IPPNW-Thema: „Zivil-militärische Verknüpfungen: Atomausstieg und Abrüstung gehören zusammen“

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September 2025 internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

Zivil-militärische Verknüpfungen: Atomausstieg und Abrüstung gehören zusammen

„ATOMS FOR PEACE“, AUS DER BROSCHÜRE ZUR REDE VON US-PRÄSIDENT EISENHOWER AM 08.12.1953

Weitere Dokumente finden Sie unter anderem auf den Seiten der US-Nationalarchive: https://www.archives.gov

„Atome

für den Frieden“

Die weltweite Kampagne für die zivile Nutzung der Atomenergie trug zur Proliferation von Atomtechnik bei

Atoms for Peace lautete der Titel der berühmten Rede, die der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower am 8. Dezember 1953 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen hielt, und in der er die gleichnamige weltweite Initiative ankündigte. Die Großmächte USA und Sowjetunion sollten spaltbare Materialien zur Verfügung stellen und dadurch „einen Teil ihrer Stärke in den Dienst der Bedürfnisse der Menschheit und nicht in den Dienst ihrer Ängste stellen“. „Das furchtbare Geheimnis und die fürchterlichen Maschinen der atomaren Macht gehören nicht mehr uns allein“, so der US-Präsident. Nicht nur die Kontrolle über den weiteren Fortschritt und die Verbreitung nuklearer Technologie, sondern auch die Deutungshoheit über Atome für Frieden und Krieg waren zum Gegenstand des Kalten Krieges geworden. Der Kommunikationsberater Eisenhowers C.D. Jackson sah in „Atoms for Peace“ die US-Antwort „auf die fast vollständige Monopolstellung der Sowjets in der ‚Friedenspropaganda‘“. Die Initiative sollte die öffentliche Aufmerksamkeit vom Militär auf friedliche Anwendungen lenken. Eisenhower selbst bezeichnete dies als „psychologische Kriegsführung”.

Eisenhowers Engagement für den Einsatz, den Ausbau und die Verbesserung immer tödlicherer Atomwaffen blieb indessen ungebrochen. Hatten die USA zu Beginn seiner Amtszeit 841 Atomwaffen in ihrem Arsenal, so war diese Zahl bis 1960, gegen Ende seiner Präsidentschaft, auf über 18.000 angestiegen. Im Rahmen der Initiative zur Förderung der Atomenergie wurden weltweit Projekte initiiert. Die USA und die Sowjetunion exportierten zu diesem Zweck Forschungsreaktoren in verschiedene Länder – auch in solche, die später eigene Atomwaffen entwickelten. Schon 1955 konstatierte ein internes Memorandum des US-Außenministeriums, dass das „Atoms-for-Peace“-Programm aufgrund der Verbreitung von Wissen über Atomreaktoren und Plutoniumspaltung eine „Bedrohung des Friedens“ darstelle. „DAS ATOM SOLL FÜR DEN FRIEDEN, FÜR DEN KOMMUNISMUS ARBEITEN“: SOWJETISCHES PLAKAT VON 1976.

Lebendige Beweise der zivil-militärischen Verschränkung der Atomenergie

Zu einer effektiven nuklearen Abrüstung gehört langfristig der Ausstieg aus der Atomenergie

Ursprünglich war die Produktion von Atomstrom ein Nebenprodukt der Atomwaffenprogramme. Zwar ist der Anteil des Atomstroms an der weltweiten Stromproduktion seit über zwei Jahrzehnten rückläufig, doch genügt diese Industrie bis heute dem Zweck der Herstellung von Massenvernichtungswaffen und der Aufrechterhaltung ihrer Einsatzfähigkeit.

Der Slogan „Atoms for Peace“ ist tief in der Atomindustrierhetorik verankert. In seiner gleichnamigen Rede, die er im Dezember 1953 vor der UN-Generalversammlung hielt, gab US-Präsident Dwight D. Eisenhower den Anstoß zur Gründung der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) im Jahr 1957. In der ersten Hälfte seiner Rede beschreibt Eisenhower ausgiebig die Schrecken, Gefahren und das zerstörerische Potenzial der Atombombe und der nuklearen Aufrüstung, betont die gewaltige Zerstörungskraft, die Unmöglichkeit des vollständigen Schutzes und die Gefahr für die gesamte Menschheit. Anschließend vollzieht er einen erstaunlichen Übergang. „Das größte destruktive Potenzial kann zum Segen für die Menschheit werden“, so Eisenhower. „Wer könnte bezweifeln, dass, wenn alle Wissenschaftlerinnen und Ingenieure der Welt über ausreichende Mengen an spaltbarem Material verfügen würden, um ihre Ideen zu testen und weiterzuentwickeln, diese Fähigkeit rasch in eine universelle, effiziente und wirtschaftliche Nutzung umgewandelt würde?“, spekulierte er weiter.

Tatsächlich waren bereits in den 1950er Jahren Zweifel an dieser Annahme angebracht. Die weitreichenden Überschnei-

dungen der zivilen und militärischen Nutzung des Wissens über die menschlich herbeigeführte Kernspaltung sind schließlich keine Erkenntnisse der jüngeren Vergangenheit. Bereits das erste Papier zur Frage der Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen des „US Secretary of State‘s Committee on Atomic Energy“, das im Jahr 1946, also im Jahr nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, veröffentlicht wurde, stellte unmissverständlich fest, dass „die Entwicklung der Atomenergie für friedliche Zwecke und die Entwicklung der Atomenergie für Bomben in weiten Teilen ihres Verlaufs austauschbar und voneinander abhängig sind“. Das Papier wurde unter maßgeblicher Mitarbeit von J. Robert Oppenheimer erstellt. Oppenheimer war wissenschaftlicher Leiter des ManhattanProjekts, das die USA zur weltweit ersten atomar bewaffneten Nation machte. Auch auf die von Eisenhower 1953 rhetorisch postulierte Abgrenzbarkeit von Atomen für kriegerische Zerstörung und Abschreckung von Atomen für den Frieden folgte keine materielle Abgrenzung getrennter Industriekomplexe – geschweige denn eine Überwindung der nuklearen Rüstung und Abschreckung.

Großbritannien etwa ist seit 1952 nuklear bewaffnet. In diesem Jahr führten die Briten die ersten von insgesamt zwölf Atomwaffentests in Australien durch. In den Jahren nach 1956 – also nach Beginn der „Atoms for Peace“-Initiative und in die Frühphase der IAEO hinein – vollzogen die britischen Atomwaffenentwickler den nächsten großen Schritt im Aufwuchs des nuklearen Vernichtungspotenzials: Die Entwicklung der Wasserstoffbombe, über

die die USA und die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt bereits verfügten. Dabei spielte das erste Atomkraftwerk Englands eine entscheidende Rolle. Das AKW in Calder Hall im Nordwesten Englands speiste ab dem Jahr 1956 Strom in das britische Netz ein. Zudem entsprach es von Beginn an dem Zweck der Produktion von Plutonium für Atomwaffen, wie die UK Atomic Energy Authority (UKAEA) selbst öffentlich verkündete. „Nichts, was danach kommt, wird die Bedeutung dieses ersten großen Schritts nach vorn schmälern können“, betonte Sir Edwin Plowden als Vorsitzender der UKAEA bei der Eröffnung des AKW. Hatte er dabei seine rückblickend überzogenen Erwartungen an die Atomenergie zur Stromproduktion im Sinn? Oder ging es ihm um die Rolle des AKW bei der Produktion von waffenfähigem Plutonium oder von Tritium als „Booster” für die Wasserstoffbombe, in deren Entwicklung Calder Hall von Beginn an einbezogen war? Sicher ist, dass die materielle und institutionelle Verbindung zwischen militärischen Zwecken und der Stromproduktion in der Frühphase der Atomenergie maßgeblich war und bis heute in den meisten atomar bewaffneten Staaten fortbesteht.

Am 8. Dezember 2020, genau 67 Jahre nach Eisenhowers „Atoms for Peace“-Rede, stellte Emmanuel Macron, der Präsident Frankreichs, das seit 1960 eine Atommacht ist, fest: „Das eine geht nicht ohne das andere. Ohne zivile Atomkraft gibt es keine militärische Atomkraft, ohne militärische Atomkraft gibt es keine zivile Atomkraft“. In seiner Rede vor Arbeiter*innen der französischen Atomschmiede Le Creusot fuhr er fort: „Fabriken wie Ihre, die sowohl für Atomkraftwerke als auch

für Marineeinrichtungen produzieren, und Einrichtungen wie die Behörde für Atomenergie und alternative Energien [CEA] sind der lebendige Beweis dafür.“ Neben der materiell-technischen gegenseitigen Abhängigkeit betont Macron hier auch die institutionelle Basis der Verbindungen, indem er die CEA erwähnt, die bis 2010 nur „Commissariat à l’énergie atomique“ hieß.

Die Aufgabe der CEA, deren Gründung bereits 1945 beschlossen wurde, bestand darin, „wissenschaftliche und technische Forschung im Hinblick auf die Nutzung der Atomenergie in den Bereichen Wissenschaft, Industrie und Landesverteidigung zu betreiben“. Damit stand sie im Widerspruch zur offiziell verkündeten französischen Regierungsposition der frühen Jahre des Atomzeitalters, laut der sich Frankreich in diesem Feld auf friedliche Zwecke beschränken werde. Die in den folgenden Jahrzehnten getroffenen Entscheidungen, etwa bei der Auswahl von Reaktortechnologien, fielen jedoch häufig zugunsten einer militärischen Nutzbarkeit aus, um insbesondere eine möglichst einfache Extraktion von Plutonium für die Atomwaffenproduktion zu gewährleisten.

Ein weiterer lebendiger Beweis für die fortbestehenden engen institutionellen und industriellen Verbindungen der vermeintlich trennbaren zivilen und militärischen Zweige der Atomenergienutzung ist Rosatom, der russische Atomsektor. Das Unternehmen bzw. die staatliche Institution umfasst eigenen Angaben zufolge über 450 Organisationen, darunter eine eigene Abteilung für Atomwaffen. Offiziellen Zahlen zufolge sind mehr als 86.000 Mitarbeiter*innen für die „Nuclear Weapons Division“ des rus-

Die nukleare Kette

Uranabbau

Atomwaffen

Urananreicherung

Wiederaufarbeitung

Atomreaktor Strom

sischen Atomkomplexes tätig. Eine Trennung der Bereiche ist nicht vorgesehen, im Gegenteil. Der ehemalige RosatomChef und enge Vertraute von Präsident Putin, Sergei Kiriyenko, sagte 2011: „Es ist eine Tatsache, dass Atomenergie nicht nur AKW umfasst. Atomenergie ist der gesamte Atomwaffenschild dieses Landes. (...) Wenn ein Land die zivile Atomenergie auslaufen lässt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es keinen wettbewerbsfähigen Rüstungskomplex mehr hat.“

Ein Blick in die Geschichte und Gegenwart des Atomzeitalters zeigt: Die Entwicklung der Atomenergie begann militärisch. Es folgte eine Phase der Parallelentwicklung, in der auch die Stromerzeugung eine Rolle spielte. Zur langfristigen Aufrechterhaltung und Fortentwicklung ihrer Atomwaffenarsenale verfügen die fünf großen Atomwaffenstaaten über ein komplexes System einer zivil und militärisch genutzten, eng miteinander verwobenen Atomindustrie. Zwar muss nicht jedes Atomenergieprogramm zwangsläufig in der Bombe münden. Doch jede Atomanlage kann einen Schritt auf dem Weg zur Nuklearwaffe darstellen.

Dafür stehen unter anderem die Beispiele Indien und Pakistan. Die IAEA signalisiert unterdessen wenig Lernbereitschaft, wenn ihr Generaldirektor Rafael Grossi bei seinem Besuch in Saudi-Arabien erklärt, dass er es für eine „sehr kluge Entscheidung“ hält, dass das Königreich die Atomenergie in seinen Energiemix aufzu-

nehmen wolle, obwohl die Pläne als ökonomisch wenig sinnvoll gelten. Mohammed bin Salman hatte erst wenige Jahre zuvor erklärt, sein Land wolle eigentlich keine Atombombe erwerben, „aber wenn der Iran eine Atombombe entwickelt, werden wir zweifellos so schnell wie möglich nachziehen.“ Auch dort, wo eine militärische Nutzung heute wirklich keine Option zu sein scheint, können sich die politischen Bedingungen bereits morgen geändert haben. Deshalb gehört zu einer langfristig effektiven nuklearen Abrüstung auch der Ausstieg aus der Atomstromproduktion.

Quellen zu diesem Artikel unter: ippnw.de/bit/zivilmilitaerisch

Patrick Schukalla ist IPPNWReferent für Atomausstieg, Energiewende und Klima.

Atomwaffen

Der Iran kann auch ohne weitere Anreicherung Atomwaffen bauen

Nur Diplomatie kann das verhindern!

Seit den aufeinanderfolgenden Luftangriffen Israels und der USA auf iranische Atomanlagen im Juni 2025 konzentriert sich ein Großteil der hitzigen und stark politisierten öffentlichen Debatte darauf, ob die Angriffe die Fähigkeit Teherans zum Bau von Atomwaffen „ausgelöscht“ oder nur um einige Monate oder Jahre zurückgeworfen haben. Ein entscheidender Punkt wird jedoch unerklärlicherweise weiterhin weitgehend übersehen: Irans Vorrat von über 400 Kilogramm hochangereichertem Uran (HEU) – angereichert auf 60 Prozent Uran 235 – ist waffenfähig. Das bedeutet, dass das HEU des Iran – das laut einem Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) aus dem Juni nach den ersten Luftangriffen Israels nicht mehr auffindbar war und möglicherweise vor den Angriffen an sichere Orte gebracht wurde – direkt zur Herstellung von Bomben verwendet werden könnte.

Wenn der Iran noch Zugang zu einem Teil seiner HEU-Vorräte hat, könnte die direkte Verwendung dieses Materials seinen Führern plötzlich als der attraktivste und schnellste Weg zu einer Bombe erscheinen, insbesondere wenn seine Fähigkeit zur Anreicherung von Uran tatsächlich erheblich beeinträchtigt ist. Es mag andere Engpässe auf dem Weg zur Waffenproduktion geben, aber der Zugang zu Bombenmaterial wäre keiner davon.

Derzeit ist es für Israel und die Trump-Regierung ein großes Rätsel, ob die HEUVorräte des Iran die Angriffe überstanden haben. Es gibt keine plausible militärische Option, um sie zu zerstören oder zu beschlagnahmen, ohne ihren Standort genau bestimmen zu können – der mittlerweile überall im Iran liegen und möglicherweise auf mehrere Standorte verteilt sein könnte. Der effektivste Weg für die inter-

nationale Gemeinschaft, um volles Vertrauen zu gewinnen, dass das HEU nicht für Waffenzwecke abgezweigt wurde, ist daher ein diplomatisches Abkommen, in dem Israel und die Vereinigten Staaten auf weitere Angriffe verzichten und der Iran der IAEO alle Informationen und den Zugang gewährt, die sie benötigt, um den Verbleib der Vorräte vollständig zu klären und schnell wieder ein dauerhaftes Verifikationssystem einzurichten.

Ein offenes Geheimnis

Dass HEU mit einer Anreicherung von 60 Prozent in einer Atomwaffe verwendet werden kann, ist kaum ein Staatsgeheimnis. Aber es hat jetzt an Bedeutung gewonnen, da die Fähigkeit des Iran, dieses Material weiter anzureichern oder zusätzliches HEU aus weniger angereicherten Beständen herzustellen, nach den Angriffen auf die Zentrifugenanreicherungs- und andere unterstützende Anlagen in Natanz, Fordow und Isfahan um mindestens mehrere Monate – oder nach einigen Schätzungen sogar um Jahre – zurückgeworfen wurde.

Obwohl der Iran sowohl aus praktischen als auch aus strategischen Gründen allen Grund haben mag, keine direkte Waffenproduktion aus seinem verbleibenden 60-prozentig angereicherten HEU zu verfolgen, ist dies eine andere Frage als die, ob er über die technischen Fähigkeiten dazu verfügt. Die vorherrschende Behauptung, dass der Iran für den Bau einer nuklearen Sprengvorrichtung „waffenfähiges“ Uran benötigt, das zu mindestens 90 Prozent mit Uran 235 angereichert ist – eine Behauptung, die von Regierungsbeamten, Medien und Kommentatoren gleichermaßen wiederholt wird – ist schlichtweg falsch. Man muss nicht lange suchen, um die Grundlage für die Aussage zu finden, dass sämtliches

HEU für Waffenzwecke verwendet werden kann. Die IAEO betrachtet HEU, das als auf 20 Prozent oder mehr angereichertes Uran definiert ist, als Material für den „direkten Gebrauch“, was bedeutet, dass es „ohne Umwandlung oder weitere Anreicherung für die Herstellung von nuklearen Sprengkörpern verwendet werden kann“. Dies ist die Grundlage für die internationalen Sicherungsmaßnahmen, die die IAEO auf Bestände von deklariertem HEU und anderen direkt verwendbaren Materialien wie separiertem Plutonium anwendet, sowie für die internationalen Standards, die den Schutz direkt verwendbarer Materialien durch Staaten vor Diebstahl im Inland regeln. Das bedeutet nicht, dass alle HEUQualitäten hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit in Waffen gleichwertig sind, und es ist wichtig, die Unterschiede zu verstehen.

Die „erhebliche Menge“ an HEU, die von der IAEO als „die ungefähre Menge an Kernmaterial, bei der die Möglichkeit der Herstellung eines nuklearen Sprengkörpers nicht ausgeschlossen werden kann“ definiert wird, beträgt 25 Kilogramm Uran235. Bei zu 90 Prozent angereichertem Material entspricht dies insgesamt 27,8 Kilogramm Uran. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass 20 bis 25 Kilogramm zu 90 Prozent angereichertes HEU zur Herstellung einer Implosionswaffe der ersten Generation verwendet werden könnten –ähnlich der Plutoniumwaffe „Fat Man“, die 1945 Nagasaki zerstörte – allerdings mit einem größeren Durchmesser und einem erheblich höheren Gewicht.

Bei einer Anreicherung von 60 Prozent entspricht die von der IAEO festgelegte signifikante Menge 41,7 Kilogramm Gesamturan (oder dem 1,5-fachen der signifikanten Menge bei 90 Prozent). Das bedeutet, dass zumindest für ein bestimmtes Waffendesign ein fester Vorrat an HEU bei

60 Prozent eine geringere Anzahl von Waffen ermöglichen würde als bei 90 Prozent. Ein analoges Design vom Typ „Fat Man” mit 60 Prozent könnte etwa doppelt so viel Gesamturan erfordern wie bei 90 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass der von der IAEO gemeldete Vorrat des Iran von 408 Kilogramm für die Herstellung von etwa 6 bis 7 Waffen dieses Typs verwendet werden könnte, verglichen mit den 9 bis 10, die bei 90 Prozent geschätzt wurden. (...)

Mögliches Design einer Waffe

Im Februar berichtete die New York Times, dass der Iran ein Crash-Programm in Betracht ziehe, um innerhalb weniger Monate eine relativ einfache Atomwaffe zu entwickeln, die zwar nicht so miniaturisiert werden könne, dass sie auf eine ballistische Rakete passe, aber mit anderen Mitteln transportiert werden könne. Obwohl dies aus dem Artikel nicht ganz klar hervorgeht, deutet er darauf hin, dass die angestrebte Anreicherung für einen solches Modell immer noch bei 90 Prozent läge. Angesichts der Zweifel an der Fähigkeit des Iran, das Material schnell weiter anzureichern, ist es jedoch sinnvoll zu überlegen, ob ein solch einfaches Gerät einen 60-prozentigen Urankern aufnehmen könnte, ohne seine Wirksamkeit erheblich zu beeinträchtigen.

Die Verwendung von mehr Uran mit geringerer Anreicherung in einer Implosionsvorrichtung der ersten Generation hat im Allgemeinen gewisse Nachteile, die mit dem größeren und schwereren Kern (...) und dem Neutronenreflektor verbunden sind. Eine solche Konfiguration würde deutlich mehr Sprengstoff erfordern, um den Kern und andere Strukturen zu komprimieren und einen hoch superkritischen Zustand zu erzeugen, in dem die Geschwindigkeit der Kernspaltungsreaktionen exponentiell

zunimmt, was zu einer nuklearen Explosion führt. Ein weiterer Faktor ist, dass die Kernspaltungskettenreaktion in geringer angereichertem Uran langsamer abläuft. Dies verringert in der Regel die Sprengkraft, da weniger Kernspaltungsreaktionen in einem überkritischen Kern stattfinden können, bevor dieser auseinanderbricht und die Kettenreaktion stoppt. Andere mildernde Faktoren könnten diese Nachteile jedoch teilweise ausgleichen, sodass die Nachteile hinsichtlich Gewicht und Größe möglicherweise nicht so gravierend sind, wie es zunächst erscheint.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass der Iran mit 60-prozentig angereichertem HEU Waffen vom Typ „Little Boy“ bauen könnte, wie die Bombe, die Hiroshima zerstörte und für die etwa 60 Kilogramm HEU mit einer Anreicherung von etwa 80 Prozent verwendet wurden. Diese würden pro Waffe mehr Uran benötigen als Implosionsvorrichtungen, (...) wären aber viel einfacher zu bauen. Das Risiko einer Vorzündung aufgrund spontaner Neutronenerzeugung – ein Effekt, der die Sprengkraft verringert und eher bei Kanonenwaffen ein Problem darstellt – wäre bei 60-prozentig angereichertem HEU höher – aber der Unterschied wäre wahrscheinlich nicht entscheidend.

Verhinderung eines nuklearen

Durchbruchs

Wenn der Iran weiterhin Zugang zu einem erheblichen Teil seiner derzeitigen 60-prozentigen HEU-Vorräte hat, hätte er auch dann Möglichkeiten zur Waffenproduktion, wenn er das Material nicht weiter anreichern kann. Derzeit könnte der limitierende Faktor für eine mögliche Waffenproduktion die fehlende Fähigkeit sein, Uranhexafluorid in Uranmetall umzuwandeln, nachdem die Anlage in Isfahan durch den US-Bombenangriff am 20. Juni

zerstört wurde. Aber selbst das wäre kein großes Hindernis, falls der Iran bereits über eine kleine geheime Anlage verfügt oder das Know-how und die Ausrüstung besitzt, um diese Fähigkeit wiederherzustellen. Obwohl der Ersatz einer Großanlage Jahre dauern könnte und es schwierig wäre, sie heimlich zu bauen, wäre eine Anlage, die in kurzer Zeit einige hundert Kilogramm produzieren kann, keine so große Herausforderung. (...)

Die technische Fähigkeit des Iran, aus seinen Beständen an 60-prozentigem hochangereichertem Uran (HEU) relativ schnell zumindest einige wenige primitive Waffen herzustellen, darf nicht außer Acht gelassen werden. Die Frage dreht sich dann um die Absicht: Ist die Herstellung von Waffen für den Iran in einer Zeit der Schwäche und der Bedrohung seiner Führung strategisch sinnvoll? Unter der Annahme, dass die iranische Führung rational ist und die potenziell katastrophalen Folgen eines Versuchs, eine Atomwaffe zu bauen und einzusetzen, versteht, sollte die Antwort klar „Nein“ lauten. Es wird jedoch immer Zweifel an den Absichten des Iran geben, solange er der IAEO nicht uneingeschränkten Zugang und Befugnisse gewährt, um zu überprüfen, ob die Vorräte noch vorhanden sind und nicht abgezweigt wurden. Die einzige praktikable Lösung, um einen nuklearen Ausbruch des Iran zu verhindern, ist eine diplomatische. Sowohl Jerusalem als auch Washington sollten dies so sehen.

Edwin S. Lyman ist Physiker und Direktor für nukleare Sicherheit bei der Union of Concerned Scientists.

Tritium für Atomwaffen aus „zivilen“ Atomkraftwerken

Das TRIDENT-Vorhaben der französischen Regierung wirft rechtliche Fragen auf

Die gegenseitige Abhängigkeit von ziviler Atomenergie und Atomwaffen als Motivator für die aufwendige Aufrechterhaltung teurer und gefährlicher Atomindustrien ist ein in der energiepolitischen Debatte unterbelichteter Faktor. Eine neue Strategie Frankreichs zur Produktion von Tritium für Atomwaffen, die sich derzeit im Testlauf befindet, wirft Fragen auf.

Die Nutzung von Atomenergie zur Stromproduktion ist eine Technologie, die insbesondere angesichts der Klimakrise und der notwendigen Ausweitung der erneuerbaren Stromerzeugung mit auffällig vielen gravierenden Nachteilen verbunden ist. Dies wirft die Frage auf, warum einige Regierungen so beharrlich an der nuklearen Option festhalten, während AKW entlang der vielen energiepolitischen Kriterien so offensichtlich hinter den Erwartungen zurückbleiben.

Selbst der jüngste Bericht des Generalinspektors für nukleare Sicherheit und Strahlenschutz der Électricité de France (EDF) teilt diese Diagnose in gewisser Weise. Einzig bei den Risiken und Gegenmaßnahmen wendet er diese zu Gunsten der Atomenergie und zu Ungunsten der erneuerbaren Energien. So stellt Jean Casabianca, ehemaliger Admiral der französischen Marine und nun im Dienste der EDF, fest, dass der Zuwachs an erneuerbarem Strom zu einem nuklearen Sicherheitsrisiko wird. Eine Priorisierung erneu-

erbarer Quellen bedeutet ein häufigeres Hoch- und Runterfahren der Leistung der Atomreaktoren, was „niemals unbedenklich für die Sicherheit, insbesondere die Reaktivitätskontrolle, sowie für die Wartbarkeit, Langlebigkeit und Betriebskosten unserer Anlagen“ ist, so Casabianca. Aus dieser Feststellung, dass AKW nicht in der Lage sind, den aktuellen und zukünftigen Anforderungen entsprechend zu operieren, sollte eigentlich nur eine energiepolitische Forderung abgeleitet werden: zumindest mittelfristig den Ausstieg aus der Atomenergie zugunsten der Erneuerbaren anzustreben. Demgegenüber wird jedoch der Vorschlag gemacht, die Priorisierung der erneuerbaren Energien zu hinterfragen. Dem nominell zwar vorgebrachten Ziel einer klimagerechten und resilienten Energieversorgung kann das Festhalten an der Atomstromproduktion also nicht tatsächlich dienen. Während die Motivation zur Aufrechterhaltung einer Atomindustrie zugunsten ihrer militärischen Funktionen in der energiepolitischen Debatte zumeist ungenannt bleibt, wird dieser Zusammenhang an anderer Stelle durchaus offen ausgesprochen (siehe S. 22f.)

Die Verwicklungen sind nicht nur historisch offenbar, sondern auch brandaktuell. Sie betreffen eine ganze Reihe von Bereichen, wie etwa die Finanzierung nuklearer Militärvorhaben bzw. der Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit von Atomwaffen. Dies ist der Fall, wenn Investitionen in die Atomstromproduktion nur im Sinne der

zivilen Nutzung zu Buche schlagen und die militärische Mitnutzung den jeweiligen Militäretats erspart bleibt. Das Gleiche gilt, wenn die Ausbildung von wissenschaftlichem und technischem Personal im atomaren Sektor explizit so ausgerichtet wird, dass auch der militärische Bedarf an entsprechender Expertise langfristig gedeckt wird. Oder wenn Förderungen sogenannter „Small Modular Reactors“ nominell für zivile Anwendungen betrieben werden, ohne deren mögliche Rolle bei der Weiterentwicklung nuklearer Antriebe für militärische U-Boote zu benennen.

In Frankreich ist die Abhängigkeit von Materialflüssen aus zivilen Reaktoren, wie sie in vielen Atomwaffenstaaten gängige Praxis war und ist, im Fall des regelmäßig zu erneuernden radioaktiven Wasserstoffisotops Tritium, das in Atomwaffen zum Einsatz kommt, von besonderer Aktualität. Denn für die modernen thermonuklearen Waffen, die auch als Wasserstoffbomben bekannt sind, ist Tritium unverzichtbar, da es die Effizienz und Sprengkraft der Waffen erhöht. In diesem Zusammenhang wird Tritium daher auch häufig als „Booster“ bezeichnet. Das sogenannte „Boosting“ verstärkt die nukleare Sprengkraft des auf Kernspaltung beruhenden Primärsprengsatzes, der die intensive Energie erzeugt, die zur Zündung der Fusion des Sekundärsprengsatzes benötigt wird. Aufgrund der Halbwertszeit von 12,3 Jahren nimmt die Menge an Tritium jährlich und unvermeidbar um 5,5 Prozent

DAS FRANZÖSISCHE AKW CIVAUX IN DER REGION NOUVELLE-AQUITAINE

ab. Um einen bestimmten Vorrat für diese Atomwaffen aufrechtzuerhalten, wird Tritium daher kontinuierlich produziert. In der Vergangenheit wurde dies in den USA und Frankreich sowie anderen Atomwaffenstaaten durch die Bestrahlung von Lithium in speziellen militärischen Produktionsreaktoren durchgeführt.

Bereits im März 2024 kündigte das französische Verteidigungsministerium an, nach der Abschaltung seiner Militärreaktoren, die bislang zur Aufrechterhaltung der Tritium-Versorgung betrieben wurden, ein AKW von EDF in Civaux in der Nähe von Poitiers mit seinen zwei Druckwasserreaktoren zur Tritiumproduktion für das nationale Atomwaffenprogramm nutzen zu wollen. Das aktuelle Vorhaben läuft unter dem Projektnamen „TRIDENT“ – Transformation industrielle d’énergie nucléaire en tritium. „Trident“ heißt bezeichnenderweise auch eine Klasse von U-Boot-gestützten ballistischen Interkontinentalraketen. Die Tests zur Umsetzung des Projektes laufen bereits. Reaktorblock 2 befindet sich seit April 2025 für diese Arbeiten in Revision, Block 1 soll im September 2025 folgen.

Als Vorbild dürften die USA gedient haben, deren Geschichte und Gegenwart der Tritium-Herstellung der jüngste „World Nuclear Industry Status Report”5 ausführt. Auch in den Vereinigten Staaten wurde Tritium ursprünglich in rein militärischen Reaktoren erzeugt. 1999 erfolgte die Um-

stellung auf Reaktoren, die ansonsten der kommerziellen Stromproduktion im AKW Watts Bar im Bundesstaat Tennessee dienten. Dort wurden sogenannte Tritiumproduzierende Burnable-Absorber-Rods (TPBARs) in den Reaktorkern eingebracht. Diese enthalten Lithium-Isotope und erzeugen durch Neutronenbestrahlung Tritium. Diese Methode war mit verschiedenen Sicherheits- und Betriebsherausforderungen verbunden. Unter anderem kam es zu unerwartet hohen Tritium-Leckagen in das Kühlwasser des AKW. Über die technischen Details der Tests am AKW Civaux und die entsprechenden Risiken für Umwelt und Gesundheit ist bisher wenig bekannt. Die Erfahrungen aus den USA lassen jedoch aufhorchen, wenngleich von einem Projekt kleineren Umfangs als in Watts Bar auszugehen ist, da Frankreich über eine insgesamt deutlich kleinere Anzahl entsprechender Sprengköpfe verfügt, für die Tritium vorgehalten wird. Bislang ist nur die Testphase durch die französischen Aufsichtsbehörden genehmigt, nicht die langfristige industrielle Serienproduktion.

Doch das TRIDENT-Vorhaben wirft auch rechtliche Fragen auf. EDF und das französische Militär müssen sich im Hinblick auf ihre Nutzungskooperation im Bereich der AKW voraussichtlich auch mit der Frage auseinandersetzen, ob Uran aus Australien oder Kanada für die Produktion von Tritium für Atomwaffen verwendet werden darf. Beide Länder haben den Export auf zivile Zwecke beschränkt.

„Ob die indirekte Nutzung von Uran zu militärischen Zwecken mit den Verpflichtungen zur friedlichen Verwendung von Ländern wie Australien oder Kanada zu vereinbaren ist oder nicht, ist eine komplexe Frage internationalen Rechts“, so der Atompolitikberater Mycle Schneider.

Sollten die französischen Behörden zu dem Schluss kommen, dass dies nicht zulässig ist, hätte dies Einschränkungen für die Herkunft des in Civaux verwendeten Uranbrennstoffs zur Folge. Grundsätzlich sind diese Fragen jedoch nicht rein juristisch, sondern auch vor dem Hintergrund ihrer weitreichenden technischen und politischen Pfadabhängigkeiten zu betrachten – nicht zuletzt im Zusammenhang der Debatte um eine mögliche Europäisierung der französischen Atomwaffenarsenale (siehe S. 28f.). Schließlich ist das „TRIDENT“-Programm langfristig angelegt und würde im Falle seiner Umsetzung auch zukünftig eine Co-Abhängigkeit „ziviler“ AKW und der Strategie der nuklearen Abschreckung untermauern.

Quellen zu diesem Artikel unter: ippnw.de/bit/tritium

Patrick Schukalla ist IPPNWReferent für Atomausstieg, Energiewende und Klima.

Der Ruf nach der Eurobombe

Wo nukleare Infrastruktur ausgebaut wird, erhöht sich die Gefahr eines tatsächlichen Atomwaffeneinsatzes

Der russische Angriff auf die Ukraine und die Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten löste bei vielen Menschen in Deutschland die Besorgnis aus, dass Europa plötzlich ohne die erweiterte amerikanische Abschreckung dastehen könnte. Anstatt über alternative Sicherheitsmodelle zu sprechen und die Notwendigkeit von allgemeiner nuklearer Abrüstung hervorzuheben, überwog der Ruf danach, die nukleare Abschreckung unbedingt aufrechtzuerhalten und das 2020 vom französischen Präsidenten Macron geäußerte Angebot zu einem „strategischen Dialog“ anzunehmen. Weiter angefacht wurden diese Diskussionen im Frühjahr, als Friedrich Merz als neuer deutscher Bundeskanzler das Gesprächsangebot aufgriff.

Vor allem die öffentliche Debatte ging dabei jedoch oft weit über das tatsächliche französische Angebot hinaus. Zunächst hatte Macron lediglich einen Dialog angeboten, Partnerstaaten sollten ein besseres Verständnis für die französische Nukleardoktrin und mögliche Einsatzszenarien entwickeln. Zudem bestand die Einladung, an den Atomwaffenübungen teilzunehmen.

Dieser erste Schritt ging im deutschen Diskurs beinahe unter, die meisten Kommentare dachten bereits weiter und skizzierten etwa mögliche Teilhabemodelle. Ein „strategischer Dialog“ ist davon noch weit entfernt – doch als erster Schritt auf einem langen Weg der militärischen und politischen Zusammenarbeit nicht zu unterschätzen. Gerade, da Frankreich bislang nicht einmal Teil der nuklearen Planungsgruppe der NATO ist. Ein Signal für Frankreichs Bereitschaft, seine Abschreckung europäisch auszurichten, ist die sogenannten „Northwood Declaration“ vom 10. Juli 2025. In dieser verkündeten Macron und der britische Premierminister Keir Starmer, dass ihre beiden Länder ihre Nuklearpolitik künftig eng koordinieren wollen. Zwar bleibt die Kontrolle über die jeweiligen Arsenale national verankert, doch die gemeinsame Erklärung sagt deutlich, dass eine existenzielle Bedrohung Europas automatisch auch eine Bedrohung für Frankreich und Großbritannien wäre –und damit eine nukleare Antwort nach sich ziehen könnte. Aus diesem Grund soll eine neu eingerichtete „UK-France Nuclear Steering Group“ die Nukleardoktrinen und Einsatzpläne für Atom-

waffen enger zusammenbringen und miteinander abstimmen. Für die deutsche Diskussion ändert sich damit zwar unmittelbar wenig. Doch die Erklärung verdeutlicht, dass die beiden Länder grundsätzlich bereit sind die Diskussion um eine Europäisierung der nuklearen Abschreckung weiterzuführen.

Der „strategische Dialog“ ist also angelaufen. Aus französischen Fachkreisen wurde zusätzlich angeregt, dass die Verbündeten die französischen Atomstreitkräfte unterstützen sollten. Hier wurde diskutiert, ob beispielsweise Deutschland Luftwaffenstützpunkte ausbauen sollte, um Rafale-Kampfjets, die französischen Atombomber, aufnehmen zu können – temporär oder sogar dauerhaft. Eine Art französische nukleare Teilhabe nach Vorbild der NATO ist aber nach wie vor nicht geplant. Polen hatte zwar einen entsprechenden Wunsch geäußert, doch französische Expert*innen sprechen sich nach wie vor gegen ein solches Modell aus. Wenigstens solange die derzeitige Teilhabe mit den USA Bestand hat. Auch Liviu Horovitz und Claudia Major schreiben in Internationale Politik im Juni 2025, dass „keiner der Vorschläge erkennen [lässt], dass Frankreich eine Ersatzrolle für die USA übernehmen will.“

Gegen ein Teilhabemodell spricht auch, dass das französische Atomwaffenarsenal derzeit in keiner Form auf eine erweiterte Abschreckung ausgelegt ist. Selbst derzeit diskutierte, weniger weitreichende Pläne müssen mit einer Aufrüstung einhergehen. Und dass, obwohl alle Atomwaffenstaaten bereits jetzt ihre Arsenale aufrüsten und modernisieren und damit bereits jetzt massive Kritik vieler Nichtatomwaffenstaaten ernten. Denn laut dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) sind die Atomwaffenstaaten verpflichtet, in ernsthafte Abrüstungsgespräche einzusteigen anstatt immer weiter aufzurüsten.

Ein weiterer Punkt, der in der deutschen Diskussion oft fehlt, sind die Finanzen. Macron machte mehrmals deutlich, dass die Kosten für die nukleare Aufrüstung nicht von Frankreich getragen werden. Neue Atomwaffen und Trägersysteme müssten also jene Staaten zahlen, die unter einem französischen Atomschirm stehen möchten. Im Hinblick auf die Kostenverteilung zeigt sich eine deutliche Parallele zum zivilen Atomsektor Frankreichs, des-

PROTEST GEGEN DIE IN BÜCHEL STATIONIERTEN ATOMWAFFEN, 2019

sen Förderung maßgeblich auch dem Erhalt und der Erneuerung der französischen Atomwaffen dient (siehe S. 24 f.). So hat die französische Regierung in den vergangenen Jahren weitreichende Anstrengungen unternommen, um die Kosten ihrer Atomindustrie auf europäischer Ebene subventionieren lassen zu können.

In Deutschland wird derzeit der Luftwaffenstützpunkt in Büchel, auf welchem die US-amerikanischen Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO stationiert sind, für neue F35-Bomber und B61-12 Bomben modernisiert. Im Juli gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass dieser Umbau nicht wie ursprünglich geplant 700 Millionen Euro, sondern über zwei Milliarden kosten wird. Die F35-Jets muss ebenfalls Deutschland bezahlen, für 35 Maschinen knapp zehn Milliarden Euro. Auch der Umbau eines französischen Flugplatzes zum Atomwaffenstützpunkt wurde jüngst vom französischen Verteidigungsministerium mit 1,5 Milliarden veranschlagt. Kosten in derartiger Höhe sind also keine Ausnahme, sondern die Regel. Und das sind nur die Kosten für einen einzigen Stützpunkt und ohne Gelder für die Entwicklung und Produktion der Waffen, die nach Macron ebenfalls von den interessierten Staaten getragen werden müssten. Sollte Deutschland sich tatsächlich an einer europäischen Abschreckung durch Frankreich beteiligen wollen, würde das weitere Milliarden Haushaltsmittel verschlingen. Milliarden, die in anderen Bereichen wie dem Gesundheitssystem, dem Bildungssektor oder auch in den Sozialkassen dringend gebraucht werden.

Während in der öffentlichen Diskussion also ein französisches Teilhabemodell meist als Ersatz für die nukleare Teilhabe der NATO besprochen wird, gilt dieses Szenario in Fachkreisen als wenig realistisch. Stattdessen sollen europäische Staaten Frankreichs Force de Frappe unterstützen und somit letztlich die nukleare Infrastruktur ausbauen – für eine vermeintlich noch engmaschigere Abschreckung. All diese Debatten und Szenarien werden jedoch nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bringen. Wo nukleare Infrastruktur ausgebaut und Strukturen gedoppelt werden, da erhöht sich auch die Gefahr, dass Atomwaffen tatsächlich wieder eingesetzt werden. Nicht nur, aber auch, weil Russland diese Entwicklungen nicht ignorieren, sondern mit eigener Aufrüstung

darauf reagieren wird. Derzeit ist noch nicht bekannt, dass tatsächlich Atomwaffen nach Belarus verlegt wurden. Doch sollten französische Atombomber weiter im Osten, in Deutschland oder sogar Polen stationiert werden, dann dürfte das wieder eine Option werden. Und Europa wäre in einer noch schlechteren Position, dies zu verurteilen. Glaubwürdig gegen die Lagerung russischer Atomwaffen in Belarus argumentieren können die Mitglieder der NATO, vor allem Deutschland und die anderen Teilhabestaaten, ohnehin erst, wenn die US-amerikanischen Atomwaffen aus Europa abgezogen sind.

Anstatt also über die Unterstützung der französischen Atomstreitkräfte und die engere Kooperation zwischen einigen europäischen Staaten bei der nuklearen Abschreckung zu diskutieren, sollten diese Staaten sich deutlicher für nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung einsetzen. Eine öffentliche Diskussion, die den Iran und Belarus für ihre nuklearen Ambitionen verurteilt, während über eine mögliche nukleare Latenz in Deutschland und eine nukleare Teilhabe mit Frankreich gesprochen wird, ist heuchlerisch. Eine Fachdiskussion, die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit Frankreich debattiert, um „die Erfolgschancen der französischen Nuklearoptionen [zu] verbessern und so die kollektive Widerstandsfähigkeit [zu] stärken“ (Horovitz und Major 2025) ohne die katastrophalen humanitären Folgen dieser Nuklearoptionen zu thematisieren, ist gefährlich. Denn sie normalisiert nicht nur Atomwaffen an sich, sondern in der Konsequenz auch ihren Einsatz. Ein Atomkrieg zwischen Frankreich und Russland würde sich „auf das Territorium der dazwischenliegenden Staaten verlagern“, das erkennen auch Horowitz und Major an. Der Atomkrieg würde in Deutschland geführt.

Juliane Hauschulz ist Referentin der IPPNW für nukleare Abrüstung.

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Weiterführende Informationen:

• Aktuelles zu Atomenergie und Atomwaffen auf ippnw.de: www.ippnw.de/atomenergie und www.ippnw.de/atomwaffen

• Webseite zu den Folgen von Atomwaffen für Gesundheit und Umwelt: survivors.ippnw.de

• IPPNW-Information „Atomenergie – der Treibstoff für die Bombe“: shop.ippnw.de/produkt/atomenergie-dertreibstoff-fuer-die-bombe/

• Eine interaktive Karte zu den Gesundheits- und Umweltfolgen der nuklearen Kette hibakusha-worldwide.org/de/

Die Artikel und Fotos dieses Heftes stammen aus unserem Magazin „IPPNW-Forum“, Ausgabe Nr. 182, September 2025. Im Mittelpunkt der Berichterstattung des IPPNW-Forums stehen „unsere“ Themen: Atomwaffen, Friedenspolitik, Atomenergie, Abrüstung und Klima und soziale Verantwortung in der Medizin. In jedem Heft behandeln wir ein Schwerpunktthema und beleuchten es von verschiedenen Seiten. Darüber hinaus gibt es Berichte über aktuelle Entwicklungen in unseren Themenbereichen, einen Gastkommentar, Nachrichten, Kurzinterviews, Veranstaltungshinweise und Buchbesprechungen. Das IPPNW-Forum erscheint viermal im Jahr. Sie können es abonnieren oder einzelne Ausgaben in unserem Online-Shop bestellen.

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