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Hoffnung in düsteren Zeiten
Interview mit dem ehemaligen UN-Diplomaten und Beigeordneten Generalsekretär Hans-Christof von Sponeck
Wenn Sie nach Gaza blicken und die erschütternden Bilder sehen, die schutzlosen Menschen dort, wie geht es Ihnen als langjähriger und sehr aktiver UN-Diplomat?
Die Bilder aus Gaza sind Bilder des Grauens, die täglich wie am Fließband im deutschen Fernsehen der Öffentlichkeit präsentiert werden. Gaza ist integraler Teil der deutschen Nachrichten geworden. Es gelingt mir nicht, mein Entsetzen in Worte zu fassen. Es gelingt mir nicht, zu verstehen, wie es möglich sein kann, dass die Regierung Israels, eines Volkes, das selbst so gelitten hat, zum größten Schlächter des Augenblicks geworden ist. Es gelingt mir nicht, zu begreifen, warum die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen es nicht als ihre moralische Verpflichtung ansehen, diesem größten Völkerrechtsbruch des bisherigen 21. Jahrhunderts mit den Mitteln, die sie haben, ein Ende zu setzen.
Die internationale Öffentlichkeit reagiert gegenüber dem Krieg in Gaza sehr unterschiedlich. Die westlichen Regierungen um die USA, die eng mit Israel verbündet sind, betonen das Recht auf Selbstverteidigung. Sie unterstützen Israel politisch, finanziell und militärisch. Die Länder des „globalen Südens“ gruppieren sich um Südafrika, das vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Klage gegen Israel wegen des Verdachts auf Völkermord an den Palästinensern eingereicht hat. Wo stehen die Vereinten Nationen in dieser Welt angesichts des Grauens, das dort geschieht?
Die Vereinten Nationen – und alle Mitgliedsstaaten – sind an das Internationale Recht gebunden und das erlaubt in Artikel 51 der UNO-Charta jedem Land das Recht der Verteidigung. Am 7. Oktober 2023 wurde Israel angegriffen und hatte das Recht, sich zu verteidigen. Aber Israel hatte nicht das Recht, militärisch so vorzugehen, dass bestehendes Kriegsrecht auf die brutalste Weise verletzt und die Genfer Konventionen zum Schutz der Bevölke- rung ausnahmslos ignoriert werden. Wenn also die US-Administration oder andere NATO-Staaten Israel unterstützen, folgt diese Entscheidung deren (politischem) Willen, Macht auszuüben, sie folgt nicht dem Recht.
Nach 23 Monaten des Blutbads, das Israel der palästinensischen Bevölkerung antut, sind der Welt drei Tatsachen klargeworden: Der israelischen Regierung ist die Zerschlagung der Hamas wichtiger als das Leben der einfachen palästinensischen Bürger; den Freunden Israels ist die Unterstützung mit Waffen wichtiger als die Einhaltung internationalen Rechts; multinationale Organisationen, insbesondere die Vereinten Nationen, haben sich als unfähig erwiesen, einen wirkungsvollen Beitrag für die Beendigung dieses asymmetrischen Konflikts zu liefern.
Nun sagt der Kanzler, Deutschland setze die Lieferung der Waffen an Israel aus, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Aber es ist ja davon auszugehen, dass deutsche Waffen und Waffensysteme auch bei den israelischen Angriffen im Westjordanland, gegen Libanon, Syrien, Jemen und nicht zuletzt Iran zum Einsatz kommen.
Obwohl schon Ende des Jahres 2023 immer mehr Regierungen die Politik des Völkermords der Regierung Netanyahu deutlich verurteilten, teilte die Regierung Scholz dem Internationalen Gerichtshof mit, Deutschland werde Israel als Drittpartei in dem Gerichtsverfahren Südafrika gegen Israel wegen Völkermord beistehen. Der damalige Regierungssprecher Hebestreit meinte, der Vorwurf des Völkermords „entbehrt jeder Grundlage.“ Heute sprechen selbst israelische Organisationen wie B’Tselem und die Physicians for Human Rights davon, dass im Gazastreifen „koordinierte Angriffe stattfinden, mit dem Ziel, eine ganze Gruppe zu zerstören“, und dass dort „ein Genozid passiert“. Die Bundesregierung schweigt dazu, warum? Warum hat sie geschwiegen, als Ende Juli das mit Babymilch und anderen humanitären Gütern beladene Schiff ‚Handala‘ der internationalen Friedensorganisation Gaza Flottille von der israelischen Marine in internationalem Gewässer aufgebracht wurde? Die Außenminister von 28 Nationen, die meisten aus der EU, haben eine Resolution unterzeichnet, die das sofortige Ende des Krieges im Gazastreifen fordert. Warum gehört Deutschland nicht zu den Unterzeichnern? Die peinliche Erklärung von Regierungssprecher Kornelius lautete: „Kanzler Merz und Außenminister Wadephul haben die gleichen Forderungen an Israel in ihren Statements erhoben“, das genüge. Hinzu kommt die irrelevante Aussage von Außenminister Wadephul: „Niemand kann von uns verlangen, dass wir Israel im Stich lassen, das von Iran, von Huthis, Hisbollah und Hamas bedroht ist.“ Die deutsche Außenpolitik ist schwach und beschämend geworden.
Kanzler Merz hat am Rande des G7-Gipfels in Alberta am 17. Juni gesagt: „Israel macht im Iran für uns die Drecksarbeit.“ Das ist schamlos. Wie ist es möglich, dass ein Sprecher des Auswärtigen Amts in einer Stellungnahme zu dem israelischen Mord von sechs Journalisten am 12. August in Gaza sagt: „Wenn es dazu kommt, wie es jetzt passiert ist, dann liegt es an der Partei, die eine solche Tötung unternimmt, klar darzulegen, warum dies notwendig war.“ Hat unsere politische Führung ihren menschenrechtlichen Kompass vollkommen verloren?! Hat sie Ethik und Moral vergessen, die Teil des menschlichen Wesens ist und bleiben muss?
Sind die Vereinten Nationen nicht auch Teil des Problems? Immerhin haben sie 1947 das, was nach diversen Teilungen übrig geblieben war von Palästina, aufgeteilt in zwei Staaten. Diese Teilung haben die Palästinenser und die arabischen Länder schon auf der Pariser Friedenskonferenz (1920) und gegenüber dem britischen Mandat abgelehnt.
Das ist eine sehr weitgehende Frage, ich möchte auf die aktuelle Situation der UNO und ihr Handeln eingehen. Generalsekretär Guterres und die Sonderorganisationen der UNO – UNICEF, das Welternährungsprogramm, die WHO und UNRWA, das Hilfswerk der UNO für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten – sie tun alles, was sie können, um humanitäre Hilfe für die Menschen in Gaza zu leisten. Sie drängen den Sicherheitsrat, Entscheidungen für Palästina zu treffen, die seinem Charta-Mandat entsprechen. Die Mitarbeiter vor Ort arbeiten Tag für Tag mit Mut und Hingabe. Sie sind Zeugen der absichtlichen Vernichtung der Bewohner Gazas durch das israelische Militär. Mehr als 200 UNOMitarbeiter haben in Gaza durch israelische Angriffe ihr Leben verloren. Guterres wurde von Israels Regierung zur unerwünschten Person erklärt, weil er am 25. Oktober 2023 im Sicherheitsrat erklärt hatte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfinden!“ Das war eine absolut korrekte und mutige Aussage des Generalsekretärs, die von vielen Regierungen unterstützt worden ist, im Sicherheitsrat aber nicht weiter diskutiert wurde. Guterres wies ja damit auf die Vorgeschichte hin – die Abriegelung des Gazastreifens seit 2007, die Besiedlung des Westjordanlandes und so vieles mehr.
Konkret gibt es – neben Sanktionen gemäß Kapitel VII der UN-Charta – auch die Forderung nach einer „Multinationalen UN-Schutztruppe“, die Gaza – gegen die Angriffe Israels – schützen und die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau absichern müsse. Das fordern Aktivisten und sie beziehen sich dabei auf die UNGA-Resolution 477 A (V) von 1956, als sich der Sicherheitsrat angesichts der Suez-Krise nicht einigen konnte. Wäre das eine reale Möglichkeit, die Palästinenser zu schützen?
Der Sicherheitsrat müßte darüber entscheiden, aber er bleibt weiterhin das Opfer der politischen Struktur der Vereinten Nationen. Die erlaubt es, durch das Veto eines ständigen Mitglieds notwendige friedensbildende Maßnahmen zu verhindern. Dies wird zum Beispiel erneut der Fall sein, wenn der gerade gemachte Vorschlag Frankreichs, Blauhelme nach Gaza zu entsenden, im Sicherheitsrat diskutiert wird. Die USA werden diesem Vorschlag nicht zustimmen. Der saudifranzösischen Initiative für eine Zwei-Staaten-Lösung wird es ähnlich ergehen. Die USA wird weiterhin, oft als einziges Land, mit ihrem Veto dem Krieg und nicht dem Frieden dienen. Sie halten so gut wie immer ihre schützende Hand über Israel.
Die UN-Vollversammlung hat mit großer Mehrheit Israels Besatzung für illegal erklärt und die israelische Regierung aufgefordert, sich aus allen besetzten Gebieten zurückzuziehen. Die Vollversammlung fordert auch einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza. Nun kann die Vollversammlung nicht entscheiden und der Sicherheitsrat ist durch das Veto blockiert. Was tun?
Der sogenannte UN Pact for the Future, der mit großer Mehrheit im September 2024 von der Generalversammlung verabschiedet worden war, soll zu einer umfassenden Reform aller UN-Abteilungen führen, mit besonderer Dringlichkeit soll der Sicherheitsrat reformiert werden. Danach soll das Veto-Recht neu ausgelegt werden und es soll eine „geographische Anpassung“ vorgenommen werden. Afrika und Lateinamerika haben gegenwärtig keinen permanenten Sitz und Asien, mit über 50 Prozent der Weltbevölkerung, ist mit nur einem Sitz (China) unterrepräsentiert. Die angestrebten Reformen sollen es in Zukunft unmöglich machen, dass ein einzelner Staat, wie im Fall Gaza die USA, zum Mittäter von Völkerrechtsbruch und Menschenrechtsverbrechen wird und obendrein unbestraft bleibt.
Darauf deutet aktuell wenig hin. Haben Sie Hoffnung, dass die UN befreit werden kann? Dass Gaza frei und von den Palästinensern selbstbestimmt wiederaufgebaut werden kann?
Tatsächlich erscheint in der gegenwärtigen geopolitischen Großwetterlage ein solcher Umbruch eher unwahrscheinlich, alles andere zu meinen, wäre naiv. Dennoch gibt es Möglichkeiten, eine friedlichere Welt zu erschaffen, denn derzeit stehen alle 193 UNO-Mitgliedstaaten vor der gleichen Gefahrenlage: Klimawandel, Nuklearbedrohung, Pandemien, Künstliche Intelligenz und immer größer werdende Migration aufgrund von Armut, Umweltzerstörung oder Verfolgung. Diese Gefahren haben das Potential, die politisch und wirtschaftlich führenden Mächte zur Zusammenarbeit geradezu zu zwingen.
Das würde auch für eine Zwei-Staaten-Lösung für Palästina und Israel gelten und zu einem Wiederaufbau Palästinas führen, der Jahrzehnte andauern würde. Es würde zu einem Ende des Krieges in der Ukraine führen, eine bessere Zukunft im Mittleren Osten und den Aufbau einer regulierten Weltwirtschaftsordnung ermöglichen. Die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele, die die UN für 2030 anstrebt, die Verpflichtung, das Internationale Recht einzuhalten und Menschlichkeit für alle. In diesem Sinne behalte ich Hoffnung in düsteren Zeiten.
Das Interview führte Karin Leukefeld. Dies ist ein Auszug aus dem Text, der am 15.08 2025 auf den NachDenkSeiten erschien: ippnw.de/bit/nds
Hans-Christof von Sponeck ist UN-Diplomat und Beigeordneter Generalsekretär a.D., Karin Leukefeld ist Journalistin und freie Korrespondentin im Mittleren Osten.