Gefahr ausgesetzt, ihre GemeinnĂŒtzigkeit zu verlieren. Das will die Allianz Ă€ndern und Rechtssicherheit durch gesetzliche Klarstellungen schaffen: „Die Forderungen des Appells sind eigentlich das, was die Ampel-Koalition vereinbart hat. Doch im bekannt gewordenen Entwurf des Jahressteuergesetzes aus dem Hause Lindner ist nichts davon drin.“

Unterschreiben unter: zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de

6 Symbolbild: Edmund DantĂšs / pexels.com
NACHRICHTEN

Erneut Atomwaffengegner*innen wegen Sit-in vor Gericht

Wegen Zivilen Ungehorsams auf dem Atomwaffen-StĂŒtzpunkt BĂŒchel standen am 13. Mai 2024 zwei Friedensaktivist*innen vor Gericht. Die beiden hatten sich vor einem Jahr an einem gewaltfreien Sit-in beteiligt. DafĂŒr wurden sie vom Amtsgericht Cochem zu jeweils 60 TagessĂ€tzen wegen Hausfriedensbruchs verurteilt.

Die Angeklagten argumentierten, mit der atomaren Teilhabe Deutschlands und dem tĂ€glichen Üben eines Atomwaffenabwurfes durch deutsche Soldat*innen verstoße die Bundesrepublik Deutschland gegen Völkerrecht und Grundgesetz. Das Völkerrecht verbiete den Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz dieser gefĂ€hrlichsten Massenmordwaffe ohne Ausnahme. Mit der atomaren Teilhabe verstoße die Bundesrepublik Deutschland zudem gegen den Artikel 2 des Nichtverbreitungsvertrages (NPT) sowie den Einigungsvertrag (Zwei-plus-Vier-Vertrag).

„Das Grundgesetz bestimmt klar, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Bundesgesetzen vorgehen“, so Friedensaktivist Ernst-Ludwig Iskenius. Deshalb forderten die Angeklagten das Gericht auf, mit einer Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht Klarheit ĂŒber diese RechtsbrĂŒche deutscher Atomwaffenpolitik herbeizufĂŒhren. Leider lehnte es das Gericht, wie auch bei anderen Prozessen zu diesem Thema, ab, sich mit diesen Fragen zu beschĂ€ftigen.

Ärztetag

fordert Gesundheitskarte fĂŒr GeflĂŒchtete

Der 128. Deutsche Ärztetag hat Verantwortliche in Bund und LĂ€ndern aufgefordert, auf eine flĂ€chendeckende Versorgung GeflĂŒchteter mit einer elektronischen Gesundheitskarte hinzuwirken. Ein entsprechender Beschluss des Ärztetages kritisiert, dass GeflĂŒchtete bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens nur einen eingeschrĂ€nkten Anspruch auf die GewĂ€hrung von Gesundheitsleistungen haben. Die Erlangung medizinischer Leistungen sei fĂŒr sie durch den komplizierten Zugang erheblich erschwert.

Obwohl im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, „den Zugang fĂŒr Asylbewerberinnen und Asylbewerber zur Gesundheitsversorgung unbĂŒrokratischer zu gestalten“, hat die Ampelkoalition die Asylgesetzgebung massiv verschĂ€rft. Anfang des Jahres hat sie auch den Zeitraum, in dem FlĂŒchtlinge geringere Leistungen beziehen, von 18 auf 36 Monate verlĂ€ngert –diese Änderung werde zur erheblichen VerlĂ€ngerung der derzeit bereits hohen Wartezeiten im Gesundheitsbereich fĂŒhren. Damit bestehe die Gefahr, dass die Verschleppung notwendiger Behandlungen zu einer vermeidbaren Verschlimmerung von KrankheitsverlĂ€ufen und zur Chronifizierung fĂŒhre. Eine elektronische Gesundheitskarte fĂŒr GeflĂŒchtete mit definierten Leistungs- und Abrechnungskriterien vereinfache und verbessere die Behandlung GeflĂŒchteter. Sie erleichtere den Zugang zur Gesundheitsversorgung wĂ€hrend der Wartezeit und könnte zumindest die negativen Konsequenzen der jetzt beschlossenen Ausweitung des Asylbewerberleistungsgesetzes etwas abmildern.

IPPNW kritisiert Einreiseverbot fĂŒr britisch-palĂ€stinensischen Arzt

Am 12. April 2024 wurde dem britischpalĂ€stinensischen Chirurgen Dr. Ghassan Abu Sittah, Rektor der UniversitĂ€t Glasgow, die Einreise nach Deutschland verweigert. Die IPPNW protestierte gegen die verweigerte Einreise und das politische BetĂ€tigungsverbot in einen Brief an Bundesinnenministerin Faeser. Sie forderte die Bundesregierung auf, offenzulegen, auf welche rechtliche Grundlage sie sich stĂŒtze.

Abu Sittah ist ein mehrfach ausgezeichneter plastischer Chirurg, Experte fĂŒr traumatische Verletzungen und war bereits an vielen KriegsschauplĂ€tzen im Einsatz. Auf dem PalĂ€stinakongress in Berlin wollte er ĂŒber seine TĂ€tigkeit fĂŒr Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Shifa- und im Ahli-Krankenhaus in Gaza berichten, wo er sechs Wochen lang Verwundete behandelt hat.

Abu Sitta hatte unter anderem ĂŒber die ZustĂ€nde im Al-Shifa-Krankenhaus berichtet. Dort ist in den letzten Wochen ein schreckliches Ausmaß an Zerstörung ans Licht gekommen. Es gibt Berichte ĂŒber den Fund von 300 Toten, Folter und Massenexekutionen. Laut Augenzeugen begrub das israelische MilitĂ€r Leichen mit Raupenfahrzeugen. Mitarbeiter*innen einer benachbarten MSF-Klinik bestĂ€tigten diese Angaben. Das Al-Shifa-Krankenhaus war mit ca. 700 Betten eines der grĂ¶ĂŸten und wichtigsten KrankenhĂ€user des Gazastreifens.

Inzwischen hat das Verwaltungsgericht Potsdam in einem Eilbeschluss das Schengen-Einreiseverbot fĂŒr den Arzt gekippt. Diese Entscheidung hat EU-weite Bedeutung.

7 Videostill von Democracy Now NACHRICHTEN

Adiyaman: Leben nach dem Erdbeben

Zu Besuch bei der Ärzte- und Anwaltskammer in der Krisenregion

Unsere kurdischen Freunde aus Diyarbakir arbeiten mit ihren NGOs in Adiyaman. Letztes Jahr war eine Reise dorthin fĂŒr uns nicht möglich. In diesem Jahr konnten wir uns einen Eindruck verschaffen. Die Fahrt von Diyarbakir dauert etwa zweieinhalb Stunden. Zwei kurdische Freund*innen fuhren uns, zwei weitere kamen in Adiyaman dazu. Wir hatten im MĂ€rz 2024 Termine bei der Rechtsanwaltskammer, einem Kinderprojekt, bei der Ärztekammer, bei einer Plattform fĂŒr die Erdbebenhilfe verschiedener NGOs und der Gewerkschaft fĂŒr den Öffentlichen Dienst KESK.

Von unseren Fahrzeugen aus konnten wir einen Eindruck von den Zerstörungen und BeschĂ€digungen und vom Ausmaß des Wiederaufbaus gewinnen. Wir sahen viele BaulĂŒcken, teilweise noch mit Geröll. Viele HĂ€user erschienen nur auf den ersten Blick intakt. Auf den zweiten Blick sahen wir, dass sie Risse hatten. Dennoch waren sie teilweise bewohnt. Bauarbeiten konnten wir auch sehen, allerdings nach meinem Eindruck nur in mĂ€ĂŸigem Umfang. SpĂ€ter hörten wir bei unseren GesprĂ€chen, dass der Wiederaufbau nur schleppend vorankomme.

Adiyaman hatte vor dem Erdbeben rund 550.000 Einwohner*innen. Von verschiedener Seite hörten wir, dass die tĂŒrkische Regierung die Zahl der Toten mit 9.000 beziffere, tatsĂ€chlich jedoch zwischen 78.000 und 80.000 Menschen ums Leben gekommen seien. Dies sei eine grobe SchĂ€tzung von NGOs, die Statistiken ĂŒber nicht mehr erreichbare Telefon- und HandyanschlĂŒsse ausgewertet

hĂ€tten. Viele, die wir treffen, haben Angehörige verloren und leben in Containern. Vor allem die Ärzt*innen und AnwĂ€lt*innen wirken auf mich traurig und angespannt. Nur die syrischen FlĂŒchtlingskinder im Kinderprojekt sind fröhlich und zeigen uns stolz ihre Kunstwerke.

Das reprĂ€sentative BĂŒrohaus der Rechtsanwaltskammer hat das Erdbeben unbeschĂ€digt ĂŒberstanden. Aber, so erfahren wir vom PrĂ€sidenten der Anwaltskammer, 80 % der AnwaltsbĂŒros wurden zerstört. ZunĂ€chst war eine berufliche TĂ€tigkeit kaum möglich. Wie viele andere wurden auch die AnwĂ€lt*innen in Zelten und spĂ€ter Containern untergebracht und waren von tĂ€glichen Essensrationen abhĂ€ngig. Inzwischen stehen viele vor dem finanziellen Ruin: Ein Großteil ihrer Mandant*innen ist entweder ums Leben gekommen oder fortgegangen oder hat kein Geld.

Von den Ärzten werden wir vor Containern empfangen. Sie berichten uns, dass das Kinder- und Geburtskrankenhaus und andere Gesundheitseinrichtungen zerstört wurden und nur ein Krankenhaus erhalten blieb. Ca. 18.300 Menschen haben bleibende SchĂ€den erlitten. Die Ärzt*innen waren Tag und Nacht im Einsatz. Vom PrĂ€sidenten der Ärztekammer erfahren wir, er habe nach dem Verlust mehrerer Angehöriger Medikamente genommen, um arbeiten zu können. FĂŒr eine psychologische Behandlung sei gar keine Zeit gewesen.

Behinderung von HilfseinsÀtzen

Bei unserem Besuch in Van und Diyarbakir im letzten Jahr hörten wir viele Klagen,

dass der staatliche Katastrophenschutzdienst AFAD zu spÀt und unzureichend ausgestattet in die Erdbebenregion gekommen sei. Das wird auch durch unsere GesprÀchspartner in Adiyaman bestÀtigt. Ein erstes Hilfsteam sei nach vier Tagen aus Finnland eingetroffen. Als der AFAD dann dagewesen sei, habe er jegliche Zusammenarbeit mit nicht dem Regierungslager nahestehenden Organisationen abgelehnt und sie sogar blockiert.

Bei der KESK erfahren wir, die Polizei habe Vermieter von Depots fĂŒr Hilfslieferungen gezwungen, den Hilfsorganisationen zu kĂŒndigen. Hilfsteams aus Diyarbakir und Batman seien von der Polizei gestoppt und sogar zusammengeschlagen worden.

Von den Vertreter*innen der Anwaltskammer wird uns mitgeteilt, reiche GeschĂ€ftsleute seien in die ContainerstĂ€dte gefahren und hĂ€tten dort Geldgeschenke „mit einem lieben Gruß von der Regierung“ verteilt. Die Container, die regierungsnahe Kreise von AFAD erhalten hĂ€tten, seien gut ausgestattet. Dagegen habe der AFAD der Anwaltskammer fĂŒr ihre Mitglieder nur einen einzigen Container mit sehr kleinen RĂ€umen und ohne Stromversorgung zur VerfĂŒgung gestellt.

Das Leben in Containern auf engem Raum erhöht das Risiko von Krankheiten und fĂŒhrt zu Spannungen unter den Menschen, die dort wohnen. Von einer Sozialarbeiterin erfahren wir, dass ihre Organisation durch AufklĂ€rung der Familien und Verteilung von Cremes und Shampoos gegen die Ausbreitung von LĂ€usen und KrĂ€tze kĂ€mpft. Andere berichten, hĂ€usli-

8 FRIEDEN

ADIYAMAN: BÜROS IN CONTAINERN, MÄRZ 2024

che Gewalt habe extrem zugenommen. Es gibt eine hohe Rate von Scheidungen. Die Zahl der Selbstmorde, vor allem von Ă€lteren Menschen, hat sehr stark zugenommen. Bei KESK erfahren wir, dass allein im Februar 2024 zehn Menschen Selbstmord begangen haben, Selbstmordversuche nicht mitgerechnet, ein Großteil von ihnen Ă€lter als 65 Jahre. Wer die Möglichkeit dazu hat, zieht daher in andere Regionen der TĂŒrkei oder ins Ausland. Die massive Abwanderung von Ärzt*innen belastet die Gesundheitsversorgung zusĂ€tzlich.

Juristische Aufarbeitung der Verantwortlichkeit fĂŒr die Folgen des Erdbebens

Der PrĂ€sident der Anwaltskammer berichtet uns, die Gerichte begönnen nun mit Verfahren gegen Bauherren, in denen SchadensersatzansprĂŒche geltend gemacht wĂŒrden. Verfahren gegen Behördenmitarbeiter*innen, die fĂŒr die BebauungsplĂ€ne zustĂ€ndig gewesen seien, hĂ€tten die Gerichte bislang jedoch nicht zugelassen. 2021 habe es eine Untersuchung des AFAD gegeben, der vor schweren Erdbeben in Adiyaman gewarnt und eine Einstufung als Erdbebengebiet ersten Grades fĂŒr erforderlich gehalten habe. TatsĂ€chlich sei Adiyaman aber als Erdbebengebiet zweiten Grades eingestuft worden. Wegen dieser Falscheinstufung gebe es bisher vor keinem Gericht ein Verfahren. Vielmehr werde die Schuld auf den privaten Sektor, nĂ€mlich Bauherren und Architekten, abgeladen, die sich an der Einstufung als Erdbebengebiet zweiten Grades orientiert hĂ€tten.

ZU BESUCH BEIM KINDERPROJEKT

Verringerung der Bandbreite des Mobilfunknetzes

Bei unserem GesprĂ€ch mit den Vertretern der Ärztekammer und der KESK wurden wir auch darauf aufmerksam gemacht, dass die tĂŒrkische Telekommunikationsbehörde zwei Tage nach dem Erdbeben, am 8. Februar 2023 die Bandbreite des Mobilfunknetzes fĂŒr mehrere Stunden beschrĂ€nkt hat. Menschen, die unter den TrĂŒmmern lagen, hĂ€tten deshalb ihr Mobiltelefon nicht nutzen und Angehörige nicht kontaktieren können. Bei der Ärztekammer heißt es, zu jener Zeit hĂ€tten verschĂŒttete Menschen noch gelebt, die spĂ€ter erfroren seien. Meine spĂ€tere Recherche ergibt, dass die Nachrichtenagentur Reuters darĂŒber am 9. Februar 2023 berichtet und mitgeteilt hat, dass die Sperre nach zwölf Stunden wieder aufgehoben wurde.

Einer unserer GesprĂ€chspartner bei KESK erklĂ€rt, der Minister fĂŒr Transport und Infrastruktur Abdulkadir Uraloglu habe die Maßnahme in einem Interview mit einem Journalisten gerechtfertigt und erklĂ€rt, die Regierung habe sie anordnen mĂŒssen, weil andernfalls ihr Ansehen beschĂ€digt worden wĂ€re. In Ankara werde ich auf Prof. Dr. Akdeniz von der Vereinigung fĂŒr Meinungsfreiheit hingewiesen, der versucht, herauszufinden, wie und warum die Entscheidung zur Verengung des Frequenzbandes getroffen wurde. Unter Berufung auf das 2003 von der Großen TĂŒrkischen Nationalversammlung verabschiedete Gesetz ĂŒber den Zugang zur Information hat er unmittelbar nach dem Vorfall einen Antrag auf Auskunftserteilung bezĂŒglich der

Banddrosselung gestellt. Ihm wurde lediglich geantwortet: „Aufgrund der Tatsache, dass Desinformations- und Manipulationsveröffentlichungen, die den Kampf gegen die Erdbebenkatastrophen 
 direkt beeinflussen und manchmal stören, Angst, Panik und Unordnung in der Gesellschaft verursachen können, wurden im Rahmen des zehnten Absatzes von Artikel 60 des Gesetzes ĂŒber die elektronische Kommunikation Nr. 5809 die notwendigen Maßnahmen ergriffen, die vom Richter genehmigt wurden.“

Daraufhin hat Akdeniz beim 15. Verwaltungsgericht Ankara Klage erhoben und beantragt, dass ihm Kopien der maßgeblichen BeschlĂŒsse zugeleitet werden. Die Klage war erfolgreich. Jedoch ist das Verfahren noch nicht rechtskrĂ€ftig abgeschlossen. Prof. Akdeniz ist ein beharrlicher Streiter fĂŒr das Recht auf Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK. In zwei Beschwerdeverfahren vor dem EGMR war das Gericht der Auffassung, dass ihm die Opfereigenschaft im Sinne von Art. 34 EMRK fehle und die Beschwerde damit nicht zulĂ€ssig sei. Seine dritte Beschwerde ist absehbar, wenn die höheren Instanzen in der TĂŒrkei anders als das Verwaltungsgericht Ankara entscheiden.

Ingrid Heinlein ist Sprecherin der Fachgruppe Internationales der Neuen Richtervereinigung und reiste 2023 und 2024 mit der IPPNW in den SĂŒdosten der TĂŒrkei.

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Fotos: Susanne Dyhr

Mythos „Targeted Killing“

Nein zur technischen Rationalisierung von Krieg!

Dieser Beitrag stĂŒtzt sich auf die investigative Recherche des israelischen Journalisten und Filmemacher Yuval Abraham zu dem KI-gestĂŒtzten System „Lavender“, die am 3. April im israelisch-palĂ€stinensischen Magazin +972 veröffentlicht wurde. Sie folgte auf Abrahams Recherche vom November 2023 zu einem KI-gestĂŒtzten Befehls-, Kontroll- und EntscheidungsunterstĂŒtzungssystem des israelischen MilitĂ€rs (IDF), „The Gospel“, zur Markierung von GebĂ€uden, aus denen heraus HamasKĂ€mpfer operieren. „Lavender“ dagegen markiert nicht GebĂ€ude oder Landstriche, sondern Menschen. Es wird eingesetzt, um MilitĂ€rs der Hamas und des islamischen Dschihad zu identifizieren und erstellt eine Liste von Personen, die getötet werden sollen. Laut Zeugenaussagen wĂŒrden vor allem die Wohnungen angegriffen – nachts, wenn normalerweise die ganze Familie anwesend ist, da sie in den Wohnungen leichter zu lokalisieren seien. Dazu werde u.a. ein weiteres System „Where is Daddy?“ aktiviert, was die VerdĂ€chtigen verfolgt und nach Betreten des Hauses bombardiert.

Erinnerungen an den „War on Terror“

Nicht wenige Formulierungen, die Yuval Abraham und die interviewten Soldat*innen benutzen, erinnern an die Hoch-Zeit des War on Terror der USA nach dem elften September 2001. Das Töten von Familien als KollateralschĂ€den, maschinell generierte Todeslisten, die Senkung der Schwelle bei der Definition eines Terroristen, die erzeugte psychische Distanz, das falsche Versprechen von „gezielten Tötungen“, mit weniger zivilen Opfern – es liest sich fast wie ein Upgrade des US-Drohnenkrieges.

Nach 2001 wurden vom Pentagon Förderprogramme entwickelt im Bereich der rechnergestĂŒtzten sozialen Netzwerk-

analyse, bzw. den Computational Social Science (CSS), und dem Natural Language Processing (NLP), der komputativen Verarbeitung natĂŒrlicher Sprache. Datenanalyse-Unternehmen wie Palantir, die auch in weiteren Kriegen und Konfliktenderzeit eine Rolle spielen, begannen damals ihre Imperien aufzubauen. Diese ITUnternehmen spezialisierten sich auf die Überwachung von Individuen und die ZusammenfĂŒhrung getrennter DatenbestĂ€nde und wurden so zu bedeutenden Playern. „Project Maven“, SKYNET, „Gorgon Stare“, Palantirs „MetaConstellation“ in der Ukraine oder die „Artificial Intelligence Platform (AIP) for Defense“, die mit großer Wahrscheinlichkeit derzeit auch in Gaza zum Einsatz kommt, zeigen, welchen Weg Staaten und Technologieunternehmen im War on Terror einschlugen.

High-Tech-Krieg

Die Hemmschwelle, sich bei militĂ€rischen Operationen auf solche komplexen informationsverarbeitenden Systeme zu verlassen, ist drastisch gesunken. Wie in den obigen Systemen sind auch in Lavender Machine-Learning-Komponenten implementiert. Sie analysieren algorithmisch bzw. mit statistischen Methoden Daten, um Muster in ihnen zu erkennen. Diese wiederum dienen als Basis fĂŒr automatisierte Empfehlungen an FĂŒhrungs- und EinsatzkrĂ€fte, um sie auf verschiedenen Ebenen der Befehlskette bei der Entscheidungsfindung zu unterstĂŒtzen. Aus diesem Grund spricht man bei dieser Technologie auch von einer datengetriebenen.

Die IDF setzten, +972 zufolge, insbesondere in den ersten Wochen nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 großes Vertrauen in Lavender.

Doch wie beim US-amerikanischen Drohnenprogramm, das zu sehr vielen zivilen Todesopfern fĂŒhrte, so war auch in den

IDF laut den zitierten Zeugen ein Wissen um die technische FehleranfĂ€lligkeit vorhanden. Dies gilt sowohl fĂŒr rein technische Fehler, als auch fĂŒr Fehler im Erkenntnisgewinn durch KI-gestĂŒtzte Systeme zur militĂ€rischen EntscheidungsunterstĂŒtzung.

Israelische Geheimdienstmitarbeiter*innen ĂŒberprĂŒften angeblich manuell die Genauigkeit von Lavender an Zufallsstichproben und fanden eine 90-prozentige Treffergenauigkeit. Die methodische Umsetzung und die völkerrechtlichen MaßstĂ€be dieser stichprobenhaften ÜberprĂŒfung sind nicht bekannt, sodass daraus nur zu schließen ist, dass zehn Prozent möglicher ziviler Opfer in Kauf genommen wurden. Insbesondere unter Verwandten, Nachbarn, Zivilschutzbeamten und Polizisten wurden falsche Identifizierungen durch Lavender festgestellt. Ebenso bei Personen, die zufĂ€llig denselben Namen oder Spitznamen trugen oder ein Mobilfunktelefon benutzten, das zuvor einem HamasKĂ€mpfer gehört hatte.

Collateral Murder

Den interviewten Soldaten zufolge entschied die Armee in den ersten Kriegswochen, dass bei niedrigrangigen HamasMilitĂ€rs 5–20 zivile Todesopfer toleriert werden könnten. Bei ranghohen KĂ€mpfern sollen laut Bericht mehr als 100 zivile Opfer als akzeptabel angesehen worden sein. Die konkrete Zahl der tatsĂ€chlich anwesenden und getöteten Zivilist*innen wurde mit ziemlicher Sicherheit anschließend kaum ĂŒberprĂŒft.

Daniel Hale, ein ehemaliger Geheimdienstanalyst der US Air Force, der am 27. Juli 2021 zu 45 Monaten GefĂ€ngnis verurteilt wurde, weil er Regierungsdokumente durchsickern ließ, sagte, dass „bei der DrohnenkriegsfĂŒhrung manchmal neun von zehn Getöteten unschuldig“ seien:

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Harun Farocki: „War at a Distance“ (2003)

„Du musst einen Teil deines Gewissens töten, um deinen Job zu machen.“

Eine psychologische Distanz zu den potentiellen zivilen Opfern muss demnach Soldatinnen und Soldaten nicht nur antrainiert werden, sie muss auch kontinuierlich aufrechterhalten bleiben. Auch ein Töten auf abstrakter Ebene und mit rĂ€umlicher Distanz lĂ€sst viele Drohnenpilot*innen laut eigener Aussage nicht kalt. Die technischen Systeme lösen lediglich Teile von Mitleid, von Trauer oder Hass aus den Herzen der Soldat*innen. So die Aussage eines Soldaten im GesprĂ€ch mit +972: „Der stati-stische Ansatz hat etwas an sich, das Soldaten auf eine bestimmte Norm und einen bestimmten Standard festlegt. Bei diesen Operationen kam es zu einer unlogischen Anzahl von Bombenangriffen. Das ist in meiner Erinnerung beispiellos. Ich habe jedoch mehr Vertrauen in einen statistischen Mechanismus als in einen Soldaten, der vor zwei Tagen einen Freund verloren hat. Alle dort, mich eingeschlossen, haben am 7. Oktober Menschen verloren. Die Maschine hat es kaltherzig gemacht. Und das hat es einfacher gemacht.“

Maschinenmoral?

Dieser Gedankengang fĂŒhrt zu AnsĂ€tzen in der Maschinenethik, dass KĂŒnstliche Intelligenzen nicht nur Soldat*innen zu ethischen Entscheidungen verhelfen könnten, sondern dass unbemenschte KI-Systeme auch selbst dazu in der Lage seien, „auf dem Schlachtfeld in ethischerer Weise zu handeln als menschliche Soldaten (
). Sie werden sich in schwierigen UmstĂ€nden menschlicher verhalten können als menschliche Wesen“, so der bekannte Robotiker und Pentagonberater Ronald C. Arkin.

KĂŒnstliche Intelligenz hat jedoch kein Gewissen. Und fĂŒr Drohnenpilot*innen oder Soldat*innen in den Einsatzzentralen wird es immer schwerer, Gewissensentscheidungen auf Basis von KI-gestĂŒtzten Systemen zu treffen, verschĂ€rft durch die ihnen sehr wohl bekannte Auswertungs(un)genauigkeit dieser Systeme. Sie sind stĂ€ndig mit (Un-)FĂ€llen konfrontiert,

bei denen Zivilist*innen ums Leben kommen, so wie beispielsweise Zabet Amanullah, ein WahlkĂ€mpfer, der 2011 durch eine US-Drohne „versehentlich“ getötet wurde, da die Drohnenpilot*innen „auf ein Mobiltelefon zielten“, dessen Telefonnummer, als die eines wichtigen Taliban-AnfĂŒhrers verzeichnet war.

War on error

MilitĂ€risch adĂ€quate Entscheidungen zu treffen, auf Basis einer rasant steigenden Menge an zu verarbeitenden Bild-, Sensorund Aktordaten, kann im High-Tech-Krieg ohne jeweilige Vor-Interpretationen KI-gestĂŒtzter Systeme nicht mehr gewĂ€hrleistet werden. Aus dieser Notwendigkeit heraus wird die bekannte FehleranfĂ€lligkeit dieser Systeme von MilitĂ€rs hĂ€ufig billigend in Kauf genommen.

Durch die QuantensprĂŒnge in der technologischen Entwicklung der letzten Jahre stoßen Soldat*innen in High-Tech-Gefechtsfeldern bei ihren Analysen der vorliegenden Masse an Informationen jedoch noch immer an ihre sinnlichen und geistigen Grenzen, wie schon vor 10-15 Jahren: „Als bei einem Hubschrauberangriff im Februar 2011 dreiundzwanzig GĂ€ste einer afghanischen Hochzeit getötet wurden, konnten die in Nevada auf Knöpfe drĂŒckenden Bediener der AufklĂ€rungsdrohne die Schuld fĂŒr ihren Irrtum auf die InformationsĂŒberflutung schieben (...) – sie verloren den Überblick, gerade weil sie auf die Bildschirme schauten. Zu den Opfern des Bombardements gehörten auch Kinder, aber das Bedienpersonal „hatte sie inmitten des Strudels von Daten ĂŒbersehen (...).“

Was tun?

Da wir meist nicht im Detail wissen, wie unsere moderne technische Lebenswelt funktioniert, sondern nur, wie wir unser Verhalten jeweils anpassen mĂŒssen, damit technische Objekte ihre Funktionen erfĂŒllen, sind wir mehr denn je darauf angewiesen, der Technik teils blind zu vertrauen. So geht es auch Soldat*innen, die durch diese Systeme nicht nur lebensalltĂ€gliche Entscheidungen treffen mĂŒssen,

sondern Entscheidungen ĂŒber Leben und Tod. Bei Deep Learning, (also jenem KIForschungs- und Anwendungsbereich, den wir vor allem meinen, wenn wir von KĂŒnstlicher Intelligenz sprechen) können sich jedoch nicht einmal mehr die Designer*innen und Programmierer*innen selbst die inneren Funktions- und Verhaltensweisen dieser technischen Systeme erklĂ€ren. Wem also vertrauen?

Die „Fehler“ die passieren, sind trotz großer Fortschritte der Technologie noch dieselben wie vor 15 Jahren und offensichtlich nicht auszumerzen. In diesem Wissen können Soldat*innen die Verantwortung fĂŒr ihre Tötungsentscheidungen nicht an Maschinen und Systeme delegieren. Das muss auch technologiebegeisterten MilitĂ€rs und Politiker*innen und nicht zuletzt der Zivilgesellschaft bewusst sein. Insofern treffen diese eine grundlegende ethische Entscheidung, nĂ€mlich den Befehl zum Einsatz der Systeme, wissend um die Folgen und Konsequenzen ihrer Handlungen.

Wir mĂŒssen uns als Zivilgesellschaft dagegen wehren, dass sich der Glaube festigt, es sei möglich, in einer technisch erzeugten Kriegswirklichkeit autonome, informierte und dabei auch ethische Entscheidungen treffen zu können. Es ist dringend erforderlich, zu prĂŒfen, inwieweit Praktiken des Targeted Killing mit unterstĂŒtzenden KI-Systemen wie Lavender als Kriegsverbrechen betrachtet werden mĂŒssen.

Dies ist eine Kurzversion der Stellungnahme, die das Forum InformatikerInnen fĂŒr Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF), der AK gegen bewaffnete Drohnen und die Informationsstelle Militarisierung (IMI) am 29.4.2024 veröffentlicht haben: ippnw.de/bit/lavender

Die Stellungnahme wurde u.a. von Susanne Grabenhorst, Christian Heck, Christoph Marischka und Rainer Rehak erarbeitet.

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FRIEDEN

FlÀchenbrand mit atomarem

Eskalationspotential

Iran – Israel

Der außenpolitische Berater des obersten FĂŒhrers Ajatollah Ali Chamenei, Kamal Charrasi, hat am 9. Mai 2024 im Konflikt mit Israel mit einem neuen Kurs des staatlichen Atomprogramms gedroht. „Wir haben keinen Plan fĂŒr die Herstellung von Atomwaffen, aber falls das zionistische Regime es wagen sollte, unsere Atomanlagen anzugreifen, dann sind wir gezwungen, unsere Nukleardoktrin zu revidieren“, sagte er gegenĂŒber dem arabischen Nachrichtensender Aljazeera und iranischen Staatsmedien. Bisher hatte der Iran sich stets darauf berufen, dass das Land aus religiösen GrĂŒnden nicht nach Atomwaffen strebe. Charrasi war von 1997 bis 2009 iranischer Außenminister und davor iranischer UN-Botschafter in New York.

Nach dem iranischen Angriff auf Israel im April 2024 als Vergeltung fĂŒr die Bombardierung des iranischen KonsulatsgebĂ€udes in Damaskus drohte im Nahen Osten ein FlĂ€chenbrand mit atomarem Eskalationspotential. Ein Krieg gegen den Iran hĂ€tte katastrophale Folgen weit ĂŒber die Region hinaus.

Nun rĂ€cht sich die AufkĂŒndigung des Iran-Atomabkommen durch PrĂ€sident Donald Trump im Jahr 2018. Das Abkommen wurde drei Jahre zuvor zwischen Iran und den USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Russland und China geschlossen und verpflichtete den Iran, sein ziviles Atomprogramm zu beschrĂ€nken und keine Atomwaffen zu bauen. Im Gegenzug wurden Sanktionen gegen das Land aufgehoben. Das Atomabkommen war auch deshalb herausragend, weil sich in ihm die fĂŒnf AtommĂ€chte USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China auf ein gemeinsames Handeln zu EindĂ€mmung der Proliferation im Nahen und Mittleren Osten verpflichtet hatten.

Trotz vielfacher Warnungen europĂ€ischer Regierungen, dass eine AufkĂŒndigung des Abkommens den Weltfrieden gefĂ€hrden

könnte, hatte der US-PrĂ€sident den einseitigen Ausstieg aus dem Abkommen erklĂ€rt. US-Expert*innen der Internationalen Atomenergiebehörde zufolge verfĂŒgt der Iran inzwischen ĂŒber genug angereichertes Uran fĂŒr mindestens drei Atombomben, wie die Washington Post berichtete. Sollte der Konflikt mit Israel weiter eskalieren, steigt das Risiko erheblich, dass das Land versuchen wird, verlorenes Abschreckungspotential ĂŒber eigene Atombomben zu kompensieren, betont Azadeh Zamirirad von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Israel hat sein Atomwaffenpotential nie offiziell zugegeben, droht jedoch in Krisensituationen immer wieder, es könne Atomwaffen einsetzen. Zuletzt schlug im November 2023 der israelische Kulturerbe-Minister Amichai Elijahu vor, eine Atombombe auf Gaza abzuwerfen! Expert*innen schÀtzen, dass Israel bis zu 90 Atomwaffen besitzt.

Die israelische Regierung hat in der Vergangenheit mehrfach Atomanlagen im Nahen Osten zerstört. 1981 bombardierte Israel den von Frankreich gebauten Kernreaktor Tammuz-1 im Osten Iraks. Die Brennelemente waren gerade angeliefert. Am 6. September 2007 flogen acht Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe einen Angriff auf den al-Kibar-Reaktor im Nordosten von Syrien und zerstörten ihn.

Neben dem Atomwaffenstaat Israel und Iran haben auch SaudiArabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die TĂŒrkei immer wieder atomare Ambitionen gezeigt. Zivile Atomprogramme werden offensiv vorangetrieben, um sich durch den Aufbau einer atomaren Infrastruktur den Griff auf die Bombe zu ermöglichen. Im Jahr 2018 verkĂŒndete Kronprinz Mohammed bin Salman und heutiger Premierminister Saudi-Arabiens beispielsweise: „Wenn der Iran eine Atombombe besitzt, so werden wir so schnell wie möglich ebenfalls eine Atombombe entwickeln.“

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ATOMWAFFEN

Mögliche Mitgliedsstaaten einer Massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten

Sudan

Gebiete

Jordanien

Saudi-Arabien

Mitglied von Nichtverbreitungsvertrag, Biowaffen- und Chemiewaffenkonvention

Mitglied von Nichtverbreitungsvertrag, nicht jedoch von Biowaffen- und Chemiewaffenkonvention

Nicht Mitglied von NVV, Biowaffen- oder Chemiewaffenkonvention, hat Atomwaffen entwickelt

Iran sein Atomprogramm fortsetze. Es ist aber eine Illusion zu glauben, Israel könne das iranische Atomprogramm mittels Bombenangriffen, etwa auf die unterirdisch gelegene Urananreicherungsanlage in Natanz, zerstören. Allerdings wird in israelischen Geheimdienstkreisen durchaus erwogen, bunkerbrechende Waffen aus US-Produktion gegen iranische Atomanlagen einzusetzen. Ein solcher Angriff mit großen Zerstörungen und vielen zivilen Toten wĂŒrde unweigerlich in einen offenen Krieg fĂŒhren.

Wie lĂ€sst sich der brandgefĂ€hrliche Konflikt zwischen Israel und dem Iran entschĂ€rfen? Die internationale Gemeinschaft ist aufgerufen, alle Seiten zur Deeskalation zu mahnen. ZusĂ€tzlich brauchen wir dringend einen Waffenstillstand in Gaza, eine Lösung fĂŒr die katastrophale humanitĂ€re Situation fĂŒr die hungernde Bevölkerung im Gazastreifen sowie die Freilassung der israelischen Geiseln. Die USA und die EuropĂ€ische Union mĂŒssen den Druck auf die Regierung Netanjahu fĂŒr einen Waffenstillstand erhöhen. Dazu gehört der Stopp der Waffenlieferungen an Israel, den die IPPNW zusammen mit mehr als 250 Nichtregierungsorganisationen fordert. Es ist sehr zu begrĂŒĂŸen, dass die UN-Vollversammlung am 10. Mai 2024 die Rolle der PalĂ€stinenser*innen deutlich gestĂ€rkt hat. Sie nahm mit großer Mehrheit eine Resolution an, die es den PalĂ€stinenser*innen kĂŒnftig erlaubt, sich in der UN-Vollversammlung Ă€hnlich wie normale Mitglieder zu verhalten. FĂŒr die Resolution stimmten 143 LĂ€nder, 9 Staaten dagegen. 25 LĂ€nder enthielten sich – darunter auch Deutschland.

Die IPPNW fordert zudem, dass die Bundesregierung und die anderen EU-Staaten die Idee einer Konferenz fĂŒr Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten vorantreiben, angelehnt an das Vorbild der KSZE. Ein mittel- und langfristiges zentrales Ziel solle darin bestehen, die Schaffung einer atomwaffen- bzw. massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und

könnte zudem die Beziehung zwischen Iran und Israel sowie Iran und Saudi-Arabien umfassen als auch konkrete Verhandlungen zu Infrastrukturprojekten, Energiekooperationen und Umweltschutz. Die Idee fĂŒr diese Konferenz hat 2018 UN-GeneralsekretĂ€r AntĂłnio Guterres aufgegriffen.

Die AbrĂŒstung und Ächtung von Massenvernichtungswaffen stellt einen wichtigen Teil dieses Projekts dar. Im November 2019 fĂŒhrten die UN eine Konferenz fĂŒr den Aufbau einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten durch, an der sich 23 Staaten beteiligten. Leider boykottierten die USA und Israel die Konferenz. Die teilnehmenden Staaten verpflichteten sich zur Ausarbeitung eines verbindlichen Vertrages zur Ächtung von Massenvernichtungswaffen. Dieser sollte Vertrauen zwischen den Konfliktparteien aufbauen und die Region vor einem atomaren WettrĂŒsten bewahren.

Langfristig mĂŒssen Atomwaffen völkerrechtlich verboten werden. Solange atomare Abschreckung Teil nationaler Sicherheitsdoktrinen ist, besteht die Gefahr ihres Einsatzes. Der Atomwaffenverbotsvertrag, der 2017 beschlossen wurde und den bereits 70 Staaten ratifiziert haben, ist der realistischste Weg zu einer koordinierten Abschaffung aller Atomwaffen. Angesichts der drohenden weltweiten atomaren AufrĂŒstung liegen diese diplomatischen Lösungen im Interesse aller Staaten – auch der Atomwaffenstaaten.

Dr. Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW. Angelika Wilmen IPPNWReferentin fĂŒr Frieden.

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Iran Irak
TĂŒrkei
Afghanistan Pakistan
Oman
Katar Bahrain
Syrien
Turkmenistan
Jemen
V.A.E.
Kuwait
PalÀstinensische
Ägypten
Zypern Libanon Israel
© 2012 ETH ZĂŒrich / CSS Analysis No. 107 / Karte abgeĂ€ndert
„We are survivors, but we still want a joyful life and happiness.“

Zu Besuch in Semei: Bericht von der ICAN-Bildungsreise nach Kasachstan

Unser Tag startete mit einem Treffen mit Überlebenden der ersten Generation. Sie erzĂ€hlten uns, dass sie alle drei in Semei oder Umgebung, in der NĂ€he des Atomwaffentestareals, lebten. Dmitry erzĂ€hlte von seinen Krankheiten, die er aufgrund der radioaktiven Strahlung hat. So alltĂ€gliche Dinge wie das Halten einer Kaffeetasse können schon ein Problem fĂŒr ihn sein. Die jĂŒngste Person, die als Betroffene der Atomwaffentests registriert wurde, ist 34 Jahre alt. Das spiegelt zwar sicherlich nicht die RealitĂ€t wieder, zeigt aber, dass die Tests massive Auswirkungen auf die zweite, dritte, vierte und sogar fĂŒnfte Generationen haben.

Wir sprachen an diesem Tag nur mit betroffenen MĂ€nnern, weshalb Maira Abenova von der Organisation Polygon21 noch einmal betonte, das die gesundheitlichen Folgen auf Frauen sich von denen auf MĂ€nnern unterscheiden. Jede Frau hat, wenn sie schwanger wird, Angst davor, dass ihr Kind womöglich von den Folgen der Atomwaffentests betroffen sein wird. Es braucht auch in diesem Bereich mehr Forschung, damit das Stigma gegenĂŒber Menschen aus der Region des TestgelĂ€ndes abgebaut wird. Manche Menschen erhalten beispielsweise keine medizinische Versorgung, da die Ärtz*innen nicht wissen, welche Krankheiten sie haben.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Leute aus der betroffenen Region wĂ€hrend der sowjetischen Zeit der Atomwaffentests nicht das Recht hatten, dazu Fragen zu stellen. Daher stellen viele Menschen auch heute keine Fragen dazu an ihre Regierung. Stattdessen beten sie, dass sie oder ihre Familie nicht krank werden. Zudem haben viele Menschen Angst vor AutoritĂ€ten und davor, kritische Fragen zu stellen. FĂŒr die Überlebenden und Betroffenen sind diese Geschichten nicht einmal tragische Geschichten, sondern ihre „normale“ Geschichte. Bei einigen

der Überlebenden hat eine gewisse Resignation eingesetzt, denn es interessieren sich immer wieder Menschen aus dem Ausland fĂŒr ihre Geschichten, aber sie sehen selten, dass diese Besuche zu tatsĂ€chlichen Ergebnissen fĂŒhren. Es gibt in diesem Bereich einige offene Fragen, deren Antworten fĂŒr alle Betroffenen wichtig wĂ€ren: Wie viele Überlebende gibt es insgesamt? Wie können sie beweisen, dass ihre Krankheiten mit den Atomwaffentests in Verbindung stehen? Wie sieht die aktuelle medizinische Forschung dazu aus?

Einen Teil der Fragen konnten wir zu unserem Treffen mit dem medizinischen Forschungsinstitut der UniversitĂ€t Semei mitnehmen. Dort wurden den persönlichen Geschichten Zahlen und Fakten gegenĂŒbergestellt. Die wissenschaftliche Direktorin Alexandra Lipikhina klĂ€rte uns ĂŒber die Fakten des TestgelĂ€ndes auf: Zwischen 1949 und 1989 fanden in Semipalatinsk ĂŒber 465 Atomwaffentests statt. In dem heutigen Forschungsinstitut werden betroffene Menschen behandelt und vor allem registriert. Das „State Scientific Automated Medical Register“ ist das Registrierungssystem, in dem bereits 373.686 Menschen von der ersten bis zur fĂŒnften Generation registriert wurden. Auf dieser Grundlage werden alle Forschungen getĂ€tigt. Es wird

allerdings geschĂ€tzt, dass die Gesamtzahl aller Menschen, die von den Tests betroffen sind, bei 1,5 Millionen liegt! Der Grad der Betroffenheit unterscheidet sich auch, je nachdem, ob die Menschen die atmosphĂ€rischen Tests, die bis 1963 durchgefĂŒhrt wurden, erleben mussten oder die spĂ€teren Untergrundtests.

Auf unserer Bildungsreise zur nuklearen Geschichte Kasachstans haben wir im Mai 2024 Astana, Semei (ehemals Semipalatinsk) und Almaty besucht. Wir reisten mit unseren Partner*innen der kasachischen Jugendorganisation STOP (Steppe Organization for Peace: Qazaq Youth Initiative for Nuclear Justice) und der Friedrich Ebert Stiftung Kasachstan. In Astana und Semei wurden wir von Maira Abenova begleitet. Sie ist Überlebende der sowjetischen Atomtests und grĂŒndete die Organisation Polygon21, die fĂŒr die Rechte der Betroffenen kĂ€mpft. Alle Reiseberichte unter: nuclearban.de/survivors/kasachstan

Annegret KrĂŒger arbeitet fĂŒr das Netzwerk Friedenskooperative in Bonn und ist im Vorstand des Frauennetzwerks fĂŒr Frieden.

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ATOMWAFFEN
Foto: Bennet Rietdorf

Semipalatinsk

Im heutigen Semei (Kasachstan) waren die Menschen jahrzehntelang der RadioaktivitÀt von Atomtests ausgesetzt

Hintergrund

1949 fĂŒhrte die Sowjetunion ihren ersten Atomwaffentest in Semipalatinsk durch, einem 19.000 mÂČ großen Testareal in der Steppe Kasachstans. Über einen Zeitraum von 40 Jahren detonierte die UdSSR 465 Atombomben in Semipalatinsk – stets ohne RĂŒcksicht auf die Gesundheit und Sicherheit der Lokalbevölkerung oder der Umwelt. Nach der UnabhĂ€ngigkeit Kasachstans im Jahr 1991 ließ die kasachische Regierung das TestgelĂ€nde schließen und verschrottete das viertgrĂ¶ĂŸte Atomwaffenarsenal der Welt, das sie als Erbe der UdSSR ĂŒbernommen hatte.

Folgen fĂŒr Umwelt und Gesundheit

Seit der Schließung des Testareals wurden verschiedene Studien durchgefĂŒhrt, um die medizinischen, sozialen und ökologischen Folgen der radioaktiven Verseuchung der Region zu untersuchen. Obwohl die wissenschaftliche Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen ist, besteht weitgehendes Einvernehmen darĂŒber, dass die Lokalbevölkerung durch die Atomwaffentests großem Leid ausgesetzt wurde. Mehrere Tausend Quadratkilometer sind

fĂŒr viele Generationen kontaminiert. Eine Reihe Gesundheitsprobleme, von Krebserkrankungen, Impotenz und Fehlgeburten bis hin zu genetischen SchĂ€den und Missbildungen sowie geistiger Behinderung werden auf die Atomwaffentests zurĂŒckgefĂŒhrt. Neben einer epidemieartigen Zunahme schwerer neurologischer Fehlbildungen, fehlender Gliedmaßen und KnochendeformitĂ€ten bei Neugeborenen fielen in Semipalatinsk auch erhöhte Raten von hĂ€matologischen Erkrankungen wie LeukĂ€mie auf. Eine Studie japanischer und kasachischer Ärzte aus dem Jahr 2008 konnte zeigen, dass die Menschen in der Region rund um Semipalatinsk durch einzelne Atomexplosionen Strahlenwerten von mehr als 500 mSv ausgesetzt waren – also Ă€hnlichen Werten wie viele der Hibakusha von Hiroshima und Nagasaki – oder dem Äquivalent von 25.000 Röntgenuntersuchungen.

Das Krebszentrum der Stadt Semei stellte stark erhöhte HĂ€ufungen von Tumoren der Lunge, des Magens, der Brust und der SchilddrĂŒse in der betroffenen Bevölkerung fest. Das kasachische Institut fĂŒr Strahlenmedizin und Ökologie fand derweil eine belastbare Assoziation zwischen der Höhe der Strahlenbelastung und dem Auftreten genetischer Defekte in Familien, die in der Umgebung der Testgebiete lebten. Untersuchungen der UniversitĂ€t von Leicester konnten diese Beobachtungen stĂŒtzen: Die britischen Wissenschaftler fanden im Jahr 2002 eine um 80 % erhöhte Rate an DNA-Mutationen in der betroffenen Bevölkerung sowie eine 50 %-Erhöhung in der zweiten Generation.

Ausblick

2009 verabschiedete die Generalvollversammlung der UN einstimmig eine Resolution, in der die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert wird, Kasachstan bei der Aufarbeitung der schwerwiegenden Folgen der Atomwaffentests in Semipalatinsk zu unterstĂŒtzen. Mehrere UN-Organisationen, Geldgeber, Nichtregierungsorganisationen sowie medizinische und wissenschaftliche Einrichtungen haben sich seitdem zusammengefunden, um gemeinsam das atomare Erbe der sowjetischen Atomwaffentests in Kasachstan zu untersuchen und die Folgen fĂŒr die Hibakusha von Semipalatinsk zu mildern. Der 29. August, der Tag, an dem das AtomwaffentestgelĂ€nde Semipalatinsk 1991 geschlossen wurde, ist heute der Internationale Tag gegen Atomtests.

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die ZusammenhĂ€nge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau ĂŒber die Urananreicherung, zivile AtomunglĂŒcke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militĂ€rische AtomunfĂ€lle, Atombombenangriffe bis hin zum AtommĂŒll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de

15 DIE NUKLEARE KETTE

GefÀhrliche Atom-Fantasien

Warum die PlÀne einer neuen Atom-Allianz nur Luftschlösser sind, aber dem Klima schaden

„Die Atomkraft ist zurĂŒck“, verkĂŒndet Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron am 3. Dezember 2023 in Dubai. Ort und Zeitpunkt sind nicht zufĂ€llig gewĂ€hlt.

Macron nutzt die Weltklimakonferenz (COP28) als BĂŒhne fĂŒr seinen Presseauftritt. Gerade haben 22 Staaten eine VerpflichtungserklĂ€rung unterzeichnet, wonach sie die globalen KapazitĂ€ten des Atomenergiesektors bis 2050 verdreifachen wollen. Auch wenn die ErklĂ€rung rechtlich keine Bedeutung hat und die Atomindustrie aktuell weit davon entfernt ist, auch nur bestehende KapazitĂ€ten zu erhalten, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist Macron auf der COP28 gewiss. Die Nachricht von der RĂŒckkehr der Atomenergie geht um die Welt.

Wenige Monate spĂ€ter, im MĂ€rz 2024, folgt der nĂ€chste medienwirksame Auftritt. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) veranstaltet in BrĂŒssel den ersten Atomgipfel. Das Ganze ist eine große Werbeveranstaltung, die Atomkraft als Heilmittel gegen Klimawandel verkauft. „Atoms for Net Zero“ nennt die IAEA ihre Kampagne, mit der sie die Atomindustrie wiederbeleben will. Sie wirkt. Rund 30 Staaten verpflichten sich im Zuge des Gipfels, sich gemeinsam dafĂŒr einzusetzen, „das Potenzial der Nuklearenergie voll auszuschöpfen“. Dabei gehe es nicht nur darum, neue Atomkraftwerke zu bauen, sondern auch LaufzeitverlĂ€ngerungen fĂŒr alte Reaktoren zu erwirken. Dies sei der Weg zu Klimaschutz und EnergieunabhĂ€ngigkeit, so das Versprechen. Zugleich fordert die neue Atom-Allianz die Weltbank auf, Atomprojekte verstĂ€rkt zu unterstĂŒtzen und re-

klamiert, die Entwicklungsbanken wĂŒrden „andere alternative EnergietrĂ€ger“ bislang bevorzugt behandeln. Die vorsichtigen Formulierungen sind alles andere als harmlos. Sie zielen auf öffentliche Klimaschutzgelder ab und sind somit eine direkte Kampfansage an die Erneuerbaren Energien.

AKWs laufen nur mit Subventionen

Wie so oft, geht es um Geld. Die Atomindustrie braucht viel davon. Schließlich betreibt sie die teuerste Form der Energieerzeugung. Der Neubau eines Atomkraftwerkes kostet im internationalen Durchschnitt etwa zehn Milliarden Euro. Die SchĂ€tzungen fĂŒr Instandhaltungskosten im Zuge von LaufzeitverlĂ€ngerungen reichen von hunderten Millionen Euros bis zu mehreren Milliarden. Vor dem Hintergrund, dass das Durchschnittsalter der weltweiten Reaktorflotte bei 31,5 Jahren liegt, braucht die Atomindustrie enorm hohe Investitionssummen, will sie den Sektor am Leben halten. DafĂŒr kommen in erster Linie öffentliche Gelder infrage. Denn Finanzunternehmen wie etwa die weltweit grĂ¶ĂŸte Finanz-Ratingagentur Standard & Poor‘s warnen private Anleger*innen vor Investitionen in Atomkraft. AKW-Projekte lohnen sich seit jeher nur, wenn Staaten dahinter stehen, die das Ganze mit Steuergeldern und vollen HĂ€nden subventionieren.

Die IAEA ist eine Werbeagentur fĂŒr Atomkraft

Mit Klimaschutz hat die „Atoms for Net Zero“-Initiative der IAEA nichts zu tun. Die Atomenergiebehörde, die eine Einrichtung der Vereinten Nationen ist, folgt lediglich ihren Grundstatuten, wonach sie neben ihren Überwachungs- und Inspektionsaufgaben verpflichtet ist, die weltweite Verbreitung der Atomenergie zu fördern. Die

Behauptung, Atomenergie sei klimafreundlich, beruht dabei lediglich auf dem Argument, dass AKW-Schornsteine keine CO2Emissionen ausstoßen. Diese Betrachtung greift nicht allein deshalb zu kurz, weil Atomkraftwerke in ihrem Lebenszyklus deutlich höhere Emissionen verursachen als erneuerbare Energien. Vielmehr geht es auch um eine realistische EinschĂ€tzung des Potenzials. Aktuell liegt der Anteil des Nuklearsektors an der globalen Stromerzeugung bei unter zehn Prozent. Bezogen auf die weltweite Netto-Energiemenge macht Atomkraft nur einen Bruchteil von etwa zwei Prozent aus. Das heißt, Atomenergie hat global betrachtet weder eine Relevanz fĂŒr die Energieversorgung noch fĂŒr den Klimaschutz. Sie ist eine Nischentechnologie, die noch dazu schrumpft, wie unter anderem die jĂ€hrlichen Statistiken und Analysen des World Nuclear Industry Status Reports aufzeigen.

Atomkraft gefÀhrdet den Klimaschutz

Die Vorstellung, die Atomindustrie könnte ihre KapazitĂ€ten innerhalb der nĂ€chsten 26 Jahre verdreifachen, ist eine gefĂ€hrliche Illusion. Denn sie stellt sich in Konkurrenz zu den erneuerbaren Energien und dem notwendigen Umbau unseres Energiesystems. Dabei droht sie zwei wichtige Ressourcen zu verschwenden, die im Kampf gegen den Klimawandel begrenzt zur VerfĂŒgung stehen: Zeit und Geld.

Gelder, die in den Erhalt und in den Ausbau der nuklearen EnergiekapazitĂ€ten fließen, fehlen fĂŒr die Transformation des Energiesektors. Das betrifft auch die Milliardensummen, die Staaten in die Erforschung vermeintlich neuer Reaktorkonzepte und in die Kernfusion stecken. Bei den „neuen“ Reaktortypen handelt es sich

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ATOMENERGIE

um Technologie-Linien, die bereits in den 1950er Jahren erforscht, entwickelt und aus technischen GrĂŒnden wieder verworfen wurden. Sollten sie ĂŒberhaupt jemals Serienreife erlangen, fĂŒr den Klimaschutz kĂ€men sie zu spĂ€t. Ebenfalls ist keine der diskutierten Reaktortechniken in der Lage, das AtommĂŒllproblem zu lösen, auch wenn das ĂŒber die Medien bis in den Bundestag hinein kolportiert wird. Wenn von AKW-Neubau-Projekten die Rede ist, handelt es sich in erster Linie um die herkömmliche Druckwasser-Reaktortechnik mit allen bekannten Folgen und Sicherheitsrisiken. Planung und Bau eines Atomreaktors dauern durchschnittlich 20 Jahre. Autokratische Staaten wie China oder Russland setzten AKW-Projekte schneller um – dafĂŒr verzichten sie auf demokratische Prozesse und machen Abstriche bei der Sicherheit.

GrundsĂ€tzlich sind AKW-Bauprojekte mit hohen Risiken verbunden. So ist der einzige Reaktor-Neubau, den das Atomland Frankreich in den letzten Jahrzehnten gebaut hat, bereits seit zwölf Jahren in Verzug. Die Kosten sind gegenĂŒber der ursprĂŒnglichen Planung um etwa zehn Milliarden Euro gestiegen. In Großbritannien ist die Situation Ă€hnlich. Die einzige Anlage in Bau, Hinkley Point C, ist ein Desaster. Kostenexplosionen und extremer Zeitverzug sind beim Bau von Atomkraftwerken keine Ausnahme, sondern die Regel. Auch LaufzeitverlĂ€ngerungen sind mit Unsicherheiten verbunden; sie sind zudem ein großes Sicherheitsrisiko, da der Reaktorkern, der enormen Belastungen ausgesetzt ist, nicht austauschbar ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Initiative der Atom-Allianz wie RealitÀtsverweigerung. Sie dient jedoch dem Versuch, Klimaschutzgelder in die AtomkanÀle um-

zuleiten, um eine ĂŒberlebte Technik zu retten. Dennoch verfangen die leeren Versprechen in der Öffentlichkeit und in der Politik. Denn sie suggerieren, mit Atomkraft seien unsere Energieprobleme in Zukunft gelöst. Das mag einfacher klingen als VerĂ€nderung – es ist aber eine LĂŒge.

Klimaschutz geht anders

Zahlreiche wissenschaftliche Studien und Analysen zeigen, dass es machbar und sinnvoll ist, den Energiebedarf auch eines Industrielandes wie Deutschland zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien zu decken. Der Umbau des Energiesektors ist komplex und bedarf neben dem Ausbau erneuerbarer Energiequellen und der Erweiterung von SpeicherkapazitĂ€ten auch Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und -suffizienz. All dies lĂ€sst sich auf die Kilowattstunde gerechnet um ein Vielfaches schneller und kostengĂŒnstiger umsetzen als der Bau von Atomkraftwerken. Von EnergieunabhĂ€ngigkeit kann im

Zusammenhang mit Atomkraft ebenfalls nicht die Rede sein. So haben die USA und die EU fĂŒr den Nuklearsektor bislang keine Sanktionen gegen Russland verhĂ€ngt, weil sie von dessen UrangeschĂ€ften abhĂ€ngig sind. Auch ohne den Verweis auf das ungelöste AtommĂŒllproblem und die untragbaren Sicherheitsrisiken ist Atomkraft weder Zukunfts- noch BrĂŒckentechnologie.

Angela Wolff ist Referentin fĂŒr Atompolitik und Klimaschutz.

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© Eric de Mildt / Greenpeace IPPNW Aachen PROTEST GEGEN DEN IAEA-ATOMGIPFEL IN BRÜSSEL, 21.03.2024

Aus der Psychiatrie in den Abschiebeflieger

FĂŒr psychisch Kranke ist es kaum noch möglich, ein krankheitsbezogenes Abschiebungshindernis nachzuweisen

Imad wurde trotz akuter SuizidalitĂ€t abgeschoben – in ein Land, in dem er seit 15 Jahren nicht mehr war.

„Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll“, sagt Imad (Name geĂ€ndert) am Telefon. Im Hintergrund ist das Zwitschern eines Vogels zu hören. Der 29-jĂ€hrige Jeside wurde am 18. Januar 2024 von GarmischPartenkirchen in den Irak abgeschoben. Ich spreche mit ihm vermittelt ĂŒber seine langjĂ€hrige Freundin Anna, die ihm nachgereist ist. Zur Zeit seiner Abschiebung befand sich Imad wegen Suizidgefahr in der Psychiatrie und war auf Medikamente angewiesen. „Wir vermuten, dass die Klinik informiert war“, sagt Anna. Denn am Tag, bevor die Polizei ihn abholen kam, sei er von einem Mehrbett- in ein Einzelzimmer verlegt worden.

„KrankenhĂ€user mĂŒssen geschĂŒtzte RĂ€ume sein“, davon ist Ernst-Ludwig Iskenius (IPPNW) ĂŒberzeugt. Er hat das Zentrum fĂŒr traumatisierte GeflĂŒchtete in VillingenSchwenningen aufgebaut und 15 Jahre in dem Bereich gearbeitet.

Abschiebungen aus stationĂ€rer Behandlung sind stets unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig

Der Deutsche Ärztetag bekrĂ€ftigte zuletzt 2017, dass stationĂ€r behandlungsbedĂŒrftige FlĂŒchtlinge nicht reisefĂ€hig sind und dementsprechend nicht abgeschoben werden dĂŒrfen. Und auch das Institut fĂŒr Menschenrechte kam in einer Studie von 2021 zu dem Schluss, dass eine Abschiebung aus der stationĂ€ren Behandlung stets unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig sei. Trotzdem kommt das immer wieder vor – und die AuslĂ€nderbehörden und die Polizei bewegen sich damit innerhalb des gesetzlichen Rahmens. Nur in Berlin, Brandenburg, Bremen, ThĂŒringen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein gibt es Erlasse, die

Abschiebungen aus KrankenhĂ€usern verbieten oder zumindest einschrĂ€nken. „Die Behörden nehmen einen Suizidversuch oft nicht ernst. Sie behaupten, die Person wolle damit nur die Abschiebung verhindern“, sagt Iskenius. FĂŒr ihn ist das ein Systemfehler: „Oft wird eine Traumatisierung von GeflĂŒchteten gar nicht offiziell festgestellt und bleibt unbehandelt. In einer Abschiebesituation bricht das dann auf“, erklĂ€rt er.

Die LĂ€nder erheben nur vereinzelt Zahlen ĂŒber Abschiebungen aus stationĂ€rer Behandlung. Darum hat IPPNW im Dezember vergangenen Jahres mit „Behandeln statt verwalten“ die erste bundesweite Meldestelle eingerichtet. FĂŒnf FĂ€lle wurden seitdem von Monitoringstellen und Einzelpersonen dort gemeldet. Imad ist einer von ihnen. Wie er seien es oft Menschen mit psychischen Erkrankungen und Traumata in Duldung, die von einer Abschiebung aus dem Krankenhaus betroffen seien, sagt Iskenius. Aus seiner Sicht ist die Abschiebung ein schwerer Eingriff in die medizinische Behandlung. „Bei VorgeschĂ€digten kann das zu schweren Retraumatisierungen fĂŒhren“, sagt Iskenius.

Abschiebungen von Jesid*innen nehmen zu

Imad lebte seit seinem 15. Lebensjahr in Deutschland. Er hat 2008 den Irak verlassen, sein Vater war im Irakkrieg fĂŒr USamerikanisches und deutsches MilitĂ€r tĂ€tig, die Familie erhielt Morddrohungen, so erzĂ€hlt es Anna.

Genau einen Tag nach seiner Abschiebung jĂ€hrte sich der Tag, an dem die Bundesregierung den Genozid an den Jesid*innen durch den IS anerkannt hatte. Noch im MĂ€rz vergangenen Jahres hieß es seitens der Bundesregierung, es sei fĂŒr jesidische Religionszugehörige aus dem Irak „ungeachtet verĂ€nderter VerhĂ€ltnisse nicht zumutbar, in den frĂŒheren Verfolgerstaat zurĂŒckzukehren“. Doch

Abschiebungen von Jesid*innen neben schon seit 2017 zu, die Schutzquote liegt bei rund 50 Prozent. 2023 wurden laut Bundesinnenministerium 135 Menschen in den Irak abgeschoben, wie viele Jesid*innen darunter waren, sei unbekannt.

Laut dem Landratsamt Garmisch-Partenkirchen, dessen AuslĂ€nderbehörde Imad zugeordnet war,  wurden zu Imad zwei Asylverfahren beim Bundesamt fĂŒr Migration und FlĂŒchtlinge abgeschlossen, ohne dass ihm ein Schutzstatus zuerkannt wurde. Die AusweisungsverfĂŒgung sei wegen einer schweren Straftat erlassen worden. Deshalb sei auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen gewesen.

FĂŒr Imad ist das unverstĂ€ndlich, die Straftat liegt rund acht Jahre zurĂŒck, seit fĂŒnf Jahren ist er in Garmisch-Partenkirchen geduldet. Zuletzt hatte er eine Ausbildung zum Friseur abgeschlossen. Doch erst wenige Monate vor seiner Abschiebung habe er eine Arbeitserlaubnis erhalten. Eine Arbeit zu finden sei schwer, erzĂ€hlt Anna. Imad habe seit langem psychische Probleme gehabt und mehrere Suizidversuche unternommen, mehrmals sei er fĂŒr drei bis vier Wochen stationĂ€r aufgenommen worden. Sein Psychiater hatte aus gesundheitlichen GrĂŒnden den Umzug zu seiner Familie in MĂŒnchen empfohlen, wegen der Residenzpflicht brauchte Imad dafĂŒr eine behördliche Erlaubnis.

Nachweispflicht fĂŒr Abschiebungshindernis liegt bei den Schutzsuchenden

Am 3. Januar 2024 sei er dann nachts bei seiner Verlobten von der Polizei festgenommen worden, er habe eine Nacht in Haft verbracht. Danach hĂ€tte er in ein AbschiebegefĂ€ngnis ĂŒberfĂŒhrt werden sollen. Doch das Amtsgericht hob den Haftbefehl am nĂ€chsten Tag auf, weil es die gesundheitlichen BeeintrĂ€chtigungen Imads fĂŒr „nicht unplausibel“ hielt. Der

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SOZIALE VERANTWORTUNG

Richter regte an, ein behördliches Gesundheitsgutachten anfertigen zu lassen, um ein Abschiebehindernis zu klĂ€ren. Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen folgte dieser Empfehlung jedoch nicht und forderte Imad auf, sich selbst darum zu kĂŒmmern. „Die Nachweispflicht der ReiseunfĂ€higkeit liegt bei der Person. Sofern diese nicht oder nicht ausreichend nachgewiesen wird, ist immer von einer ReisefĂ€higkeit auszugehen und eine Abschiebung ist möglich“, lĂ€sst das Landratsamt mitteilen. So ist es im Aufenthaltsgesetz festgeschrieben (§ 60 Absatz 2c). Im Fall von Imad seien die vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht geeignet gewesen, „die gesetzliche Vermutung der ReisefĂ€higkeit anzuzweifeln“, so das Landratsamt weiter. Und: Man habe sich die ReisefĂ€higkeit Ă€rztlich bestĂ€tigen lassen.

„In den letzten Jahren hat die Bundesregierung die Anforderungen zum Nachweis einer Erkrankung derart verschĂ€rft, dass es insbesondere fĂŒr psychisch Kranke kaum noch möglich ist, ein krankheitsbezogenes Abschiebungshindernis nachzuweisen“, kritisiert Sarah Lincoln von der Gesellschaft fĂŒr Freiheitsrechte. Sie setzt sich dafĂŒr ein, die Nachweispflicht auf die Behörden zu verlagern. „Wenn eine erhebliche Gefahr fĂŒr Leib und Leben besteht, bei psychisch Erkrankten beispielsweise bei einer akuten Suizidgefahr, darf die Verantwortung fĂŒr die Nachweise nicht bei den Betroffenen liegen.“ Die aktuelle Regelung hĂ€lt sie fĂŒr verfassungswidrig.

Anna schildert, wie schwer es fĂŒr Imad war, seinen gesundheitlichen Zustand nachzuweisen. Aufgrund der nĂ€chtlichen Festnahme durch die Polizei und die Zeit in der Zelle habe sich sein Zustand verschlechtert, Panikattacken und Suizidgedanken hĂ€tten zugenommen. Seinen Psychiater habe er nicht erreichen können. Am 15. Januar 2024 ließ er sich in die Psychiatrie einweisen.

FĂŒr die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren fĂŒr FlĂŒchtlinge und Folteropfer (BafF) ist allein die stationĂ€re Behandlung ein Anhaltspunkt: „Um derart psychisch belastet zu sein, dass eine ambulante Versorgung nicht mehr

greifen kann, haben Menschen in der Regel bereits mehrere grĂ¶ĂŸere psychische Krisen, darunter auch schwere traumatische Erfahrungen, durchleben mĂŒssen“, heißt es auf der Website.

Der Eilantrag scheiterte

Drei Tage nach der Einweisung wurde Imad in der Psychiatrie von der Polizei festgenommen und zum Leipziger Flughafen gebracht. Erst eineinhalb Stunden vor dem Flug sei ihm gestattet worden, zu telefonieren. Ein dann gestellter Eilantrag scheiterte, weil er zu dem Zeitpunkt schon im Flugzeug saß, erzĂ€hlt Anna. Der Gesundheitszustand ihres Freundes sei schlecht: „Er hat Entzugserscheinungen, kann nicht schlafen, isoliert sich und verlĂ€sst aus Angst nicht das Haus“, sagt Anna. Nachts habe er Angst, dass er wieder abgeholt werde. Sie sei ihm nachgereist, um ihm seine Papiere und Geld zu bringen, Medikamente kann sie nicht so einfach mitfĂŒhren. Die Polizei habe ihn ohne gĂŒltige Ausweispapiere, Geld und Medikamente abgeschoben.

Das alles liege nicht in der Verantwortung der Behörde, heißt es aus Garmisch-Partenkirchen. Am Flughafen in Bagdad sei er behördlich registriert worden, medizinisches Personal sei – anders als es die deutsche AuslĂ€nderbehörde sagt – nicht vor Ort gewesen. Ohne die Hilfe seiner Familie und seiner Freundin wĂ€re Imad jetzt krank, ohne Geld, Papiere und Medikamente in einer fremden Stadt, in einem Land, in dem er seit 15 Jahren nicht mehr

war. „Ich bin krank, mein Vater in MĂŒnchen ist krank. Ich möchte einfach nur bei meiner Familie sein“, sagt Imad.

Iskenius fĂŒrchtet, dass es durch das verschĂ€rfte Abschiebegesetz noch vermehrt zu Abschiebungen von kranken Menschen kommen könnte. Ihm liegt deshalb viel daran, das medizinische Personal zu informieren und zu ermutigen, sich gegenĂŒber Behörden, Amtspersonen und Polizei fĂŒr das Wohl der Patient*innen einzusetzen. Auf der Website der Meldestelle finden sich Handreichungen dazu.

„Ärzte haben im Krankenhaus das Hausrecht. Wenn die Polizei keinen Durchsuchungsbeschluss hat, darf sie das Krankenzimmer nicht einfach betreten“, sagt Iskenius. Außerdem unterliegen Ärzt*innen der Schweigepflicht und könnten daher die Auskunft verweigern. Eine weitere Möglichkeit sei, zu prĂŒfen, ob akut ein „krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis“ vorliegt. FĂŒr diesen Fall dĂŒrfe die Abschiebungsanordnung nicht vollzogen werden.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des HIV-Magazins: magazin.hiv

Ulrike Wagener ist freie Journalistin und arbeitet schwerpunktmĂ€ĂŸig zu den Themen Flucht und Migration, Gender und (Post-) Kolonialismus.

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Saulo Zayas / pexels.com Foto: Kathrin Sohlbach

Meine vier Kinder sind von zu Hause ausgezogen, so dass ich mich um acht Enkelkinder kĂŒmmern muss. Das Ă€lteste ist 15 und das jĂŒngste ist drei Jahre alt.

Chembe/UNDP Zimbabwe
Pylaia

Bei UNDP Climate finden Sie Berichte ĂŒber Klimaprojekte weltweit:

KlimavertrÀgliche Landwirtschaft stÀrkt Frauen in Simbabwe UNDP-climate.exposure.co

BĂ€uerinnen

im Aufwind

Die BĂ€uerin Elizabeth Dube (73) aus Matebeleland South bewĂ€ssert ihre Ernte. Landbesitz und der Verkauf der Produkte war lange MĂ€nnern vorbehalten, doch inzwischen besitzt Elizabeth eine kleine AckerflĂ€che. Seit letztem Jahr hat sie auch Zugang zu einer solarbetriebenen BewĂ€sserungsanlage – ein entscheidender Vorteil in einer Region, die in Folge des Klimawandels immer trockener wird. Frauen sind von den Auswirkungen der Klimakrise besonders betroffen. Aufgrund von Geschlechterrollen sind sie meist verantwortlich, knapper werdende Ressourcen wie Wasser oder Feuerholz ĂŒber weite Distanzen zu beschaffen, wĂ€hrend ihr Zugang zu Informationen und Anpassungsstrategien erschwert wird. Hier setzen Graswurzelprojekte an, die Frauen in ihren Gemeinschaften stĂ€rken und die landwirtschaftliche Produktion an die KlimaverĂ€nderungen anpassen. Sie kombinieren gemeindebasierte technische Lösungen wie solarbetriebene Irrigation mit der Ausbildung von Multiplikatorinnen. Mehr als 45.000 Landwirtinnen haben ihr neues Wissen bereits in die Praxis umgesetzt und praktizieren nun einen konservierenden, „klimaintelligenten“ Anbau. Text und Bilder: UNDP Zimbabwe.

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UNDP Zimbabwe / CC BY-NC 2.0 Deed UNDP Zimbabwe / CC BY-NC 2.0 Deed Pylaia Chembe/UNDP Zimbabwe

Kenia: Klima und Gesundheit

Ärztinnen und Ärzte werden aktiv fĂŒr eine klimaresisente Gesundheitsversorgung

Die Auswirkungen des Klimawandels verschĂ€rfen sich und treffen insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Frauen und Kinder, Menschen mit Behinderungen, GeflĂŒchtete und Asylsuchende, die einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind.

In diesem Artikel untersuchen wir die vielschichtigen Herausforderungen, die die Klimakrise fĂŒr die öffentliche Gesundheit in Kenia mit sich bringt. Wir konzentrieren uns dabei auf die Anpassungsstrategien, die von GesundheitskrĂ€ften, dem Gesundheitssystem sowie mithilfe gemeinschaftsorientierter Kampagnen umgesetzt werden, um die WiderstandsfĂ€higkeit vulnerabler Kommunen angesichts klimabedingter Katastrophen zu stĂ€rken.

Kenia erstreckt sich ĂŒber eine FlĂ€che von rund 582.646 km2 und hat derzeit 56 Millionen Einwohner. Das Land besteht im Wesentlichen aus der KĂŒstenregion im SĂŒdosten, einer gemĂ€ĂŸigten Region im Landesinneren, dem zentralen tropischen

Hochland und einer weitgehend trockenen und halbtrockenen Region im Norden. Durch seine Lage am Äquator ist Kenia sehr anfĂ€llig fĂŒr die Auswirkungen des Klimawandels – laut dem Klima-Risiko-Index 2020 gehört es zu den am stĂ€rksten gefĂ€hrdeten LĂ€ndern. Allein im ersten Quartal 2024 erlebte Kenia nie dagewesene Temperaturspitzen, gefolgt von unregelmĂ€ĂŸigen NiederschlĂ€gen im zweiten Quartal, die verheerende DĂŒrren und Überschwemmungen auslösten.

Klimabedingte Risiken

Laut der Weltgesundheitsstatistik 2023 wird der Klimawandel derzeit als dringende Gefahr fĂŒr die menschliche Gesund-

heit eingestuft. Nach den vorliegenden Erkenntnissen wirkt sich der Klimawandel wie folgt auf die Gesundheit aus:

» Direkte Sterblichkeit und Verletzungen durch klimabedingte Naturgefahren wie Überschwemmungen, DĂŒrren, KĂŒstenstĂŒrme wie der Zyklon Hidaya und extreme Hitzewellen.

» Indirekt durch vektorĂŒbertragene Krankheiten, die durch das Klima beeinflusst werden (wie Malaria, Dengue-Fieber, RiftValley-Fieber, Chikungunya-Fieber) durch wasserbezogene Krankheiten, UnterernĂ€hrung und ErnĂ€hrungsunsicherheit, Vertreibung und Migration sowie durch die Destabilisierung der Gesundheitsinfrastruktur.

KLIMAKRISE Foto: GOA
ÜBERFLUTUNGEN IN TANA RIVER COUNTY, KENIA. 228 MENSCHEN STARBEN IM FRÜHJAHR 2024 IN DEN FLUTEN.

JĂŒngste Studien zeigen mögliche ZusammenhĂ€nge zwischen den Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit, sogenannter „Klimaangst“, und der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. So etwa nehmen sexuelle Gewalt, „Transactional Sex“ (Sex fĂŒr Gegenleistungen) und frĂŒhe Heiraten in Folge des Klimawandels zu.

Das Zusammentreffen von klimabedingten Katastrophen und konfliktbedingten Vertreibungen hat zu einer Massenmigration innerhalb und ĂŒber die Grenzen Kenias hinaus gefĂŒhrt, die das vorhandene Gesundheitssystem ĂŒberfordert. Der Norden Kenias ist aufgrund der schwindenden Land- und Wasserressourcen besonders von gewaltsamen Auseinandersetzungen betroffen.

In der Region am Horn von Afrika herrscht die schlimmste DĂŒrre seit 40 Jahren, die zum Tod von Vieh im Wert von 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr fĂŒhrt. Im Welthunger-Index 2023 nimmt Kenia den 90. Platz von 125 LĂ€ndern ein, fĂŒr die ausreichende Daten vorliegen. Mit einem Wert von 22,0 fĂ€llt Kenia in die Schweregradkategorie „ernst“.

Klima-

und Gesundheitspolitik

Kenias dritter Aktionsplan zum Klimawandel (NCCAP 2023-27) baut auf den vorherigen AktionsplĂ€nen auf und bietet einen Rahmen fĂŒr Kenia, um seinen national festgelegten Beitrag zu leisten. Kenia hat wichtige Initiativen zur Entwicklung einer klimafreundlichen Programmplanung und prĂ€ventiver Gesundheitsmaßnahmen eingeleitet, die auf einem risikoĂŒbergreifenden FrĂŒhwarn- und FrĂŒhaktionsansatz beruhen. Der erste Schritt zur StĂ€rkung des Gesundheitssystems sind gemeinsame Anstrengungen aller Akteure des Gesundheitswesens, um ein kontinuierliches Bewusstsein fĂŒr die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit zu schaffen, und zwar durch eine wirksame

KLEINBAUERN UND NGOS DISKUTIEREN ÜBER KLIMARESILIENTE LANDWIRTSCHAFT

Kommunikation und die Weitergabe von Erkenntnissen an das wichtigste Gesundheitspersonal.

Verschiedene Gesundheitsorganisationen und die kenianische Regierung haben die KapazitĂ€ten fĂŒr eine integrierte Gesundheits- und Klimabeurteilung und Maßnahmen fĂŒr besonders gefĂ€hrdete Gruppen wie Frauen und Kinder, Menschen in informellen Siedlungen, Menschen mit Behinderungen sowie GeflĂŒchtete und Asylsuchende ausgebaut. RegelmĂ€ĂŸige Sensibilisierungskampagnen fĂŒr Risikogruppen werden durchgefĂŒhrt, um das Wissen ĂŒber sanitĂ€re Einrichtungen, Hygiene, klimasensitive Krankheiten sowie ĂŒber Belange der sexuellen und reproduktive Gesundheit zu verbessern.

Wichtige Interessenvertreter*innen des Gesundheitssektors in Kenia fordern nun einen Platz im Dialog ĂŒber die Klimafinanzierung, um sicherzustellen, dass angemessen in die Entwicklung klimaresistenter Infrastrukturen, Gesundheitssysteme und gemeindebasierter Anpassungsinitiativen investiert wird.

Der Gesundheitssektor beteiligt sich zunehmend an politischen Dialogen darĂŒber wie wir uns an den Klimawandel anpassen und ihn abmildern können, um die GesundheitsbedĂŒrfnisse der vom Klimawandel am stĂ€rksten gefĂ€hrdeten Menschen in die Anpassungsprogramme zu integrieren. DarĂŒber hinaus wird durch die Beteiligung am politischen Dialog sichergestellt, dass eine klimaresistente Gesundheitsinfrastruktur fĂŒr den Fall extremer Wetterereignisse geschaffen wird.

Kenia hat FrĂŒhwarnsysteme zur Vorhersage klimasensibler, durch MĂŒcken ĂŒbertragener Krankheiten eingerichtet und damit das Epidemiepotential verringert. Diese Maßnahmen basieren auf Studien zu den monatlichen Durchschnittstemperaturen und Niederschlagsdaten – das FrĂŒhwarnsystem fĂŒhrt diese mit Daten zum Vorkommen von ÜbertrĂ€gern in Haushalten zusammen sowie Daten von Patient*innen, die mit Krankheiten wie Malaria und Dengue-Fieber in KrankenhĂ€usern behandelt wurden. Der Zusammenhang zwischen den Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit ist noch nicht ausreichend erforscht, und die BemĂŒhungen, die psychische Gesundheit und die StressbewĂ€ltigung in alle Klimaund Gesundheitsprogramme zu integrieren, nehmen zu.

Dennis Opondo, Harrison Kuria Karime und Victor Chelashow sind Ärzte und Mitglieder IPPNW Kenia.

Foto:
Nawiri
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Haki

Schwierige Zeiten fĂŒr Klima- und Umweltschutz

Rollback in der Klimapolitik: Warum wir nicht angemessen handeln – und was trotzdem Hoffnung macht

Die Klimakrise ist eine ökologische Notlage und eine große Herausforderung fĂŒr die globale Gesundheit. Sie droht inzwischen die gesundheitlichen Fortschritte der letzten 60 Jahre zunichte zu machen. Sie gefĂ€hrdet die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, und fĂŒhrt dazu, dass immer grĂ¶ĂŸere Teile der Erde fĂŒr Menschen und Lebewesen praktisch unbewohnbar werden. So ist Luftverschmutzung fĂŒr sieben Millionen vorzeitige TodesfĂ€lle verantwortlich, deren Hauptursache die Nutzung fossiler Brennstoffe in Verkehr, Industrie und Landwirtschaft ist. Die Zahl der Hitzetoten sowie der Opfer von Extremwetterereignissen wird bei einem Weiter-so weltweit in die Millionen gehen. Die Gesundheitseinrichtungen werden mit dieser Entwicklung zunehmend ĂŒberfordert sein.

Klima- und Umweltschutz sind Gesundheitsschutz. Klimaschutz als prĂ€ventiver Ansatz ist zentral, um unsere Gesundheitssysteme auch in Zukunft bezahlbar und resilient zu machen. Diese Einsicht setzt sich allmĂ€hlich durch. Viele Klimaschutzmaßnahmen gehen mit großen Vorteilen fĂŒr die Gesundheit einher. Dies gilt vorrangig fĂŒr Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung, die Umstellung auf eine pflanzenbasierte ErnĂ€hrung sowie fĂŒr eine klimafreundliche aktive MobilitĂ€t. Außerdem muss auch der Gesundheitssektor seinen Treibhausfußabdruck deutlich senken und perspektivisch klimaneutral werden.

Weshalb handeln wir angesichts dieser Lage nicht angemessen?

Die Lösungen liegen im Prinzip vor, doch geschieht nicht das, was notwendig und „vernĂŒnftig“ wĂ€re. Die Ursachen sind komplex und vielfĂ€ltig. Einige der wesentlichen seien hier aufgefĂŒhrt:

Die „FossilitĂ€t“: eine Struktur, die tief in unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur verankert ist, und einem erforderlichen Wandel entgegensteht (z.B. Lebensstile, Fliegen, autofreundliche StĂ€dte, unzureichender ÖPNV). Dazu zĂ€hlt auch die Verquickung von Teilen der Politik mit fossilen Interessen. „Dass die erforderlichen Maßnahmen nicht ergriffen werden, liegt an der Beschaffenheit der Macht- und Anreizstrukturen fĂŒr Unternehmen, Politiker, WĂ€hler und Konsumenten“, so der Soziologe Jens Beckert. Dazu gehört der Glaube an ungebremstes Wachstum, das mit den planetaren Grenzen nicht vereinbar ist.

Der Einfluss von Big Oil: Die fossile Brennstoffindustrie hat uns seit Jahrzehnten belogen, die Klimawissenschaft diskreditiert, Zweifel gesĂ€t und „Thinktanks“ gegrĂŒndet, die progressive Klimapolitik bekĂ€mpften. Sie hat per Lobbyismus und Bestechung auf die Politik eingewirkt, alle Maßnahmen, die ihr lukratives GeschĂ€ftsmodell gefĂ€hrden könnten, zu unterlaufen. Konzerne und Petrostaaten versuchen immer noch, alles zu verhindern oder zu verwĂ€ssern, was zu einer schnellen Abkehr von den Fossilen fĂŒhren wĂŒrde.

Das Versagen der Medien: Die Medien haben es ĂŒber Jahrzehnte versĂ€umt, ĂŒber die sich abzeichnende Megakrise angemessen, faktenorientiert und nicht verzerrt zu berichten. Das hĂ€ngt u.a. mit den Verflechtungen zwischen fossilen Kapitalinteressen und Medienkonzernen zusammen, wie etwa das Murdoch-Imperium oder der Axel-Springer-Konzern zeigen.

Schwierigkeiten des transformativen Wandels angesichts komplexer Probleme: Grundlegend transformative VerÀnderungen erfordern ein neues Denken, einen

systemischen Ansatz sowie eine sektorĂŒbergreifende Zusammenarbeit auf allen Ebenen (lokal, regional, global). Sie brauchen zudem Zeit in der Umsetzung und die Zustimmung der BĂŒrger*innen. Hierauf sind die Wissenschaft, die Institutionen und die Politik mit ihren Steuerungsstrukturen nicht genĂŒgend vorbereitet. Sie verharren noch zu sehr in ihrem Silodenken. Klima- und Umweltschutz sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Ohne die Mitwirkung aller – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und BĂŒrger*innen – kann die Transformation nicht gelingen. Dabei muss der Fokus auf VerĂ€nderung der Strukturen liegen, die klima- und umweltfreundliches Verhalten der BĂŒrger*innen erst in relevantem Maße ermöglichen.

Psychologische GrĂŒnde und Klimakommunikation: Die Folgen der ErderwĂ€rmung wurden bei uns lange als etwas wahrgenommen, das uns selbst nicht direkt oder erst in ferner Zukunft bedroht. Inzwischen hat uns die KlimarealitĂ€t eingeholt. Leugnung einer sonst vielleicht unertrĂ€glichen RealitĂ€t und kognitive Dissonanz sind Abwehrmechanismen, um sich den Klimawandel schönzureden, denn sonst mĂŒsste man sein Verhalten Ă€ndern oder sich eingestehen, dass man fĂŒr diese Entwicklung mit Verantwortung trĂ€gt.

Die neoliberale Entwicklung mit der kurzfristigen Nutzenorientierung und einer den Egoismus fördernden Individualisierung spielt eine weitere Rolle dabei, dass Menschen nicht ihrer Einsicht gemĂ€ĂŸ handeln. Zudem ĂŒberfordern die vielen Krisen der letzten Jahre (Covid, Kriege, Inflation) vielfach die Menschen und VerĂ€nderung wird oft als Bedrohung erlebt. FĂŒr die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen spielt eine große Rolle, dass die Lasten und Vorteile fair verteilt werden.

24 KLIMAKRISE

30 Jahre lang haben die Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Akteure geglaubt, AufklĂ€rung und Information wĂŒrden reichen, um das Bewusstsein fĂŒr den notwendigen Wandel herbeizufĂŒhren. Das war naiv. Immer mehr alarmierende Meldungen ĂŒber Katastrophen wirken eher kontraproduktiv, da sie Menschen hilflos machen. Menschen mĂŒssen auch emotional angesprochen und ihre AlltagsrealitĂ€t berĂŒcksichtigt werden, um sie zu erreichen. Wissen allein fĂŒhrt meist nicht zu Engagement und VerĂ€nderung, wenn es nicht zum Handeln ermutigt.

Die Weigerung der Politik, der Klimaund Umweltkrise höchste PrioritĂ€t einzurĂ€umen: Es fehlt schlichtweg an politischem Willen. Sachliche Notwendigkeiten und Gemeinwohlinteressen sind in der Politik vielfach nicht bestimmend. Der eigene Machterhalt, der kurzfristige Zeithorizont, und mĂ€chtige Partikularinteressen stehen dem oft entgegen. Auch dass die Debatte um notwendigen Klimaschutz als Kulturkampf hochstilisiert wird, völlig losgelöst von inhaltlichen ErwĂ€gungen, trĂ€gt zur Polarisierung bei und erschwert eine parteiĂŒbergreifende Zusammenarbeit bei den Lösungen.

Rollback in der Klimapolitik und Strategiekrise der Klimabewegung

Die Fridays-for-Future Bewegung u.a. haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Thema 2019 weltweit auch politisch ganz oben auf der Tagesordnung stand. Durch die Coronakrise ist die Bewegung massiv geschwĂ€cht worden. Das „build back better“, eine zentrale Forderung aus der Coronazeit, Wirtschaft und Gesellschaft im Rahmen der Genesung (Recovery) ökologisch umzubauen, ist nicht eingetreten. Inzwischen rĂŒcken Regierungen und Unternehmen von vormals ambitionierten Klimazielen ab oder lassen es an Umsetzungswillen mangeln. Der Green Deal der EU, droht verwĂ€ssert zu werden, der Naturschutz in der EU-Politik ist als

Folge der Bauernproteste gerade massiv geschwÀcht worden und die Aufhebung verbindlicher Sektorziele im Klimagesetz durch die Ampel steht bevor. Die Aussichten auf kommende Wahlen stimmen eher pessimistisch.

Die derzeitigen Kriege in der Ukraine und in Gaza haben die Klimakrise in den Hintergrund treten lassen. Die durch die Kriege ausgelösten bzw. verschĂ€rften Spannungen erschweren die internationale Zusammenarbeit bei der BekĂ€mpfung des Klimawandels. Ganz abgesehen von dem erhöhten Treibhausgasausstoß und geringeren finanziellen Mittel fĂŒr die sozial-ökologische Transformation. Erschwerend kommt hinzu, dass das Bundesverfassungsgericht den PlĂ€nen der Koalition einen Riegel vorgeschoben hat, Klimaschutzmaßnahmen ĂŒber die Umwidmung der Coronagelder in den Klimafonds massiv zu fördern. Das Problem kann nur durch die Aufgabe bzw. Reform der Schuldenbremse und/oder deutliche Steuererhöhungen gelöst werden. FĂŒr beides sind derzeit keine Mehrheiten in Sicht.

Aus Angst vor der tagespolitischen Diskussion wĂŒrden Zukunftsfragen gar nicht mehr diskutiert oder gelöst, die EU und viele Regierungen liefen vor den Fakten davon und knickten gegenĂŒber der Lobby ein, so der NABU-Chef J.A. KrĂŒger zum Rollback in der EU-Politik. „Grown-up leaders are pushing for a catastrophe“, schreibt Todd Stern, der ehemalige Klimachef der USA, im Guardian. Er wirft ihnen vor, dass sie ihre Klimaprogramme verlangsamten, mit der BegrĂŒndung, sie seien unrealistisch. „Obviously it’s difficult – we’re talking about enormous change to the world economy – but we can do it.“

Was wir brĂ€uchten, sei ein narrativer Wandel, ein Wandel in den Köpfen und Herzen, der den fĂŒhrenden Politiker*innen zeigt, dass ihre politische Zukunft von starken Klimaschutzmaßnahmen abhĂ€ngt.

Trendwende in Teilen der Wirtschaft

Die fossile Industrie erschließt immer mehr neue Öl- und Gasfelder, obwohl laut der Internationalen Energieagentur neue ProduktionsstĂ€tten unvereinbar mit dem 1,5-Grad-Ziel sind. Sie verabschiedet sich angesichts exorbitanter Gewinne aufgrund des Ukrainekrieges von den eigenen Verpflichtungen zur KlimaneutralitĂ€t. Banken und Investoren finanzieren weiterhin fossile Energieunternehmen, weil dort jetzt kurzfristig höhere Renditen zu erwarten sind. Greenwashing bei Maßnahmen zur Dekarbonisierung ist weit verbreitet. Unternehmen und Finanzinstitutionen rĂŒcken, nicht zuletzt auf Druck ihrer AktionĂ€re oder der Politik (wie etwa in den von den Republikanern gefĂŒhrten USStaaten), von ihren vormals relativ klimafreundlichen Zielsetzungen ab.

Was lÀsst trotzdem hoffen?

In den letzten Jahren gab es positive Entwicklungen, die, bei aller WidersprĂŒchlichkeit, Unvollkommenheit und Ungewissheit bei der Umsetzung, doch in die richtige Richtung gehen und Anlass zur Hoffnung geben:

Soziale Kippdynamiken

Neben Klimakipppunkten gibt es auch sogenannte soziale Kipppunkte, die ab Erreichen einer bestimmten Schwelle zu plötzlichen grundlegenden Änderungen

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„Ein politischer Fortschritt (...) muss durc h einen unnachgiebigen, gut organisierten Kampf errungen werden. Politiker reagieren nicht auf das beharrliche

Wiederholen der Geschichte. Sie stellen sich nur dann einer Herausforderung, wenn sie mit einer Öffentlichkeit konfrontiert werden, die nach VerĂ€nderung schreit – und d ie, wenn sie ignoriert wird, die Macht der Politiker*innen bedroht.“ Bernard Lown

fĂŒhren und einen transformativen Wandel auslösen können. Als Beispiele gilt der dynamische Ausbau der Erneuerbarer Energien, der inzwischen einen Kipppunkt erreicht hat und aufgrund des Preisvorteils (fast) ein SelbstlĂ€ufer geworden ist. Das Finanzsystem kann plötzlich „kippen“, in dem Kapital massiv aus schmutzigen in „grĂŒne“ Investitionen umgeleitet wird, wenn die entsprechenden Rahmbedingungen und Anreize durch staatliche Regulierung gegeben sind (z.B. CO2-Preis, Internalisierung der Kosten fĂŒr Klima- und UmweltschĂ€den in die Preise).

Auch das Bildungssystem kann, wenn auch erst lĂ€ngerfristig, ein transformatives Potential entfalten, da „transformative Bildung“ fĂŒr Klima- und Umweltfragen sensibilisiert und vom „Wissen zum Handeln/Engagement“ fĂŒhren kann. Laut Befragungen ist nach wie vor eine große Mehrheit in der Welt von der Dringlichkeit der Klimakrise ĂŒberzeugt und hĂ€lt Klimaschutz fĂŒr wichtig bzw. sehr wichtig (in den USA sind es allerdings nur etwas ĂŒber 50%).

Positive PolitikansÀtze

Es gibt viele nationale und internationale Abkommen, Gesetze und Initiativen, die –bei allen Kompromissen und WidersprĂŒchen – in die richtige Richtung gehen, so z.B. der EU Green Deal, der Inflation Reduktion Act in den USA mit einem massiven Investitionsprogramm fĂŒr Erneuerbare Energien und grĂŒne Technologien, das UN-Weltnaturabkommen, das vorsieht, bis 2030 30 Prozent der weltweiten Land- und MeeresflĂ€chen unter Schutz zu stellen, um die BiodiversitĂ€t zu schĂŒtzen, das EU-Renaturierungsgesetz (2024), das die Mitgliedstaaten verpflichtet, beschĂ€digte Ökosysteme zu renaturieren und das UN-Abkommen zum Schutz der Meere, ein globaler Vertrag ĂŒber Erhalt und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt der Hohen See (2023). Weiterhin zu nennen sind: Das UN-Abkommen gegen PlastikmĂŒll, das derzeit verhandelt wird und die neue LuftqualitĂ€tsrichtlinie der EU, die

noch der finalen Zustimmung des Rates bedarf. Diese sieht eine deutliche VerschĂ€rfung der bisherigen Grenzwerte fĂŒr Luftschadstoffe vor. wenn auch nicht die von Gesundheitsakteuren und UmweltverbĂ€nden bis 2030 geforderte volle Angleichung an die zum Teil deutlich schĂ€rferen Richtwerte der WHO.

Optimistisch stimmt auch die breit unterstĂŒtzte Initiative fĂŒr ein Ökozid-Abkommen auf UN-Ebene, die darauf hin arbeitet, Ökozid als zusĂ€tzliches der bisher drei großen Menschheitsverbrechen im Römischen Statut des Internationale Strafgerichtshofs (IStGH) zu verankern. Die EU hat in ihrer ĂŒberarbeiteten Umweltdirektive einen dem Ökozid vergleichbaren Straftatbestand verabschiedet und in mehreren EU-LĂ€ndern liegen inzwischen Ökozid-Gesetze zur Abstimmung vor oder werden vorbereitet.

Die wichtige Initiative zu einem UN-Nichtverbreitungsvertrag fĂŒr fossile Brennstoffe, die einen baldigen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und Klimagerechtigkeit anstrebt, wird von vielen deutschen Gesundheitsorganisationen unter stĂŒtzt. Auch die zahlreichen Klimaklagen gegen Staaten und Konzerne stimmen optimistisch. So z.B. die bahnbrechenden Urteile des Bundesverfassungsgerichtes vom Mai 2021, die Urteile niederlĂ€ndischer Gerichte, die ihre Regierung dazu verpflichten, mehr fĂŒr Klimaschutz zu tun – bzw. das Unternehmen Shell dazu, seine Emissionen zu reduzieren (2021) – sowie das aktuelle Urteil des EuropĂ€ischen Gerichtshofes fĂŒr Menschenrechte (EGMR), das anlĂ€sslich der Klage von Schweizer Senior*innen gegen ihre Regierung erstmals anerkannte, dass unzureichender Schutz vor Klimawandel die Menschenrechte verletzt. Hier liegt ein großes Potential, Regierungen zur Verantwortung zu ziehen, das zu tun, wozu sie aufgrund ihrer Verfassungen bzw. Gesetze verpflichtet sind, und Unternehmen fĂŒr die jahrelange TĂ€uschung der Öffentlichkeit und fĂŒr die Folgen ihrer Produkte zur Rechenschaft zu ziehen. Hier einzuordnen ist auch das

Urteil des OVG Berlin vom 17. Mai 2024 auf die Klage der Deutschen Umwelthilfe, dass die Klimaschutzprogramme fĂŒr die Jahre 2030, um konkrete Maßnahmen ergĂ€nzt werden mĂŒssen.

Mobilisierung des deutschen Gesundheitssektors fĂŒr Klimaschutz und planetare Gesundheit

Hoffnungsvoll stimmt auch die Anerkennung und Bedeutung, die das Thema Klimawandel und planetare Gesundheit inzwischen im deutschen Gesundheitssektor erfĂ€hrt. Das Thema ist gesetzt, wenn auch noch nicht ĂŒberall schon mit der wĂŒnschenswerten Tiefe und PrioritĂ€t. Der Deutsche Ärztetag und der Deutsche Pflegerat haben sich zentral damit befasst und Stellung bezogen. Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften positionieren sich inzwischen zum Klimaschutz bzw. planetarer Gesundheit und haben AGs gegrĂŒndet, die das Thema in ihren Organisationen vorantreiben.

Zur dieser Erfolgsgeschichte hat KLUG, die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V., ganz wesentlich beigetragen. KLUG ist ein Netzwerk aus aktiven Einzelpersonen und Gesundheitsorganisationen, dem inzwischen LandesĂ€rztekammern, UniversitĂ€tskliniken, Krankenkassen und gesundheitsorientierte NGOs angehören. KLUG hat die Bewegung Health for Future initiiert. Die IPPNW als Organisation hat KLUG von Anfang an begleitet und unterstĂŒtzt.

Informationen und Kampagnen von KLUG finden Sie unter: www.klimawandel-gesundheit.de

Dr. Dieter Lehmkuhl ist IPPNWMitglied und engagiert sich bei KLUG e.V.

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GESUNDHEITSBERUFE

BEIM KLIMASTREIK IN BERLIN

Hitzeschutzmaßnahmen

im deutschen Gesundheitswesen

Regionale HitzeschutzbĂŒndnisse können zur Resilienz der Bevölkerung beitragen

Die Treibhausgasemissionen durch die Verbrennung fossiler EnergietrĂ€ger haben mit einer weltweiten Erhöhung der Temperaturen zu einem spĂŒrbaren Klimawandel gefĂŒhrt. Inzwischen werden in fast jedem Monat und Jahr neue Hitzerekorde vermeldet. In Deutschland ist die Temperatur seit 1881 um 1,8° Celsius gestiegen und liegt damit bereits deutlich ĂŒber den Zielen des Pariser Klimagipfels von 2015.

Die Zeit wird zunehmend knapper, in der ohne weitgehende BeschrĂ€nkung eigener BedĂŒrfnisse eine gutes Klimakonzept und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen wirksam werden kann. Durch den Klimawandel – der inzwischen als Klimakrise begriffen werden muss – kommt es nicht nur zu extremen Wetterereignissen. Die klimabedingte Zerstörung bisheriger Lebensgrundlagen fĂŒhrt zu großem Artensterben, sie schĂŒrt aber auch soziale Konflikte und fĂŒhrt zu Flucht und Migration. Die Verschlechterung der Luft- und WasserqualitĂ€t schafft verĂ€nderte Bedingungen fĂŒr neue Erreger und verĂ€ndert regionale Krankheitsspektren. Hitze und Hitzewellen als konkreter Ausdruck der klimatischen VerĂ€nderungen fĂŒhren zu einer Erhöhung der Sterblichkeit und verstĂ€rkter KrankheitsausprĂ€gung vor allem unter den Hochrisiko-Gruppen. Hierzu gehören viele unserer chronisch erkrankten Patient*innen, PflegebedĂŒrftige und Menschen mit hohem Medikamentenbedarf, betagte Menschen oder Kleinkinder, sozial Isolierte und Menschen in Pflegeeinrichtungen und in prekĂ€ren Wohnsituationen, aber auch im Freien arbeitende Menschen.

Die BekĂ€mpfung der gesundheitlichen Risiken der Klimakrise kann aber nicht nur als Gefahr, sondern auch als eine große Chance begriffen werden. Gerade als Ärztinnen und Ärzte können wir wesentlich zur Resilienz der Bevölkerung beitragen. Die Coronavirus-Pandemie hat uns vor Augen gefĂŒhrt, wie vulnerabel und wenig krisenfest unser Gesundheitswesen ist.

Als die deutsche Gesundheitsministerkonferenz 2020 die flĂ€chendeckende Erstellung von HitzeaktionsplĂ€nen bis 2025 beschloss, ging es deshalb nicht nur um den Schutz von Patientinnen und Patienten, sondern vor allem auch um den Schutz vor einer Überlastung des Gesundheitswesens. Getan hat sich – wie 2024 festgestellt werden muss – in dieser Hinsicht noch nicht viel. Sicher haben einzelne Kommunen wie Mainz, Mannheim, Worms und andere mit hohem Aufwand und großem Detailreichtum nach meist langer Planungs- und Vorbereitungszeit HitzeaktionsplĂ€ne erstellt – Heidelberg, Freiburg und andere haben sich auf den Weg gemacht. Diese Anstrengungen sind aber arbeits- und personalintensiv und zumeist durch die verfĂŒgbaren behördlichen Ressourcen limitiert. Ärztliche Expertise fehlt hĂ€ufig. Teilweise existieren zwar Arbeits- und PlanungsbĂŒndnisse wie z. B. in Berlin, die sich eine regionale Strukturierung zur Aufgabe gemacht haben. Im April 2024 wurde in Ludwigsburg der erste Hitzeschutzplan fĂŒr einen FlĂ€chenlandkreis der Öffentlichkeit vorgestellt. Vorausgegangen war ein zweijĂ€hriger Entwicklungsprozess an einem Runden Tisch mit verschiedenen Beteiligten (Ärzteschaft,

Gesundheitsamt, Kliniken, Schulen, Kitas, Pflegedienste, Pflegeheime etc.). Neben der Festlegung eines Alarmierungssystems auf dem Boden der Hitzewarnungen des Deutschen Wetterdienstes wurden definierte Informationspfade festgelegt, ĂŒber die Warninformationen und Informationsmaterialien verteilt werden konnten. DarĂŒber hinaus wurden Muster-HitzeaktionsplĂ€ne entwickelt, die explizit zur Weiterverwendung und Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort genutzt werden können.

Die Nachricht ist klar: Ungeachtet dieser positiven Entwicklungen besteht ein hoher Bedarf an lokalen und ĂŒberregionalen HitzeschutzbĂŒndnissen, um die Vertreter*innen der verschiedenen Bereiche zum Austausch und zur Fortentwicklung miteinander vernetzen und wirksame PlĂ€ne zum Hitzeschutz im Gesundheitswesen zu entwickeln. SpĂ€testens, wenn die Klimamodelle fĂŒr die nĂ€chsten 50 Jahre zur Betrachtung herangezogen werden, wird offenkundig, dass uns nicht viel Zeit bleibt, um gravierende Gefahren fĂŒr unsere Gesundheit und unseren Planeten abzuwenden.

Dr. Robin Maitra ist Mitglied des Vorstandes der deutschen IPPNW.

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Foto:
Marlene Langenbucher

Klima- und Umweltfolgen des Gazakrieges

Wechselwirkungen von Krieg und Klima treten in Gaza verheerend zutage

Seit sieben Monaten fĂŒhrt Israel einen extrem brutalen Krieg in Gaza. In dieser Zeit hat die israelische MilitĂ€roffensive als Antwort auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober ĂŒber 35.000 PalĂ€stinenser*innen in Gaza das Leben gekostet, davon mehr als 14.500 Kinder. Über 78.000 Menschen wurden verletzt, 75 % der Bevölkerung intern vertrieben sowie die HĂ€lfte der Bevölkerung in die Hungersnot getrieben.

In den ersten drei Monaten des Krieges warf die israelische Luftwaffe laut offiziellen palĂ€stinensischen Angaben ĂŒber 12.000 Bomben ĂŒber Gaza ab, darunter Hunderte 1.000-Kilo-Bomben. In einem kĂŒrzlich veröffentlichen Bericht spricht die UN von einem seit 1945 nicht dagewesenen Ausmaß an Zerstörung in kĂŒrzester Zeit. Rund 60 % aller GebĂ€ude und weite Teile der zivilen Infrastruktur sind zerstört oder beschĂ€digt. Der kleine Landstrich wurde auf Jahre quasi unbewohnbar gemacht und wichtige Teil des kulturellen Erbes fĂŒr immer zerstört. Bis heute hat die israelische Regierung weder ihre erklĂ€rten Kriegsziele erreicht, die Hamas zu eliminieren, noch alle der 240 Geiseln sicher nachhause zu bringen. Noch immer hĂ€lt die Hamas ĂŒber 100 Geiseln gefangen.

Inmitten dieses unvorstellbaren menschlichen Leids und Unrechts scheint der Blick auf die Klima- und Umweltfolgen des Konfliktes fast zweitrangig. Doch es ist wichtig, die ZusammenhÀnge zwischen den direkten und indirekten Folgen der Gewalt in den Blick zu nehmen und zu verstehen.

Der Konflikt trĂ€gt immens zur Klimakatastrophe bei in einer Region, die bereits von den Folgen des Klimawandels betroffen ist. Schon vor dem 7. Oktober 2023 fĂŒhrte die israelische Besatzungspolitik, die mit militĂ€rischer Gewalt aufrechterhalten wird,

dazu, dass PalĂ€stinenser*innen stark von Wasserknappheit, Lebensmittelknappheit, Landdegradation und BiodiversitĂ€tsverlust betroffen waren. BemĂŒhungen um eine dekarbonisierte und klimagerechte Zukunft wurden in den besetzten palĂ€stinensischen Gebieten strukturell verhindert.

Allein die Kriegshandlungen in den ersten 60 Tagen nach dem 7. Oktober 2023 verursachten mehr Emissionen als 20 einzelne LĂ€nder in einem ganzen Jahr, so eine Studie von Forscher*innen aus Großbritannien und den USA. Über diese Klimaauswirkungen sprach die IPPNW im Rahmen eines Webinars im April mit dem britischen Geografen Benjamin Neimark, Professor an der Queen Mary University London, sowie dem kanadischen IPPNW-Arzt Tim Takaro, emeritierter Professor an der Simon Fraser University.

Die Umweltfolgen und Gesundheitsauswirkungen von Krieg, vom Einsatz spezifischer Waffen ĂŒber die Produktion zur Entsorgung des toxischen MĂŒlls auf MilitĂ€rbasen, sind schon lange im Blick von Forschenden, GesundheitsfachkrĂ€ften und

Friedensaktivist*innen. Die Klimaauswirkungen von RĂŒstungsindustrie, MilitĂ€r und Krieg hingegen waren lange unter dem Radar. Die Erhebung der nationalen militĂ€rischen Treibhausgasemissionen ist immer noch freiwillig unter der UN-Klimarahmenkonvention, die Datenlage lĂŒckenhaft. Diese LĂŒcke zu fĂŒllen setzen sich Forscher*innen und Aktivist*innen zum Ziel. Dabei geht es nicht nur um die offensichtlichen KlimasĂŒnder wie etwa treibstoffintensive Kampfflugzeuge oder Panzer. Es geht auch darum, die „Infrastruktur des Krieges“ auf ihre Klimafolgen zu prĂŒfen. In dem Projekt „Concrete Impacts“ ermitteln Forscher*innen um Benjamin Neimark mithilfe einer hybriden Life Cycle Analysis den Umweltfußabdruck von Wasser, Sand und Beton in den Lieferketten des US-MilitĂ€rs im Irakkrieg und darĂŒber hinaus. Die Arbeit zu den kilometerlangen SprengwĂ€nden zeigt ausschnitthaft die vielfĂ€ltigen Wechselwirkungen zwischen der militĂ€rischen Invasion, globalisierten und CO2intensiven InfrastrukturtrĂ€gern wie Beton und lokalen Umwelt- und Klimafolgen.

FĂŒr den Gazakrieg haben die Forschenden dementsprechend ausschnitthafte Be -

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militaryemissions.org / Conflict and Environment Observatory

RAFAH: VERTRIEBENE STEHEN SCHLANGE, UM VON DER UN WASSER ZU BEKOMMEN, 5. MAI 2024

rechnungen der CO2-Emissionen entlang dreier Zeithorizonte vorgelegt. Sie berechnen, dass bestimmte Kampfhandlungen der ersten 60 Tage nach dem 7. Oktober 2023, insbesondere aus dem Einsatz von Kampfflugzeugen, Panzern, Munition, Bomben und Raketen, ca. 280.000 Tonnen CO2-Äquivalente (tCO2e) verursacht haben. Das ist etwa soviel, wie 75 Kohlekraftwerke ĂŒber einen Zeitraum von einem Jahr ausstoßen. In einem zweiten Schritt berechnen die Autor*innen die Emissionen aus der Kriegs-Infrastruktur seit 2017. Hier werden einerseits die ca. 500 km langen Tunnel der Hamas aus Beton und Eisen, die sogenannte „Gaza Metro“, berĂŒcksichtigt. Deren Konstruktion hat 176.000 tCO2e verursacht. Dem gegenĂŒber stehen 274.232 tCO2e aus der Errichtung des israelischen „Iron Wall“, der ca. 65 km langen Sperranlage um Gaza, bestehend aus Überwachungstechnologie und Sensoren, sowie Materialien wie Stacheldraht, MetallzĂ€unen und Betonbarrieren. In einem dritten Zeithorizont werden die meisten Emissionen im Rahmen dieses Konfliktes projiziert: Sie betreffen den Wiederaufbau. Bereits bei Erarbeitung der Studie (12/2023) war das Ausmaß der Zerstörung von WohngebĂ€uden, Straßen, Wasseraufbereitungsanlagen, Kanalisation u.v.m. verheerend. Hier berechnen die Autor*innen die Emissionen aus dem Wiederaufbau von 100.000 GebĂ€uden, mindestens 30 Millionen tCO2e, entsprechend dem jĂ€hrlichen Ausstoß Neuseelands.

Diese Erhebung ist bewusst ausschnitthaft, sie zeigt die hohen Emissionen aus nur einigen Kriegshandlungen bzw. kriegs-

bedingten AktivitĂ€ten. Die tatsĂ€chlichen Klimawirkungen aus dem Konflikt sind sehr wahrscheinlich um ein Vielfaches höher. Wissenschaftler*innen des Projekts „Military Emissions Gap“ fordern daher systematische Erhebungen der Emissionen aus RĂŒstungsindustrie und MilitĂ€r in Friedenszeiten entlang der drei Scopes des Greenhouse-Gas-Protokolls. Sie schlagen desweiteren die EinfĂŒhrung eines Scope 3+ vor, das die Emissionen aus Kriegshandlungen bemisst. Hierunter wĂŒrden die Klimafolgen eines breiteren Spektrums an Kriegsfolgen wie beispielsweise WaldbrĂ€nde, LandnutzungsverĂ€nderungen, InfrastrukturschĂ€den, Wiederaufbau, medizinische Versorgung und die Versorgung GeflĂŒchteter fallen.

Im Gazakrieg treten diese Wechselwirkungen besonders verheerend zu Tage. In dem dicht besiedelten Landstreifen ist die ohnehin unzureichende Wasserversorgung zusammengebrochen. Anfang des Jahres waren 70 % der Menschen gezwungen, versalzenes oder verunreinigtes Wasser zu trinken. Durch die Zerstörung der Energieversorgung fielen Wasseraufbereitungsanlagen und Abwasserpumpstationen aus. Toxischer Staub durch die Zerstörung von GebĂ€uden und darin enthaltenen Materialien wie mehrkernige aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), chlorierte Verbindungen und Dioxine gefĂ€hrden die Gesundheit. Tonnen von teils toxischen TrĂŒmmern werden abgerĂ€umt und aufbereitet werden mĂŒssen. Durch die Zerstörung von GebĂ€uden und Solarpaneelen werden klimatisierte SchutzrĂ€ume in Hitzephasen fehlen, was besonders

Kinder und Ältere gefĂ€hrdet. Die landwirtschaftliche Produktion im Gazastreifen war bereits durch die israelische Blockade, mangelnde Abfall- und DĂŒngemittel-Regulation und die Klimakrise herabgesetzt. Im Zuge des Krieges wurden bis Februar 2024 etwa ein Drittel der Felder, ObstgĂ€rten und Olivenhaine zerstört oder verseucht.

Es ist die Aufgabe dieses Jahrhunderts, die großen Krisen von Krieg und Klimakatastrophe zusammen zu denken. Die Ursachen der Klimakrise können nicht effektiv angegangen werden, ohne auch die Gewaltstrukturen von Ungleichheit, Militarisierung und Krieg anzuprangern und zu verĂ€ndern. Klimagerechtigkeit kann es nur fĂŒr alle geben oder fĂŒr niemanden.

FĂŒr den Krieg in Gaza bedeutet das, dass Klima- und Friedensbewegung sich gemeinsam fĂŒr SolidaritĂ€t, fĂŒr einen sofortigen Waffenstillstand, fĂŒr eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, ein Ende der deutschen Waffenlieferungen an Israel und eine politische Lösung des Konflikts einsetzen sollten.

Die VortrÀge von Benjamin Neimark und Tim Takaro finden Sie hier: youtube.com/ippnwgermany

Laura Wunder ist Referentin fĂŒr Klimagerechtigkeit und Global Health der deutschen IPPNW.

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Anas-Mohammed / shutterstock.com

Zukunftskonferenz in Nairobi

IPPNW fordert dauerhafte ReprÀsentanz atomwaffenfreier Staaten im UN-Sicherheitsrat

Im September wird der Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen in New York stattfinden. Der UN- GeneralsekretĂ€r AntĂłnio Guterres hat dafĂŒr Empfehlungen fĂŒr eine neue Agenda fĂŒr den Frieden formuliert. Guterres‘ Vision ist die eines „Multilateralismus in einer Welt im Wandel“. Darin sieht er fĂŒnf Handlungsbereiche: 1) PrĂ€vention auf globaler Ebene durch AbrĂŒstung und prĂ€ventive Diplomatie; 2) PrĂ€vention auf nationaler Ebene, etwa durch „nationale PrĂ€ventionsstrategien“; 3) Zukunft von FriedenseinsĂ€tzen; 4) „neue AnsĂ€tze“, zum Beispiel zur verantwortlichen Nutzung neuer Technologien; und 5) UN-Reformen, hin zu einem reprĂ€sentativeren Sicherheitsrat, einer revitalisierten Generalversammlung und einer gestĂ€rkten Peacebuilding Commission, die als Beratungsorgan des UN-Sicherheitsrats und der Generalversammlung an der Schnittstelle von Frieden und Entwicklung eine grĂ¶ĂŸere Rolle zukommen soll.

Der Zukunftsgipfel wird von der UN in mehreren Schritten international vorbereitet. Am 9. Und 10. Mai 2024 fand dazu eine Civil Society Conference in Nairobi statt, an dem fĂŒr die IPPNW Kelvin Kibet, Dennis Opondo und Bonaventure Machuka aus Kenia sowie Rolf Bader aus Deutschland teilnahmen und die VorschlĂ€ge der IPPNW einbrachten. Die IPPNW sieht das Leben und die Zukunft der Menschheit doppelt bedroht, durch die Gefahr des Atomkriegs und durch die fortschreitende Klimakrise. In Bezug auf die Atomkriegsgefahr fordert die IPPNW die Atomwaffenstaaten zu atomarer AbrĂŒstung und zu einem Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag auf. Wegen der aktuellen Eskalationsgefahr im Ukrainekrieg sollten die fĂŒnf Atomwaffenstaaten, die gleichzeitig stĂ€ndige Mitglieder im UNSicherheitsrat sind, sich gemeinsam verpflichten, auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten – ein erster Schritt zu vertrauensbildenden Maßnahmen und atomarer RĂŒstungskontrolle.

Zur Lösung der Klimakrise empfiehlt die IPPNW, dass allgemeine und atomare AbrĂŒstung wieder auf die internationale Tagesordnung gesetzt werden muss. Das anhaltende globale WettrĂŒsten und der kontinuierliche Anstieg der weltweiten MilitĂ€rausgaben (2023 laut SIPRI 2443 Milliarden US-Dollar) sind fĂŒr die Menschheit nicht weiter hinnehmbar. Globale AufrĂŒstung bewirkt, dass Ressourcen abgezogen werden, die dringend fĂŒr die Befriedigung grundlegender menschlicher BedĂŒrfnisse und die Förderung der notwendigen globalen Klimaschutzmaßnahmen benötigt werden. Auch der CO2-Fußabdruck des MilitĂ€rs, der bisher in der Klimaberichterstattung systematisch ausgespart wird, muss endlich verpflichtend in die LĂ€nderberichte an das UN-Klimasekretariat einbezogen werden.

Geopolitische RivalitĂ€ten unter den fĂŒnf Atomwaffenstaaten und stĂ€ndigen Mitgliedern des UN -Sicherheitsrat behindern diesen gravierend in seiner Entscheidungsfindung. Die IPPNW fordert daher eine stĂ€rkere Stimme der Nichtatomwaffenstaaten als stĂ€ndige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Staaten, die sich jetzt schon freiwillig entschlossen haben, auf Atomwaffen zu verzichten, mĂŒssen festes Mitglied im Sicherheitsrat sein. DafĂŒr kĂ€men

zum Beispiel SĂŒdafrika in Frage, das den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) schon ratifiziert hat, und Brasilien sowie Indonesien, die beide den AVV unterzeichnet haben und demnĂ€chst ratifizieren werden. So könnte die neue Norm, die sich durch den Atomwaffenverbotsvertrag gegen den herrschen Nuklearismus („Atomwaffen bis in alle Ewigkeit“) durchgesetzt hat, weiter gestĂ€rkt werden.

Der Prozess, wie der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten ist, könnte als Modell dienen, um die notwendigen VerĂ€nderungen in der Struktur des derzeitigen Sicherheitsrates einzuleiten und atomwaffenfreien Stimmen eine Vertretung im Sicherheitsrat zu geben. Auch die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen ICAN unterstĂŒtzt diese Forderung.

Mehr zur Konferenz in Nairobi auf S. 34.

Dr. Angelika Claußen ist Co-PrĂ€sidentin der deutschen IPPNW.

30 WELT
BEI DER UN CIVIL SOCIETY CONFERENCE IN NAIROBI

Mut zum Frieden

IPPNW-Jahrestreffen in Frankfurt

Vom 26.-28. April 2024 fanden sich 160 Teilnehmer*innen zum IPPNW-Jahrestreffen in Frankfurt/Main zusammen. Die Vereinsmitglieder verabschiedeten einen politischen Leitantrag fĂŒr atomare AbrĂŒstung, AntrĂ€ge gegen die Militarisierung des Gesundheitswesens und zur Vereinsöffnung. Mit einer Kundgebung auf dem Paulsplatz endete das Treffen am Sonntag. Ärzt*innen und Aktivist*innen demonstrierten fĂŒr die Einhaltung der Menschenrechte in der Asylpolitik. In den RedebeitrĂ€gen wurde insbesondere die akute VernachlĂ€ssigung menschenrechtlicher Standards in der Gesundheitsversorgung geflĂŒchteter Menschen kritisiert und auf die humanitĂ€ren Konsequenzen von Kriegen verwiesen. Der ehemalige IPPNW-Vorsitzende Matthias Jochheim erinnerte an die aktive Rolle Deutschlands bei der Abschottungspolitik, die bereits Zehntausende Migrant*innen das Leben gekostet hat.

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AKTION
HAGEN

Abrechnung mit der NATO

PĂŒnktlich zum 75-jĂ€hrigen JubilĂ€um der NATO hat die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen eine kritische Übersicht ĂŒber Struktur und Wirken des westlichen MilitĂ€rbĂŒndnisses publiziert.

Zitat daraus: „Die Mythen der NATO verklĂ€ren den Blick auf die Wirklichkeit. Um Auswege aus der gegenwĂ€rtigen Krise zu finden, bedarf es ihrer EnthĂŒllung.“ Mit 130 Seiten ist das Werk recht schlank, dabei aber hochkonzentriert und vor allem ausgezeichnet struk turiert –was Zugang und Nutzbarkeit auch fĂŒr zeit gestresste Friedensbewegte enorm steigert.

In zwölf Kapiteln werden Essentials wie Ukraine- und Gazakrieg, „Zeitenwende“, die Doppelmoral der NATO in puncto Völkerrecht und Demokratie, die Kooperation ihres Geheimdienstes mit dem Rechtsterrorismus und die Destabilisierung des Weltfriedens durch ihre globale Expansion sowie die KĂŒndigung aller wichtigen RĂŒstungskontrollabkommen durch ihre FĂŒhrungsmacht USA beleuchtet. Ein ganzes Kapitel ist Julian Assange als politischem Gefangenen der NATO gewidmet. Den Abschluss bildet der Ausblick „Frieden statt NATO“.

Autorin und Verlag ist es dabei gelungen, das Buch auf erstaunlichem AktualitĂ€tsniveau herauszubringen und es mit einem höchst nĂŒtzlichen, nach Kapiteln geordneten Quellenapparat zu versehen. Absoluten Seltenheitswert hat zugleich die politische Expertise von Dagdelen: FĂŒr ihren scharf friedensfokussierten Blickwinkel kann sie sich auf fast 20 Jahre Erfahrung als MdB stĂŒtzen. Sie ist seit vielen Jahren Mitglied im AuswĂ€rtigen Ausschuss des Bundestages (heute als Obfrau fĂŒr das BSW) und der Parlamentarischen Versammlung der NATO und gehört der Parlamentariergruppe USA, der deutsch-chinesischen sowie der deutsch-indischen Parlamentariergruppe an. Entsprechend gut ist sie international vernetzt.

Mein Fazit: FĂŒr Friedensbewegte ist – auch im Internetzeitalter – die LektĂŒre des sehr gut lesbaren Buches ein großer Gewinn. Unter den oben genannten Blickwinkeln ist es derzeit konkurrenzlos – und seinen Preis von 16 Euro mehr als wert.

Sevim Dagdelen: Die NATO: Eine Abrechnung mit dem WertebĂŒndnis. 128 S., 16,- Euro, Westend, Frankfurt 2024, ISBN: 978-3-86489-467-1

Christoph KrÀmer

Zu viele Informationen

Wenn Sie wissen wollen, wie ein ausgewachsener Atomkrieg aussehen könnte, wie er auf plausible Weise beginnen (und enden) könnte, ist Annie Jacobsens Buch sehr wertvoll.

Ein Blick auf die umfangreichen Anmerkungen und das Literaturverzeichnis (fast 60 Seiten) zeigt, dass sehr viel Auswand in die Recherchen geflossen ist. Es geht um nukleare Strategien und ZielplĂ€ne, die Auswirkungen einer oder mehrerer Explosionen, den gefĂ€hrdeten Fortbestand der Regierung, die Nutzlosigkeit der Raketenabwehr, Probleme von MissverstĂ€ndnissen und FehleinschĂ€tzungen und viele andere Aspekte. Der wichtigste Punkt ist jedoch: Jacobsens Buch zeigt, dass die nukleare Abschreckung, wenn sie scheitert, zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, fĂŒhren wird. Dieser Punkt muss verstanden werden, wenn wir die Politik davon ĂŒberzeugen wollen, Atomwaffen abzuschaffen. Aus diesem Grund habe ich das Buch zunĂ€chst als Kampagneninstrument begrĂŒĂŸt.

Allerdings ist dieses Atomkriegsszenario nicht unbedingt plausibel. Ein „Blitz aus heiterem Himmel“ mag das sein, „was jeder in Washington am meisten fĂŒrchtet“, ist aber nicht das wahrscheinlichste Szenario. Jeffrey Lewis geht in seinem „2020 Commission Report on the North Korean Nuclear Attacks against the US“ ausfĂŒhrlich darauf ein, wie ein nuklearer Angriff aus Nordkorea auf die USA zustandekommen könnte. Annie Jacobsen jedoch erklĂ€rt nicht, wie es zu dem beschriebenen Angriff gekommen ist. Wenn wir andere ĂŒberzeugen wollen, dass die Abschreckung scheitern wird, muss die ErklĂ€rung plausibel sein.

Mein Hauptkritikpunkt ist, dass es zu viele Informationen gibt. Es reicht schon, sich damit auseinanderzusetzen, dass ein einziger Atomsprengkopf einen totalen Atomkrieg auslöst, der zu einem nuklearen Winter fĂŒhrt. Schon das ist die Vorstellung des Unvorstellbaren. Doch Jacobsen reiht eine Katastrophe an die andere und versucht anscheinend, alle von ihr recherchierten „Was wĂ€re wenn“-Forschungen zu nutzen. Problematisch sind zudem Fehler, die nur Atomexpert*innen bemerken und in den sozialen Medien kommentiert haben. Übrigens wird man nicht geblendet, wenn man auf eine Atomexplosion schaut, sondern, wenn man den Blitz vor der Explosion sieht. Trotzdem empfehle ich dieses Buch. Aber lesen Sie es nicht, bevor Sie schlafen gehen. Sonst werden Sie Probleme beim Einschlafen haben.

Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Atomkrieg. 400 S., 22,- Euro, Heyne, MĂŒnchen 2024, ISBN: 9783453218789. Xanthe Hall

32 GELESEN

JUNI

Thesen zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft

Liebe Mitglieder, aufgrund unseres Umzuges schließt der IPPNW-Shop bis zum 24. Juni 2024.

Antifaschismus ist eine Notwendigkeit und Migration die RealitĂ€t einer demokratischen Gesellschaft. Doch vielerorts wird Migration zum Problem schlechthin stilisiert, der eigene Rassismus hingegen ausgeblendet: Vor den Europawahlen hat die „Antifaschistischen Plattform zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft“ diese acht Thesen veröffentlicht.

Falz flyer DIN lang, kostenlos | Bestellen unter: shop.ippnw.de Download: ippnw.de/bit/8-thesen

IPPNW-Akzente TĂŒrkei

Die Teilnehmer*innen der IPPNW-TĂŒrkeireise berichten von der Situation von politischen Gefangenen und ihren Angehörigen, von der Arbeit in Adiyaman, einer vom Erdbeben stark betroffenen Stadt, von Umweltproblemen, von der systematischen Vertreibung von Kurd*innen aus ihren angestammten Gebieten, von den unfairen Bedingungen vor der Kommunalwahl und von der Situation GeflĂŒchteter im Transitland TĂŒrkei.

VerfĂŒgbar ab August 2024 unter: shop.ippnw.de Download: ippnw.de/bit/tuerkei-24

GEPLANT

Das nÀchste Heft erscheint im September 2024. Das Schwerpunktthema ist:

Atomwaffenverbot und Opferhilfe

Der Redaktionsschluss fĂŒr die Ausgabe 179 /September 2024 ist der 31. Juli 2024. Das Forum lebt von Ihren Ideen und BeitrĂ€gen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS

Herausgeber: Internationale Ärzt*innen fĂŒr die VerhĂŒtung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Redaktion: Dr. Lars Pohlmeier (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Frankfurter Allee 3, 10247 Berlin, Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank

IBAN: DE 23 4306 0967 1159 3251 01, BIC: GENODEM1GLS

Das Forum erscheint viermal jĂ€hrlich. Der Bezugspreis fĂŒr Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. SĂ€mtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedĂŒrfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss fĂŒr das nĂ€chste Heft: 31. Juli 2023

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout: Regine Ratke

Druck: DDL Berlin Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

Bildnachweise: S.7 Mitte: jcomp / freepik.com. Nicht gekennzeichnete Fotos: privat oder IPPNW.

19.6. 30 Jahre IPPNW-Regionalgruppe NĂŒrnberg-FĂŒrth-Erlangen: Medizinische Friedensarbeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit, NĂŒrnberg

JULI

1.7. Erhöhte Krebsraten durch Atomwaffentests, Vortrag von Dr. Tilman Ruff (IPPNW) in Hamburg

3.-7. 7. Camp fĂŒr Klimagerechtigkeit und nukleare AbrĂŒstung in Nörvenich bei Köln. Mehr unter: buechel.nuclearban.de

SEPTEMBER

14.9. Einweihungsfeier der neuen IPPNW-GeschÀftsstelle in der Frankfurter Allee 3, Berlin

16.9-27.9. Menschenrechtler*innen aus dem SĂŒdosten der TĂŒrkei besuchen Frankfurt (M) und Berlin:

20.09. Fachtag zu psychosozialer Arbeit mit Expert*innen aus der TĂŒrkei im Rahmen der kurdischen Delegationsreise, Berlin

OKTOBER

14.10. Side-Event der DPGG zum World Health Summit in der Staatsbibliothek Berlin

25.10. Nuklearer Fallout: Ökologische, ökonomische und soziale Auswirkungen des zivil-militĂ€rischen Atomkomplexes. Fachtagung AtommĂŒllreport in Hannover. Mehr unter: atommuellreport.de

Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

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33 NÖRVENICH BEI KÖLN 3.-7. 7. 2024
Camp fĂŒr Klimagerechtigkeit und nukleare AbrĂŒstung: buechel.nuclearban.de
TERMINE
GEDRUCKT

1Rolf, Du hast fĂŒr die IPPNW an der UN Civil Society Conference in Nairobi teilgenommen, wo eine Reform der UN vorbereitet wurde. Was war Dein erster Eindruck? Über 600 Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler*innen internationaler Einrichtungen und Diplomat*innen verschiedener Staaten haben in Nairobi intensiv zusammengearbeitet, dabei stammten 70 % aller Teilnehmer*innen aus den Staaten Afrikas. Fast 40 % von ihnen waren junge Menschen.

2Wie hat sich diese junge Generation bei der Konferenz eingebracht? Zusammen mit Dr. Kelvin Kibet, Bonventure Machuka und Dennis Opondo (IPPNW Kenia) nahm ich an einer Sitzung der deutschen UN-Botschafterin und ihres namibischen Kollegen teil, die sich mit ca. 50 jungen afrikanischen Teilnehmer*innen zu einem Austausch trafen. Diese forderten von den beiden Botschaftern Mit- und Entscheidungsrechte fĂŒr die junge Generation in den Gremien der UN. Sie wĂŒnschen sich Strukturen, die ihnen Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der UN ermöglichten. Ihr Ziel ist, den afrikanischen Interessen mehr Gewicht zu verleihen und der jungen afrikanischen Generation mehr Gehör zu verschaffen. Sie forderten Bildungsmaßnahmen und deren Finanzierung ĂŒber die UN Besonders MĂ€dchen mĂŒssten gefördert werden.

3Sicherlich war hier auch die Klimakrise zentrales Thema.

Die jungen Leute kritisierten, die Auswirkungen des Klimawandels trĂ€fen vor allem Afrika, das nicht der Verursacher sei. Die Folgen sind bekannt: VerwĂŒstung, Versteppung, Trockenheit, DĂŒrre, Wassermangel. Millionen Menschen sind betroffen, Hunger, Elend und millionenfacher Tod die katastrophale Konsequenz. Abschließend forderten zwei Teilnehmer noch völlig berechtigt einen Sitz eines afrikanischen Staates im UN-Sicherheitsrat. Ich war sehr beeindruckt von diesem Austausch.

4Was sind die zentralen Punkte des Zukunftspakts, der in Nairobi entstanden ist? Der inzwischen vorliegende Entwurf „Pact for the Future“ ist unter BerĂŒcksichtigung von 400 Statements und Expertisen entstanden. NatĂŒrlich war es nicht rea-

6 Fragen an

Rolf Bader

IPPNW-Mitglied und ehemaliger

GeschĂ€ftsfĂŒhrer der deutschen Sektion

listisch, alle VorschlĂ€ge und WĂŒnsche im Pact zu erfassen. Auf knapp 20 Seiten habe man sich mit 148 AbsĂ€tzen fĂŒr allgemeine Formulierungen entschieden, die den Weg fĂŒr eine Reform der UN umreißen wĂŒrden. Der dickste Brocken sei die angestrebte Reform des UN-Sicherheitsrats, fĂŒr die im Juni 2024 ein Vorschlag prĂ€sentiert werden solle, so Namibias UN-Botschafter Neville Gertze. Derzeit mĂŒsse man noch rechtliche Fragen klĂ€ren und GesprĂ€che mit einflussreichen Mitgliedsstaaten fĂŒhren. Die IPPNW sieht im Atomwaffenverbotsvertrag ein Vorbild fĂŒr notwendige VerĂ€nderungen in der Struktur des UN-Sicherheitsrates. Deshalb forderte sie in einem Statement, den atomwaffenfreien Staaten des Globalen SĂŒdens eine starke Vertretung im Sicherheitsrat zu geben.

5Was fĂŒr eine Rolle spielte Deutschland bei der Konferenz? Besonders wichtig war aus meiner Sicht die Mitwirkung der fĂŒr die Planung des Zukunftsgipfels zustĂ€ndigen deutschen UNBotschafterin Antje Leendertse und des namibischen Botschafters Neville Gertze. Beide drĂŒckten ihre große Dankbarkeit fĂŒr die ĂŒberwĂ€ltigende Mitwirkung der Zivilgesellschaft aus. Die Überzeugungsarbeit fĂŒr eine Reform der UN mĂŒsse weltweit von der Zivilgesellschaft geleistet werden. Ich hatte zum GlĂŒck auch die Gelegenheit, mit Frau Leendertse kurz ĂŒber das IPPNW-Statement zu sprechen.

6Welche Rolle spielte das Thema Frieden? Die Konferenz sendete ein deutliches Signal an die Mitgliedsstaaten, das Friedensgebot der UN-Charta zu achten. Nairobi wurde als Tagungsort ausgewĂ€hlt, um die Belange Afrikas stĂ€rker zu gewichten. Die ungleiche Verteilung von Lebenschancen zwischen Staaten des SĂŒdens und des Nordens ist eine wesentliche Ursache von Spannungen und gewaltsamen Konflikten. Der Abbau des Protektionismus, die Entschuldung und gerechte Handelsstrukturen sind deshalb eine zentrale Aufgabe des Zukunftsgipfels. Trotz zu erwartender WiderstĂ€nde einflussreicher UN-Mitglieder, werden jetzt die Weichen fĂŒr eine Reform der UN gestellt – damit wird ihre HandlungsfĂ€higkeit fĂŒr den Frieden in der Welt gestĂ€rkt

34 GEFRAGT



BroschĂŒre zum Bestellen

Im humanitĂ€ren Bereich hat das Werben um Erbschaften und NachlĂ€sse eine lange Tradition. Der Vorstand der IPPNW hat sich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, diese Möglichkeit den eigenen Mitgliedern, Fördererinnen und Förderern anzutragen. Den Einsatz fĂŒr Ziele, die Ihnen am Herzen liegen, können Sie durch ein VermĂ€chtnis oder ein Erbe nachhaltig unterstĂŒtzen. Diese zwölfseitige BroschĂŒre informiert Sie, welche Fragen dabei zu bedenken sind.

Ihr Nachlass gestaltet: Über den Tag hinaus

Ich bestelle ...... Exemplare der BroschĂŒre „Über den Tag hinaus die Zukunft mitbestimmen: Vererben oder vermachen an einen gemeinnĂŒtzigen Verein“.

Deutsche Sektion

Frankfurter Allee 3 10247 Berlin

Name Straße Plz, Ort E-Mail Unterschrift
IPPNW
issuu.com/ippnw Fax: 030 693 81 66

Wir ziehen um!

Liebe Mitglieder und UnterstĂŒtzer*innen,

es gibt gute Nachrichten: Nach mehreren Wochen Ausmisten, Archivieren von BĂŒchern, BroschĂŒren und Ordnern, dem Scannen von Unterlagen, Verschenken und Verkaufen von Möbeln und GerĂ€ten in der Körtestraße und Bau- und Sanierungsarbeiten in der Frankfurter Allee ist es bald so weit: Am 17. Juni 2024 wird die neue IPPNW-GeschĂ€ftsstelle in BerlinFriedrichshain eröffnet.

Unsere neue Adresse: IPPNW e. V. Frankfurter Allee 3 10247 Berlin (NĂ€he U Frankfurter Tor)

Vom 27. Mai 2024 bis voraussichtlich 16. Juni 2024 sind wir aufgrund unseres Umzuges in die neuen BĂŒrorĂ€ume telefonisch nicht erreichbar. Wir bitten um Ihr VerstĂ€ndnis!

Kommen Sie zur Einweihungsfeier am 14. September 2024 !

Herzlich einladen möchten wir Sie im Namen der GeschĂ€ftsstelle und des Vorstands zur der Einweihung unseres neuen BĂŒros am 14. September in der Frankfurter Allee 3. Damit wir besser planen können, bitten wir Sie um Anmeldung, wenn Sie an der Einweihungsfeier teilnehmen möchten: ippnw.de/ bit / einweihung

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