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WEGE

DER AUFKLÄRUNG

Band 03

Elisabeth Décultot, Daniel Weidner (Hg.)

Nützt es dem Volk, betrogen zu werden?

Eine Debatte zur Politik der Aufklärung

Wege der Aufklärung

Herausgegeben von Elisabeth Décultot und Daniel Weidner

Band 3

Nützt es demVolk, betrogenzuwerden?

Eine Debatte zur Politik der Aufklärung

Schwabe Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Professur für neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer (Prof. Dr. Elisabeth Décultot)sowie des Lehrstuhls für Komparatistik (Prof. Dr. Daniel Weidner) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Druck:Prime Rate Kft., Budapest

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5374-5

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5375-2

DOI 10.24894/978-3-7965-5375-2

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Inhalt

Einleitung

Elisabeth Décultot und Daniel Weidner: Nützt es dem Volk, betrogen zu werden?Eine Debatte zur Politik der Aufklärung .. .. .... . 9

Kontexte

Hans Adler: Haarrisse im Bollwerk der Aufklärung. Die Dynamisierung des Vernunftbegriffs seit der 1780er-Preisfrage der Preußischen Akademie 19

Martin Urmann: «Est-il utile àlasociété que le cœur de l’homme soit un mystère?» Die Berliner Volksbetrugsfrage im Lichte der Preisausschreiben der französischen Akademien ...

Ritchie Robertson: Deceiving or Educating the People? Voltaire versus Adam Smith ... ....

Konzepte

. 37

55

Bertrand Binoche: La superstition au nom des Lumières ?. ... ... .... . 71

Rainer Godel: Instrumentelle Aufklärung?Die Preisfrage nach dem Volksbetrug im Zusammenhang der Vorurteilsdebatte ... ... .... . 93

Daniel Dumouchel:Aufklärung,perfectibilité, progrès de l’esprit. L’argumentation anthropologique, de Rudolf Zacharias Becker àKant .. . 119

Elisabeth Décultot: Reprise et transformation d’un topos du discours politique. L’Académie de Berlin et son concours de 1780 ... ... ... .... . 137

Probleme

Sebastian Engelmann: Die Asymmetrie verantworten. Pädagogischer Betrug als paternalistische Steuerungsmaßnahme .. .... . 163

Jean-Alexandre Perras: AUseful Enlightenment. The Popular Uses of Knowledge for Rudolph Zacharias Becker ... .... . 179

Tim Friedrich Meier: Vergleich –Abgrenzung –Zukunftsvision? Juden als Vor- und Gegenbild einer aufgeklärten Gesellschaft ..

Daniel Weidner: Die «Parallele von Gesetzgebung und Religion». Politisch-theologische Argumente in der Debatte über den Volksbetrug

Paradoxien

Andrea Kern: Das Paradox der Aufklärung. Kants Idee der «selbstverschuldeten Unmündigkeit»und die Frage nach dem «Fortschritt der Aufklärung».

Céline Spector: L’autorité du sacré et le noble mensonge. Le rôle du législateur dans le Contrat social

Harald Bluhm: Betrug –Täuschungen –Schein. Politiktheoretische Reflexionen zur 1780er-Preisfrage der Preußischen Akademie

Nachleben

Daniel Fulda: «Inhoc signo vinces». Aufklärungs-Beschwörung in Ernst Lorenz Rathlefs nicht eingereichter Beantwortung der Preisfrage «Est-il utile au Peuple d’être trompé?»

Axel Rüdiger: Kants Reprise. «Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen».

Elias Buchetmann: Hegel und die Volksbetrugsfrage. VonAufklärung und Selbsttäuschung

Nützt es dem Volk, betrogen zu werden?

Eine Debatte zur Politik der Aufklärung

Am 23. Mai 1784 schickt Moses Mendelssohn an die Berliner Mittwochsgesellschaft ein Votum «Über die Freiheit, seine Meinung zu sagen». Es ist ein kurzer, aber so grundsätzlicher wie skeptischer Kommentar:Inder Öffentlichkeit über Meinungsfreiheit zu diskutieren, sei, so Mendelssohn, latent widersprüchlich, denn die «Untersuchung selbst setzt den Gebrauch der Freiheit schon voraus».1 Falls es notwendig sein solle, diese Freiheit einzuschränken, «somuß die eiserne Macht es thun, nicht die Vernunft»; und falls man darüber sprechen wolle, so taugen solche Diskussionen «bloß für das Closet, für geschlossene Gesellschaften wie die unsrige, wo der aufgeklärte Theil der Nation unter sich in Freundschaft und gegenseitigem Zutrauen ihre Meinungen vorbringen».2

Auf welchen Vortrag Mendelssohn hier eigentlich reagiert, ist nicht mehr bekannt –wohl aber der weitere Kontext:«Ich habe aus ähnlichen Gründen die Frage über die Volksvorurtheile jederzeit für einen unschicklichen Gegenstand der öffentlichen Untersuchung gehalten.»3 Mendelssohns Kommentar ist damit auch ein Beitrag zu der vier Jahre zuvor von der Classe de philosophie spéculative der Berliner Académie royale des Sciences et Belles-Lettres gestellten Preisfrage: «Est-il utileaupeuple d’être trompé?» («Nütztesdem Volk, betrogen zu werden?»), an der er sich eben wegendieserlatentenAporienichtbeteiligt habe:

Wenn dem Volke irgend etwas verschwiegen werden soll, so muß ihm vor allen Dingen das Geheimnis nicht entdeckt werden, daß man die Absicht habe, dieses zu thun. Wer mich durch Unwahrheit hintergehen will, der muß dieses Vorhaben am meisten zu verbergen suchen;und man findet in der That, daß Niemand so sehr mit seiner Wahrheitsliebe prahlt und sie im Munde führt als der Lügner, der sein Handwerk versteht.4

Verschweigen ist also nur schweigend möglich –aber im Umkehrschluss ist auch das Reden von der Wahrheit oder der Freiheit kein Indikator, dass diese wirklich herrschen, weil das eben Prahlerei, Lüge, Täuschung sein kann. Die

1 Mendelssohn 1981, 123.

3

4

Wahrheit kann gar nicht verborgen werden –aber auch nicht offenbart werden, jedenfalls nicht ohne «Schranken»und Vorsichtsmaßnahmen.

Mendelssohns Skepsis war eine Ausnahme. Die Preisfrage von 1780 stieß wohl gerade darum auf ein lebhaftes Echo, weil sie nicht nur zahlreiche zentrale Themen der Aufklärung aufrief –die Rolle der Vorurteile, der Fortschritt von Geist und Sitten, die Erziehung des Volkes, die Formen vernünftiger Herrschaft –, sondern auch die politischen Implikationen der Aufklärung selbst:ob Aufklärung und Regierung wirklich gemeinsame Interessen verfolgten, ob erstere letztlich durch Täuschung geschützt werden müsse oder umgekehrt letztere durch Täuschung kompromittiert werde etc. In diesen Debatten zeigt sich die zunehmende Skepsis gegenüber der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts und an ihnen lassen sich deren Ambivalenzen und Spannungen erkennen:die prekäre Position der deutschen Aufklärung, die den Kampf gegen Vorurteile mit der Unterordnung unter die staatliche Obrigkeit verband, das zweideutige Verhältnis der Aufklärung überhaupt zum «Volk», ihr Glaube und ihre Zweifel an der Macht der Wahrheit. Die Debatte ist aber auch heute aktuell angesichts einer sich zuspitzenden Krise der Öffentlichkeit und eines sich verschärfenden Streites um den politischen Wert der Wissenschaft, in dem oft explizit Bezug auf die Aufklärung genommen wird.

Gerade diese Verbindung von Aufklärung und Gegenwart war der Grund, vom 22.–24. März 2023 eine Tagung am Interdisziplinären Zentrum zur Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA)der Universität Halle zu organisieren. Drei Tage lang wurde im Ausgang von der Preisfrage nach der Politik der Aufklärung und deren Relevanz für die Gegenwart gefragt –Diskussionen, die sich nun in den hier vorgelegten Beiträgen widerspiegeln. Wir danken Johanna Wildenauer, Jonas Liebing und Andrea Thiele für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung, Baptiste Baumann und Ferdinand Vogt für die Bearbeitung der Manuskripte, Moritz Bense für die Erstellung des Personenregisters sowie dem Schwabe Verlag für die gute Zusammenarbeit.

Mit dem Untertitel lesen wir die Debatten um die Preisfrage als Teil einer «Politik der Aufklärung»und damit im Kontext eines Graduiertenkollegs mit diesem Titel, das im April 2025 seine Arbeit aufgenommen hat und für dessen Vorbereitung die Tagung eine wichtige Rolle gespielt hat. Diese Politik betrifft nicht nur das Verhältnis von Volk und Regierung oder das von Vernunft und «eiserner Macht». Sie handelt auch von der Macht der Vernunft, also vom Politischen der Aufklärung selbst:Was impliziert Aufklärung politisch, was will sie eigentlich, wie sieht sie ihre eigene Wirkung oder wie wird diese Wirkung gesehen?Welche Theorie verbindet sich mit welcher Praxis, und wie verhalten sich Theorie und Praxis zu ihren jeweiligen Vorannahmen, was politisch machbar ist und was nicht?Kann man zur Aufklärung erziehen und wie verhält sich die Aufklärung des Volkes zu dessen Selbstaufklärung oder gar zur Aufklärung der

10 Elisabeth Décultot und Daniel Weidner

Aufklärung?Und wo situieren sich die Autoren, die sich ja zum Großteil selbst als Aufklärer betrachten, in diesem Prozess: als Avantgarde, als Berater der Macht, als Vermittler, Erzieher oder –auch das kommt vor –als Tröster und Fürsprecher des Volkes?Damit wird nicht nur die Aufgabe der Philosophie in der Gesellschaft bestimmt, sondern es werden auch verschiedene Modelle von Aufklärung –von oben herab, von unten herauf, Aufklärung der Macht, durch die Macht, im Schutze der Macht etc. –entworfen und diskutiert. Herauszuarbeiten sind hier die vorausgesetzten Narrative, die Hintergrundmetaphern und die rhetorischen Strategien, mit denen die Aufklärer sich mit ihren Lesern, dem ‹wir›der Gebildeten, ins Benehmen setzen. Das gilt umso mehr, als die provozierende Frage viele der Beiträger motiviert, auch die Hindernisse und Widerstände zu thematisieren, denen die Aufklärung begegnet:Tun sie das offen oder täuschen sie selbst, oder täuschen sie sich gar selbst darüber, dass sie täuschen?

Weil die Preisfrage die zentralen Problemfelder der Aufklärung aufgreift, ist es wichtig, einige ihrer größeren Kontexte aufzurufen, etwa den vorausgesetzten Vernunftbegriff, dessen Wandel sich in den Diskussionen abzeichnet, das Verständnis von Erziehung sowie auch den Gattungskontext der Preisfragen im 18. Jahrhundert.5 Dass dabei die Preisfrage von 1780 schon von den Zeitgenossen als gleichermaßen anstößig wie epochemachend und auch als schockierend betrachtet worden ist, liegt tatsächlich auch an ihrem Kontext bzw. an ihrer Vorgeschichte. Denn nach dem Nutzen der Täuschung zu fragen, war nicht die erste Wahl gewesen:Die Akademie hatte sich eigentlich bereits auf eine andere Frage aus dem Bereich der Metaphysik geeinigt, sich dann aber dem Druck des preußischen Königs gebeugt, gerade die Frage nach dem Volksbetrug zu stellen. Dass ausgerechnet der preußische König, der selbst in seiner Jugend im Anti-Machiavel die Täuschung in der Politik verworfen hatte,6 und nach dem Kant wenig später das Jahrhundert der Aufklärung benennen sollte, der Wissenschaft eine Aufgabe und das Thema Täuschung aufzwang, illustriert die prekäre Natur der Aufklärung. Sie ist auch in der Forschung zur Preisfrage immer wieder aufgenommen worden, zuerst von Werner Krauss, der 1966 einige der Beiträge unter französischem Titel veröffentlichte.7 1974 betonte Werner Schneiders, dass mit der Preisfrage die Debatte über die wahre Aufklärung und ihre Spannungen –etwa zwischen ‹Helldenken› und ‹Selbstdenken› –begann.8 Und 2007 stellte Hans Adler seiner Edition sämtlicher Antworten, auf die sich unsere Tagung durchgängig stützte, die Frage voraus, ob sich die Aufklärung

5 Vgl. in diesem Band die Aufsätze von Hans Adler, Martin Urmann und Ritchie Robertson.

6 Vgl. Frédéric II, Anti-Machiavel.

7 Vgl. Krauss 1966.

8 Vgl. Schneiders 1974.

selbst begrenzen oder auch selbst verstehen könne.9 Es ist daher auch mehr als angemessen, dass der Band von einem Beitrag von Adler eröffnet wird, der nach über fünfzehn Jahren auf die Preisfrage zurückschaut und sie in aktuellen Kontexten verortet.

Die über vierzig Einsendungen diskutierten die Frage in aller Breite und mit einer Fülle verschiedener Konzepte.10 Die zentralen Begriffe der Frage –«tromper», «utile», und «peuple»– werden untersucht:Ist eine Täuschung dasselbe wie eine Lüge, gibt es notwendige, legitime oder unvermeidliche Täuschungen, oder taktische und strategische Irreführungen?Deckt sich der Nutzen des Volkes mit dem allgemeinen Nutzen, besteht dieser Nutzen einfach im Glück von allen oder hat er noch andere Implikationen?Und wer ist überhaupt dieses Volk, wie verhält sich die ‹multitude›der Ungelehrten zur Gesamtheit der Untertanen?Die Frage der Täuschung erweist sich dabei als verwandt mit vielen anderen zentralen Diskussionen der Aufklärung:über Vorurteile, über den Kampf gegen den Aberglauben, über die Grenzen des Wissens, über die Irrtümer, die sich mit dem Gebrauch der Sprache verbinden, über die Glückseligkeit des Menschen und sein Verhältnis zur Religion, über die Erziehung etc. Insofern kann die Frage auch als eine Art Summe der Aufklärung gelesen werden. In den Debatten werden dabei denn auch eine Fülle von vertrauten Diskursen der Aufklärung aufgerufen:von der platonischen Vorstellung eines Idealstaats über die Erinnerung an den Prozess des Sokrates und die daraus abgeleitete Vorsicht des Philosophen bis zu den verschiedenen Figuren des weisen Gesetzgebers und der Vorstellung einer religio duplex,einer doppelten Religion für die Menge und die Eingeweihten. Permanent verhandelt wird auch das Wissen über die Regierungsformen, popularphilosophische Ideen der Öffentlichkeit oder Vorstellungen von Fortschritt und Bildung, die mit der Aufklärung einhergehen.

Interessant sind die Einsendungen aber nicht nur wegen der Breite der berührten Themen, sondern weil es gerade ihre Vielfalt möglich macht, die dahinterliegenden Probleme der Aufklärung zu erkennen.11 Denn es gehört zu den Besonderheiten dieses Korpus, dass wir nicht nur einzelne Stellungnahmen vor uns haben, sondern diese gleichsam synoptisch, im Vergleich lesen können. Nicht immer sind die gegebenen Antworten originell, oft auch in sich nur bedingt kohärent;und sie variieren auch formal stark:Von der philosophischen Deduktion über das Lehrgespräch bis zum Essay im expressiven Stil der Empfindsamkeit demonstrieren sie auch in dieser Hinsicht die Vielfalt der Aufklä-

9 Vgl. Adler 2007.

10 Vgl. in diesem Band die Aufsätze von Bertrand Binoche, Rainer Godel, Daniel Dumouchel und Elisabeth Décultot.

11 Vgl. in diesem Band die Aufsätze von Sebastian Engelmann, Jean-Alexandre Perras, Tim Friedrich Meier und Daniel Weidner.

12 Elisabeth Décultot und Daniel Weidner

rung. Dass sie teils auf Deutsch, teils auf Französisch verfasst sind –und manchmal auch in beiden Sprachen vorliegen –, passt nicht nur zur Situation an der Akademie, sondern auch zum Status der Öffentlichkeit in Deutschland. All das macht es möglich, die Beiträge gewissermaßen quer zu lesen und damit mitunter auch das Vorausgesetzte und in den einzelnen Beiträgen nicht wirklich deutlich artikulierte, gewissermaßen ‹Unbegriffliche›herauszuarbeiten. Dazu gehört etwa die Art, in der die Beitragenden sich selbst verorten:meist irgendwie als dritte Partei zwischen dem Volk und den Herrschenden, teils als Zuschauer, oft als Ratgeber, manchmal als Übersetzer oder Fürsprecher.

Die aufgeklärte Diskussion über die Grenzen der Aufklärung führt fast notwendig zu Uneindeutigkeiten und Paradoxien.12 Bekanntlich konnte sich die Akademie nicht entscheiden, und prämierte zwei gegensätzliche Beiträge von Rudolf Zacharias Becker, der den Nutzen des Betrugs kategorisch verneint und Frédéric de Castillon, der ihn in bestimmten Situationen für unvermeidbar hält. Das lässt sich als Akt politischer Vorsicht verstehen und drückt auch die Ambivalenz der Bewerber gegenüber dem Volk aus. Es ist aber auch Symptom von blinden Flecken und Paradoxien im Verhältnis von Macht und Wissen. Die selbstreflexive Drehung der Frage führt dazu, dass hier immer auch über sich selbst gesprochen wird und dabei bestimmte Vorannahmen zutage treten bzw. sonst meist latente Fragen explizit werden:Kann sich das Gemeinwesen selbst entwickeln oder braucht es eine Leitung?Geht Aufklärung mit dieser Leitung einher, soll sie diese beraten, oder vollzieht sie sich in deren Schutz?Und wie wird sich das entwickeln:Wird Aufklärung Herrschaft überflüssig machen, braucht Herrschaft immer (mehr)Aufklärung oder entwickeln sich beide unabhängig voneinander?Wenn Wissen und Macht sich gegenseitig beeinflussen, soll dann Wissen die Macht heben oder wird Wissen durch Macht hinabgezogen?Und wer sagt das, und wo?

Auch wenn die Preisfrage unmittelbar keine großen Spuren in der Geschichte des politischen Denkens zu hinterlassen schien, hat sie doch ein Nachleben.13 Zu ihm gehört bereits die nur wenig später geführte Debatte über ‹Was ist Aufklärung?›, die wenn auch weniger explizit die Frage nach der Politik der Aufklärung fortsetzte. In der zumindest in einigen Beiträgen getroffenen Unterscheidung zwischen dem Nutzen für das Volk und dem Nutzen für die herrschenden Klassen zeichnen sich bereits Grundlinien einer Ideologiekritik ab, die dann das neunzehnte Jahrhundert weiterentwickeln wird. Wichtiger ist vielleicht noch, dass die Situierung der Frage entscheidend dafür ist, wie im Nachhinein die Aufklärung verstanden wird:Steht die Preisfrage für eine Wasserscheide, eine Art Zenit, ein Nachhutgefecht?Kann man sie als Triumph oder als Niederlage der Aufklärung lesen, oder als beides?Präfiguriert sie die Revo-

12 Vgl. in diesem Band die Aufsätze von Andrea Kern, Céline Spector und Harald Bluhm.

13 Vgl. in diesem Band die Aufsätze von Daniel Fulda, Axel Rüdiger und Elias Buchetman.

lution –oder die Fremdheit der meisten deutschen Aufklärer ihr gegenüber?

Lässt sich von ihr die Brücke zu anderen Täuschungen schlagen, also etwa zur Täuschung der Obrigkeit, die für die Konstruktion einer radikalen Aufklärung so wichtig werden wird?Was bedeutet es überhaupt, heute über die Frage und über Aufklärung zu reden –wissenschaftlich und öffentlich?

Denn auch wenn wir der Aktualität der Frage keine eigene Sektion mehr gewidmet haben, schwingt sie doch in allen Beiträgen dieses Bandes mit. Das gilt schon für die Einsendungen selber, deren Großteil über Nutzen und Schaden der Täuschung nicht nur im Allgemeinen diskutieren, sondern in Beziehung zur Gegenwart:Sie sind immer auch Zeitdiagnosen über das Erreichte und noch Ausstehende der Aufklärung, über Gegenreaktionen oder über einen zu befürchtenden Verfall, sei es der Moral, sei es der Aufklärung. Das verweist einerseits auf ihre historischen Kontexte, auf die Begriffe und Probleme, die sie verhandeln. Es verweist aber in ihrem Anspruch auf Aktualität auch auf unsere Gegenwart, in der die Fragen von Täuschung und Lüge, vom Pathos der Wahrheit und Gestus und Habitus der Aufklärung immer noch und gerade heute besonders aktuell sind. Es scheint, dass die Grundfrage nach dem Verhältnis von Macht und Wahrheit mehr denn je im Zentrum der Debatten steht:Wie kann in ‹postdemokratischen›Gesellschaften, angesichts der Erosion des vermeintlich selbstverständlichen Zusammenspiels von gesellschaftlichem Diskurs, politischen Institutionen und medial vermittelter Öffentlichkeit, angesichts der Krise politischer Partizipation und des gesellschaftlichen Konsenses mit dem Verhältnis von Wissen und Wahrheit umgegangen werden?Welche Rolle sollen Experten, welche Rolle die Medien spielen?Ist Wahrhaftigkeit ein unhintergehbarer Wert oder dient sie ohnehin besonderen Interessen?Wenn gegenwärtig auch die disziplinären Zuständigkeiten fragwürdig werden, weil die seit langem gängigen Paradigmen der Politik- oder Sozialwissenschaft nicht mehr überzeugen und nach einem anderen, radikaleren und offeneren Denken des Politischen gefragt wird, dann werden die in vieler Hinsicht undisziplinierten Diskussionen der Aufklärung wieder aktuell.

Mendelssohn beendete sein Votum für Vorsicht und Zurückhaltung mit einem Gleichnis:

Auf den Alpen soll es zwischen den Schneegebirgen eine Gegend geben, wo die Reisenden gewarnt werden, keinen Laut von sich zu geben, weil sie dadurch in größte Gefahr kommen, die großen Schneemassen zu erschüttern und über sich herstürzen zu machen. Gesetzt, der Führer, der sie begleitet, riefe ihnen unaufhörlich auf dem Wege diese Warnung mit lauter Stimme zu;würde er nicht ungereimt und seinem eigenen Verbot zuwider handeln?14

14 Mendelssohn 1981, 124.

14 Elisabeth Décultot und Daniel Weidner

Die Beiträge zur Preisfrage von 1780 entsprechen diesen lauten Rufen:Egal ob sie sich gegen die Täuschung aussprechen oder sie akzeptieren, sie riskieren, etwas in Bewegung zu setzen, in dessen Schutz sich die Aufklärung, jedenfalls die deutsche, bis dahin bewegt hatte, auf das sie sich vielleicht sogar gestützt hatte. Was da nun herabzustürzen droht, können Hindernisse sein, Gegenkräfte, die man besser nicht weckt, auch stille Voraussetzungen, die besser im Hintergrund bleiben. Ob die Lawine dann wirklich damals niedergegangen ist, sei dahingestellt –letztlich war es eben auch eine akademische Debatte. Dass man heute vor diesen Gefahren nicht mehr die Augen verschließen kann, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Es könnte daher lohnend sein, den Lärm von 1780 zu studieren.

Literaturverzeichnis

Adler, Hans (Hg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden?Est-il utile au Peuple d’être trompé? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, 2Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 2007.

[Frédéric II de Prusse]: Anti-Machiavel, ou Essai de critique sur le Prince de Machiavel, publié par Mr. De Voltaire, Nouvelle Edition où l’on aajouté les variations de celle de Londres, Amsterdam, 1741.

Krauss, Werner (Hg.): Est-il utile de tromper le peuple?Ist der Volksbetrug von Nutzen? Concours de la classe de philosophie spéculative de l’Académie des sciences et des belles-lettres de Berlin pour l’année 1780, Berlin 1966.

Mendelssohn, Moses:«Über die Freiheit, seine Meinung zu sagen», in:ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, Bd. 6,1:Kleinere Schriften I, bearb. von Alexander Altmann, 121–124.

Schneiders, Werner:Die wahre Aufklärung zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg/München 1974.

Haarrisse im Bollwerk der Aufklärung

Die Dynamisierung des Vernunftbegriffs seit der 1780er-Preisfrage der Preußischen Akademie

In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte1

1. Vorbemerkung

Im Folgenden versuche ich die 1780er-Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften theoretisch zu kontextualisieren und für eine Neuorientierung der Aufklärungsforschung fruchtbar zu machen. Nach der Publikation des Preisschriftenkorpus 2007 möchte ich nun die Anregung der Preisfrage zum Nachdenken über systematische und historische Aspekte der Begriffe ‹Wahrheit›, ‹Aufklärung›und ‹Vernunft›aufgreifen und die Fronten der gegenwärtigen Debatte markieren.

Ich hatte bereits 2007 in meiner Edition der 1780er-Preisschrift auf die Verbindung zwischen dem Volksbetrugsproblem und der Begründung und Durchführung des Irak-Krieges hingewiesen.2 Es ging mir dabei nicht darum, eine gewisse Ubiquität des Zusammenhanges von Betrug und Wahrheit über die Jahrhunderte zu verfolgen, sondern darum, begreiflich zu machen, wie ein Zentralbegriff der Aufklärung in seiner Rolle als axiomatischer Grundstein offenbar widerspruchsfrei in seiner handlungsanleitenden Funktion mit seinem pragmatischen Gegenteil ‹funktionieren›kann. Derlei Überlegungen zu axiomatischen Konstellationen des Aufklärungskonzepts lassen sich nicht rasch durch Listen exemplarischer konzeptueller Belege beibringen. Notwendig ist dafür ein Innehalten, ein diskursives Zurücktreten und eine Entlastung vom Druck nervöser Polemiken, um aus einer distanzierten Haltung die axiomatische Grundlage unserer Praxis der Aufklärungsforschung zu prüfen und zu ändern. Das ist durchaus als Plädoyer für einen temporären Rückzug eines beträchtlichen Teils unserer Forschungsenergie in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm aufzufassen, verstanden nicht als resignierende Form von Eskapis-

1 Benjamin 1991, 695.

2 Vgl. Adler 2007, XIV (dort auch detailliert zum Kontext der Entstehung der Preisfrage).

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